15. Jahrgang | Nummer 24 | 26. November 2012

Der Dichter Peter Will

von Tilo Köhler

Wie also war das eigentlich? Haben tatsächlich schon die frühen Texte Peter Wills so pessimistisch angemutet, dass sie keiner haben wollte? Oder wollte sie vielmehr so lange niemand drucken, bis den Dichter wirklich Schwermut folterte? Was also, lautet einmal mehr die alte Frage, war zuerst: Ei oder Henne, Trübsinn oder Ablehnung? Egal – am Ende werden beide gefressen, und der alte Küchenlateiner wusste es immer schon: Einem Wort wie „Hühnerei“ wohnt von Anbeginn diese unsterbliche Dialektik inne.
Peter Will kommt in den Bombennächten Berlins zur Welt; 1942, als der Krieg längst in die Reichshauptstadt und somit an den Ort zurückkehrt war, an dem er seinen Ausgang genommen hatte.

Im zweiundvierziger Jahr
der Himmel
Noch fast eisenfrei war

Von Kreuzberg zieht die Familie 1949, im Gründungsjahr der DDR, nach Ost‐Berlin, damals schon kein gewöhnlicher, allerdings auch noch kein außergewöhnlicher Umzug. Zweifellos aber eine erste Erfahrung für den Siebenjährigen, Bindungen zu verlieren, aus sicheren Zusammenhängen gelöst, entwurzelt zu werden. Peter Will absolviert die Schule und erlernt den Beruf eines Handelskaufmanns, damals ebenfalls kein gewöhnlicher, aber auch kein außergewöhnlicher Beruf. Allerdings ein Gewerbe, dem etwas doppelt Schwieriges anhaftet: für einen jungen Mann gilt es als ein bisschen mädchenhaft, und für einen DDR‐Bürger hieß es, sich fortan auf die klassenmäßige Brandmarkung als „kleinbürgerlich“ festlegen zu lassen. Diese soziale Einordnung wiederum gilt in der DDR als ausgesprochen karriereuntauglich, denn der Kleinbürger ist politisch schwankend, patriotisch ungefestigt, kurz: ein ewig näselnder, unsicherer Kantonist, unberechenbarer als verbohrte Pastoren, unzuverlässiger als geizige Einzelbauern, unbelehrbarer als dünkelhafte Intelligenzler.
1965 beginnt Peter Will eine Fachschulausbildung im Fernstudium, und wer eine ungefähre Vorstellung davon hat, was ein solcher zweiter Bildungsweg an Strapazen mit sich bringt, liest davon nicht ohne Respekt. Ingenieurökonomie hieß das Studium, das klingt nicht eben nach Wahlfach, und sicher war es auch keins. Aber eine Disziplin mit der Aussicht für den „Kleinbürger“, wenigstens überhaupt irgendetwas studieren zu dürfen. Nach dem erfolgreichen Abschluss durfte sich der Absolvent in einem volkseigenen Betrieb täglich attestieren lassen, dass er weder Ingenieur noch Ökonom, nicht Fisch noch Fleisch und also – überflüssig sei.
Auf Rosen gebettet sieht anders aus, und das bislang Erfahrene führt so zurück zur Eingangsfrage: Was war zuerst?
Peter Will ist Mitte Zwanzig; er schreibt und malt sich durch die 60er Jahre, er sucht Verbündete und Freunde, Orte, wo sich Gleichgesinnte treffen und im eingemauerten Berlin freigeistige, kunstfreundliche Cliquen bilden Seit Jahren ist er da schon Mitglied eines Mal‐ und Zeichenzirkels, dem er zwei Jahrzehnte lang die Treue halten wird, und 1966 steigt er in den Lyrik‐Club Pankow ein, dem er beinahe dreißig Jahre angehören wird.
Mancher mag das aus heutiger Sicht putzig finden oder gar mit einem mokanten Grienen abtun; wer indes nicht völlig ahnungslos ist oder doch wenigstens ein bisschen neugierig geblieben ist, staunt noch immer, mit welcher Energie, mit wie viel schöpferischem Ungestüm sich seinerzeit solche Zirkel fanden und mit welcher Veränderungswucht sie wirklich antraten. Allein ein Blick auf das damalige Personal im Lyrik‐Zirkel Pankow oder in dessen Umfeld – von Bettina Wegner bis zu Thomas Brasch – macht klar, dass im Lyrik‐Club nicht irgendwelche verseschmiedenden Neurotiker ihre Zurücksetzungen sublimieren wollten. Vielmehr saß hier der literarische und politische Aufmupf zusammen, der bald durch weitaus mehr von sich reden machen würde als durch die Erweiterung von Versmaßen.

Warnung vor den Heuchlern (1966)

So ausgerüstet, mit
Einem Parteibuch im Herzen
Schwören sie jeden Meineid
Und stopfen Kaviar in sich hinein

In diesem Land
Aufgewachsen, aus
Anfänglicher Blindheit
Sehender geworden.

Zugegeben, in diesem Alter hält sich mancher für einen Sehenden und den Rest der Welt für blind, Dichter zumal. Andere wiederum tun sich eher schwer mit so viel Sehkraft, sei es nun ästhetisch oder – wie im Fall von Peter Will – politisch.

Gefahr

Noch deine Augen
In den meinen
Sehe ich tote Lippen
Im Draht zerfetzt

1969 wird Peter Will verhaftet; seiner Festsetzung war nicht nur der sowjetische Einmarsch in Prag 1968 voraus gegangen, sondern vor allem der private und halböffentliche Vortrag von Gedichten, die der Autor gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings verfasst hatte.

Für B. (1968)

Sie, die Nelke
Aufrecht und klar
Ihr Gesicht
Nahm den Kampf auf
Mit den Disteln

Das ist nicht mehr Kästners „kleines Blümchen am Bahndamm“, das es wagt, sich „donnernden Zügen entgegen zu stellen“, vielmehr beschreibt Will ein Foto, das 1968 um die Welt ging: Eine junge Frau steckt einem russischen Panzerfahrer eine Blume in den Gewehrlauf.
Siebzehn ähnliche Gedichte werden schließlich zum juristischen Untersuchungsgegenstand für die ermittelnden Organe und führen zur Verurteilung zu drei Jahren Gefängnis – wegen „staatsfeindlicher Hetze. 17 Gedichte, verteilt auf etwa 300 Verse, tragen ihrem Verfasser fast 1000 Tage Haft ein, gut drei Tage pro Vers – der Autor als Ingenieurökonom hat es nachgerechnet.
Es ist hier nicht der Ort, darüber zu psychologisieren oder zu spekulieren, wie unmittelbar sich die Haftjahre und die damit verbundene grundsätzliche Erschütterung auf Peter Wills Schreiben in der Zeit danach ausgewirkt haben. Dass er sich anfänglich äußerst vorsichtig, tastend, konfliktmeidend durch die wieder erlangte Freiheit bewegt haben dürfte, liegt auf der Hand, und immerhin gelang es ihm sogar, sich fünf Jahre nach Verbüßung seiner Haft als Student am Literaturinstitut Johannes R. Becher einzuschreiben. Von 1978 bis 1981 studierte Will an der Dichterschule, die Hochschulstatus besaß und die man ernsthaft mit einem „Schriftsteller‐Diplom“ abschloss.
Was Peter Will indes auch mit den am Literatur‐Institut entstandenen Kontakten nicht gelang, war die Veröffentlichung von Büchern oder auch nur eine breitere Wahrnehmung seiner Gedichte. In der DDR hat Will de facto nichts veröffentlichen können, mit Ausnahme vielleicht der Aufnahme in die legendäre Anthologie „Vogelbühne“, die Dorothea von Törne 1983 herausgegeben hatte. Und auf einmal fand sich der Autor, der seit den 60er Jahren seinen Pankower Zirkel sprichwörtlich nie überschritten hatte, inmitten der Dichter vom Prenzlauer Berg wie Bert Papenfuß, Sascha Andersen und Stefan Döring wieder.
Hoffnungen lassen sich auf solche gnädigen Brosamen, wie sie das offizielle Verlagswesen gelegentlich verstreut, nicht wirklich gründen; resigniert heißt es 1984, also schon ein Jahr nach dem „Höhenflug“ auf die „Vogelbühne“, in einem Gedicht des Autors:

„Der Satz der alles heilt / Wird gesprochen /…/ Es war ein Irrtum“

Stattdessen schreibt Peter Will Rezensionen für das Blockparteienblatt „Der Morgen“, von 1982 bis weit über das Ende der DDR hinaus bespricht er hier die neuen Veröffentlichungen seiner Kollegen, mithin solche, die er selbst gern gehabt hätte. Will schreibt sie in einer letzten Aussicht, doch noch so vielleicht zu einem eigenen „Abdruck“ zu kommen – klar, dass die Besprechungen selten souverän sind, die Sache geht ganz und gar nicht gut und fügt dem „Kritiker umständehalber“ eher Schaden zu als dass sie ihm nützt.
Peter Will hat kein Glück, auch nicht das des Tüchtigen. Immerhin hat er nach eigenem Bekunden mehr als eintausend Gedichte zu Papier gebracht. Er liest die bekannten Generationskollegen wie Volker Braun, Sarah Kirsch und Karl Mickel. Bisweilen schreibt er in ihrer Diktion, aber irgendwie gelingt ihm nicht der Anschluss an sie. Ebenso wenig wie der an die Nomenklatur‐Kinder aus seinem Lyrik‐Club, die sich mittlerweile von der „reinen Lyrik“ oder längst schon aus dem Land entfernt haben.
Am Format liegt es gewiss nicht, eher vielleicht doch am Gemüt oder Temperament, das leider viel zu selten mit ihm durchgeht. Dabei konnte er schon in den sechzigern parodistisch zetern und „sangbar“ schreiben wie Wolf Biermann und Hartmut König.

Lied vom blauweißroten Haus

Bin ich wieder einmal matt
Von den vielen grauen Nebeln
Hab sie endlich einmal satt
Die Genossen an den Hebeln

Es bleibt unwägbar, was alles Peter Will unter ihm günstigeren Umständen hätte vorlegen können; eine Ahnung aber bekommt man, wenn man seinen – erst 2002 erschienenen – Band „Skalitzer Eisenbahn Admiral“ liest. 1989 wird Peter Will doch noch Kandidat des Schriftstellerverbandes und darf einen Ausflug nach Westberlin unternehmen. Und der führt ihn – natürlich – in den Kiez seiner frühen Kindheit: Kreuzberg.
Über den ist wahrlich viel geschrieben und gesungen worden: Politisches, Revolutionäres, Avantgardistisches, Folkloristisches, Karnevalistisches Trunkenes, Nüchternes, Schönes.
Aber wenig so schöne Gedichte wie sie Will seiner Kreuzberger Kinderstube gewidmet hat.
Als der Osten Westen wird, geht Peter Will auf die fünfzig zu. Er ist ein Dichter ohne Werk, er hat die „Ankunft im Alltag“ in den sechziger Jahren in der DDR nicht erfahren, und er wird absehbar auch nicht im Westen ankommen. Er ist ein Kind seiner Zeit, und er bleibt es – erst recht im Manne. In den Neunzigern gelingt ihm eine Handvoll kleiner, feiner Veröffentlichungen bei der Friedrichshagener „Corvinus Presse“, an einem Ort wiederum, in dem schon Peter Hille und Johannes Bobrowski ihre „Kreise“ zogen. Die Bände heißen „Verhangene Horizonte“, „Herzstein‐Berlin“ oder „Stein und Olivenzweig“ – Befreiung atmet keiner all dieser Texte, und wenn sie überhaupt etwas verheißen, dann auch jetzt nichts Gutes.
In den zweitausender Jahren erscheint von Peter Will, der vor längerem schon Auskunft gab, zwischenzeitlich an einem Roman zu arbeiten, auch Prosa, 2005 „Herr Gott lässt es regnen in Yerushalayim“, eine phantastische Geschichte im zweifachen Wortsinn. Aber auch der Wechsel zur anderen Form, in die größere Gattung führt abermals zu „wolkenverhangener Aktualität“, es „celant“ und „todesfugt“,und „die vielen aschenen Träume“ von all „Denen, die in den Lüften wohnen“, sitzen dem nun in seinem Tun so ungleich freieren Autor fortgesetzt im Nacken. Das ist oft nur schwer auszuhalten und fordert sicher nicht bloß den unnachgiebig erinnernden Autor, sondern eben auch immer den dazu bereiten Leser – zuletzt in der 2009 erschienenen Erzählung „Die Lagerstraße“, einer Gefängnisgeschichte. Es ist eine wirkliche DDR‐Geschichte, weniger durch das, was sie erzählt, vielmehr dadurch, wie sie erzählt: Der Autor „borchert“ sich durch das Lager, „hermlint die „Kommandeuse“ vor die Gefangenen, zitiert die „Rote Hilde“, die blutrichterlich das Schicksal derer verfügt hat, die sich nun „durch das große Tor, über die Lagerstraße“ schleppen Die Knastlektüre in der mutmaßlich knappen Freizeit besteht aus Simone de Beauvoir und Thomas Wolfe, und an den wenigen Kinoabenden gibt es Andrzej Wajda oder einen Film nach Aitmatow Dieser Ort des Ungeists versammelt paradoxerweise fast alle Versatzstücke, aus denen sich der kritisch Denkende oder auch nur Wähnende in der DDR eine geistige Gegenwelt zu phantasieren suchte.
Man versteht diesen Text – wie viele andere Peter Wills – allein aus dem Leben in der DDR heraus. Wie man auch das Kreuz nur so ermisst, das sein Autor allzeit gezeigt hat und an dem er zeitlebens tragen wird. Und damit noch einmal zurück zur Eingangsfrage, die ja auch so heißen könnte: Hat er nun zuerst an diesem Kreuz getragen und es dann gezeigt? Oder war es doch andersrum? Was also war zuerst? Egal – Peter Will wird immer einer bleiben, der nicht einfach nur Gedichte schreibt, sondern einer, der das Leben wirklich auf dem Zettel hat. Einer, der noch immer, im Leben wie im Buch, alles WILL – Nomen est Omen, recht so.

Einmal blühte
Wirklich
Rot der Mohn
Drei Tage lang
Und verzieh
Den Vasen nie
Darin er welkte

Diese Rede wurde anlässlich der Vernissage der Ausstellung „Peter Will zum 70.Geburtstag – Malerei 1975-2012“ gehalten. Die Ausstellung ist bis zum 15.12.2012 im Kinder- und Jugendklub Maxim, Charlottenburger Straße 117, 13086 Berlin, zu sehen. Öffnungszeiten Montag bis Donnerstag 13 Uhr bis 22 Uhr.