15. Jahrgang | Nummer 21 | 15. Oktober 2012

Bemerkungen

Neues aus dem Heuchelstadel

Zunächst einmal: Für Peer Steinbrück politische Sympathien zu empfinden, fällt schwer, wenn man um seine Mitverantwortung für die Agenda 2010 weiß; ein Reformwerk, das sich seinerzeit so nicht mal die Konservativen getraut hätten. Dies ist nun das eine, ein anderes ist, mit welche heuchlerischer Primitivität nun Schwarz-Gelb über ihn herfällt, seit Steinbrück als Kanzlerkandidat etabliert ist. Da werden ihm nun, und zwar mit dem Pathos hochmoralischer Entrüstung, Vorwürfe über seine – offenbar korrekten – Angaben gegenüber dem Bundestag über seine Vortragstätigkeit und die damit verbundenen Einkünfte gemacht.
Sehen wir davon ab, dass die politische Elite erst 2007 dazu gedrängt werden konnte, eine solche Offenlegung überhaupt vorzunehmen und sich dabei (wie alle außer der Linkspartei allerdings auch) mit vagen Staffelangaben zufrieden gab: Verlogener geht ein solcher Angriff einfach nicht. Und zwar auch dann nicht, wenn in jedem – in j e d e m! – Einzelfall zu fragen ist, woher Abgeordnete, die in allererster Linie ihren Wählern, ganz besonders denen im eigenen Wahlkreis, verpflichtet sind und sich ansonsten Tag für Tag mit den allesamt schwierigen Materien diverser Gesetze und anderer Entscheidungslagen herumzuschlagen haben, die Zeit nehmen, regelrechte Vortragstourneen zu bestreiten und/oder in diversen Aufsichtsräten „Aufsicht“ über Unternehmen zu üben, von denen sie schon aus den genannten Zeitgründen nur sehr bedingt jene tiefe Ahnung haben können, die für eine kompetente Kontrolle eigentlich unerlässlich ist. Das eine wie das andere bringt Geld, ohne dass unsere Volksvertreter offenbar nicht auskommen können, obwohl ihre Diäten nicht eben knapp bemessen sind.
Deutschland ist ja in seinem Selbstverständnis „die beste aller Welten“. Schaut man aber mal auf andere Welten – dito marktwirtschaftlich organisiert – so zeigt sich, dass es auch anders geht. In Schweden zum Beispiel sind sämtliche Staatsbürger, also auch die Politiker aller Couleur, dazu verpflichtet, ihre Steuererklärungen offenzulegen. Im Internet ist dies für jeden zu begut- oder zu beschlechtachten. Warum nicht in der demokratischsten aller Demokratien, also in unserem heimeligen Gemeinwesen?
Der Kabarettist Georg Schramm hat mal den Vorschlag gemacht, ein jeder gewählte Abgeordnete, der an das Rednerpult eines Bundes- oder Landesparlaments tritt, müsse seine Rede mit der Aufzählung seiner Nebentätigkeiten beginnen. Und Schramm hat angefügt, dass dann allerdings manch Parlamentarier möglicherweise nicht mehr zum eigentlichen, weil zeitbefristeten, Redebeitrag käme. Und für diese Folgerung war nicht einmal Ironie vonnöten.

P.S. „Dass jeder Steuerzahler seinen Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten muss, wird in Schweden eher akzeptiert als in Deutschland. Ein Grund dafür ist Transparenz: Für jedermann ist sichtbar, wer tatsächlich wie viel zahlt. In Schweden gibt es nämlich kein Steuergeheimnis. Jährlich erscheint der Taxeringskalender, sortiert nach Postleitzahlen, wo jeder Bürger nachschlagen kann, welches Einkommen und Vermögen sein Nachbar oder Chef, ein prominenter Politiker oder Manager tatsächlich versteuert.“
(Aus Die Zeit 4/2006)

Helge Jürgs

Blätter aktuell

Nun tritt der Euro-Hilfsfonds ESM in Kraft – und der Schaden für die Demokratie ist endgültig unabsehbar: Denn dass die Mehrheit der Volksvertreter im Parlament eine andere Meinung als das Volk vertreten kann, gehört bekanntlich zu den Begleiterscheinungen der repräsentativen Demokratie. Dass diese Mehrheit unisono eine vermeintlich alternativlose Politik propagiert, gefährdet die Demokratie jedoch massiv, meint Autor Thilo Bode („Eurorettung: Die Entmachtung des Souveräns“) in der jüngsten Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik.
Hellas ist längst nicht nur ein ökonomischer Brandherd: Die von Premierminister Antonis Samaras gezogene Parallele mit der Endphase der Weimarer Republik ist keineswegs aus der Luft gegriffen. Die immer aussichtslosere ökonomische Lage leistet extremistischen Strömungen Vorschub, insbesondere einer radikalen Rechten. Diesem Phänomen geht Michael Oswald nach („Rechtsruck in Hellas“).
Der Präsidentschaftswahlkampf in den Vereinigten Staaten ist in die heiße Phase eingetreten. Beide Seiten trommeln für die Wahl, als ginge es um das letzte Gefecht. Und in der Tat: Auch wenn die realen Unterschiede in der Politik von Demokraten und Republikanern keineswegs so groß sind, handelt es sich dieses Mal doch um eine innenpolitische Richtungsentscheidung über den Kurs des Landes, der Albert Scharenberg („Obama vs. Romney: Die USA vor der Wahl“) auf den Grund geht.
Daneben unter anderem Beiträge über „immergrünen Antisemitismus“, über Wachtstumsfetischismus, die Entwicklung in Rumänien, „Chavez’ letzte Schlacht“ sowie Ursula von der Leyens „Wiederentdeckung der Altersarmut“.

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Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Oktober 2012, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet: www.blaetter.de

Kurze Notiz zu Eisleben

Die Stadt ist obenrum ein Soldatenfriedhof, die sowjetischen Sterne blinken rot auf jedem Grab, und untenrum ganz Lutherstadt. Und das mit Recht, mehr als die übrigen 15 Lutherstädte. Denn nur in Eisleben steht des Reformators Geburtshaus, Taufkirche und Sterbehaus. Er selbst, in Bronze gegossen und Kutte gehüllt, residiert auf dem Marktplatz, schaut von hohem Sockel auf die Stadt herab, neben ihm das Kleiderparadies Luther-Stübchen, in dem übrigens auch Frauenmode angeboten wird.
Also alles Martin und Katharina? Nicht ganz, denn Eisleben hat noch mehr zu bieten, so etwa seine vorreformatorischen, feudalen Reste. Nicht nur das Hotel der Grafen zu Mansfeld verweist auf einstige Besitzverhältnisse, auch Wappen und Landkreis unterordnen die Stadt an der Bösen Sieben der alten Grafenresidenz, so dass Eisleben wohl völlig unbekannt wäre, wenn nicht Luther … ja, und die Eislebener Wiesen natürlich! Eine Art mitteldeutsches Oktoberfest.
Der schönste Ort in der Stadt: die obere Sangerhäuser Straße, weit hinter dem Markt, fernab von Luther und Tourismus. Da stehen ein paar ehrliche Kneipen und gut erhaltenes Bauwerk, Ruhe garantiert. Der bizarrste Ort: auf der anderen Seite vom Markt, wo eine gewisse Lyly (wahrscheinlich denglisch für Lili) ihr Geschäft hat und die Stadt anfängt, unsaniert und arbeiterviertlich zu werden. Demgegenüber der neuste Ort: das im Zuge der Reformation aufgelöste Kloster Helfta mit seiner Handvoll Zisterzienserinnen, die dort seit der Wende wieder ihr katholisches Unwesen treiben. Alles Übrige: vergessenswürdig.

Kurze Notiz zu Wörlitz

Wörlitz ist ein unbedeutender Fleck im Herzen Anhalts. Als Opfer der jüngsten Gemeindegebietsreform ist es Teil von Oranienbaum-Wörlitz, knapp 15 Kilometer von Dessau-Roßlau (noch so eine sprachliche Sünde) entfernt, am Ufer der Elbe gelegen, direkt gegenüber von Coswig.
Aber was ist Wörlitz? Ein Park, sonst nichts als anhaltinische Gemächlichkeit. Den Park hat Vater Franz einst herrichten lassen und noch heute ist die Grünanlage ein Publikumsmagnet in Sachsen-Anhalt und darüber hinaus. Aber kaum wegen der Pflanzen. Das weiß auch das Parkpersonal.
„Wie lange blühen denn die Seerosen hier?“, fragt ein Besucher. „Wees nich“, lautet die maulige Antwort. „Da blüht doch immer örchntwas.“
Wer auf Gondeln über eine künstliche Seenplatte gleiten will, ist hier richtig. Wer den sterbenden Gallier in Stein und Kopie betrachten will, kommt hier auf seine Kosten. Alles, was dem Reisefürsten Franz in Italien und Frankreich gefallen hat, wurde hier en miniature nachgestaltet. Ein frühneuzeitliches Disneyland. Sogar der Vesuv ragt im Osten über den See, nur dass aus ihm heute kein Feuerwerk mehr schießt. Nicht, dass das Weltkulturerbe noch Schaden nähme.
Und so reiht sich Schloss an Schlösschen, Labyrinth an Rousseau-Insel, Venusgrotte an Bauernhaus. Alles voller Idylle und mit Brücken verbunden. So schön kann die Natur sein, wenn man den Menschen nur lässt. Dass der Eintritt zu dieser plüschigen Landschaft übrigens frei sein soll, erweist sich als Legende. Allerdings erst im Park: Zu den Gebühren für die nötigen Fährmänner kommen Aufschläge für jeden zweiten Prachtbau. Wer also auf den Vulkan steigen oder das Gotische Haus von innen bewundern will – der zahlt. Disneyland dankt’s.

Thomas Zimmermann

Aphoristische Lichtenberge

So sagt man, jemand bekleide ein Amt, wenn er von dem Amt bekleidet wird.

Vom Wahrsagen läßt sich’s wohl leben in der Welt, aber nicht vom Wahrheitsagen.

Das heißt, man soll mit dem Licht der Wahrheit leuchten, ohne einem den Bart zu sengen.

Der Mann hatte so viel Verstand, daß er fast zu nichts mehr in der Welt zu gebrauchen war.

„Wie geht’s?“ sagte ein Blinder zu einem Lahmen. „Wie Sie sehen“, antwortete der Lahme.

Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799)

Preisausschreiben

Des Blättchens erstes Preisausschreiben:
Zum Schutz welchen Ereignisses in Berlin waren jüngst  500 hauptstädtische sowie 300 Bundespolizisten, darunter eine Reiterstaffel, vonnöten?

•  Al-Quaida-Terrorismus-Börse ?

•  Papst-Besuch?

•  Freundschaftstreffen von Bandidos und Hells Angels?

•  Fussball s p i e l  zwischen Hertha BSC und Dynamo Dresden?

Wer diese verzwickte  Frage zu beantworten vermag, gewinnt auch keine Eintrittskarte ins Olympiastadion.

HWK

Magische Miniaturstücke und ein Stromausfall

Mit „en ny dag“ (ein neuer Tag) ist dem in Südschweden und Norddeutschland lebenden Jazzpianisten Martin Tingvall, Jahrgang 1974, eine zauberhafte Melange aus Dur- und Molltönen gelungen.
Wie magisch wird man in den Sog dieser vierzehn Miniaturstücke gezogen. Gleich ob heitere oder melancholische Stimmungsmomente musikalisch wiedergegeben werden: Die Melodien setzen sich bereits beim ersten Hören nachhaltig im Kopf fest.
Martin Tingvall beweist ein erstaunliches kompositorisches Geschick, Momente der Freude und der Trauer mit dem Klavier zum Ausdruck und in bleibende Erinnerung zu bringen. So wird etwa ein Stromausfall bei einem Konzert in Harare (Zimbabwe) dem Strudel der Vergessenheit entrissen.
Impulsgeber für seine gefühlvollen Stücke sind jedoch auch Beobachtungen in der Natur oder in seinem direkten Umfeld, beispielsweise beim Betrachten von schlafenden Kindern.
Umrahmt werden die Stücke auf „en ny dag“ von zwei kurzen nächtlichen Reminiszenzen – zum Einstieg ein sinkender Stern und zum Abschluss das Sternbild des Großen Wagens.
Wer sich dieses Soloprojekt von Martin Tingvall live zu Gemüte führen will, hat in den kommenden Wochen mehrfach Gelegenheit: am 17.10. in Hamburg, am 9.12. in Berlin, am 10.12.2012 in Frankfurt/Main und am 22.1.2013 in München. Ob wohl dann auch in deutschen Landen ein Stromausfall bei einem Konzert zu befürchten ist…?

Martin Tingvall: en ny dag, Skip Records 2012

Thomas Rüger

Medien-Mosaik (Oktober I)

Neben der charakteristischen Zeichnung der Landschaften und spezifischen Ausleuchtung der Handlungsräume, trage besonders der lakonische, kühle Tonfall Sanders zur atmosphärischen Dichte und zum Eindruck der Geschlossenheit bei, den die Erzählungen als Ganzes vermittelten, heißt es in der Begründung für den Preis der LiteraTour Nord 2012, der Gregor Sander für seinen im vergangenen Jahr erschienenen Erzählungsband „Winterfisch“ verliehen wurde. Der Schweriner vom Jahrgang 1968 beruft sich auf Uwe Johnson, und tatsächlich ist Sanders Ton, sind Sanders Motive mit denen Johnsons verwandt. Lakonie, Genauigkeit der Beobachtung, Liebe zum Meer und Skeptizismus gegenüber der DDR finden sich bei beiden. Die Sehnsucht ist eines der Motive, Sehnsucht nach der Ferne wohl auch das des Zwillingsbruders, der auf der Flucht aus der DDR erschossen wurde. Sander ist zornig und verständnisvoll zugleich. Diese Ambivalenz durchzieht die Erzählungen dieses Bandes und macht sie spannend. Erfreulich ist das großzügige Layout des Bandes.
(Gregor Sander: Winterfisch, Wallstein-Verlag, Göttingen 2011, 190 Seiten, 18 Euro)

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In der Reihe „Kino der Wünsche“ hat Dieter Wolf, der ehemalige Hauptdramaturg der DEFA-Gruppe „Babelsberg“, seit 2005 in der Rosa-Luxemburg-Stiftung Spielfilme der DEFA (mit ganz wenigen Ausnahmen) vorgestellt. Gemeinsam mit Klaus-Detlef Haas hat er seine informativen Filmeinführungen zu einem Band zusammengestellt, der mit der Besprechung von Filmen der vierziger bis achtziger Jahre eine kleine, wenn auch nicht chronologische Filmgeschichte der DDR darstellt. Wolf kann mit Insider-Informationen aufwarten, und er geht durchaus kritisch mit der Frage um Eingriffe „von oben“ bei bestimmten Filmstoffen um. Dazu kommen Wortmeldungen anderer Autoren. So schreibt Günter Reisch über seinen Kollegen Konrad Wolf, und Oskar Lafontaine würdigt den Saarländer Wolfgang Staudte. Filmografien sowie Stab- und Besetzungslisten vervollständigen den informativen Band.
(Klaus Detlef Haas, Dieter Wolf (Hg.): Sozialistische Filmkunst – Eine Dokumentation, Karl Dietz Verlag, Berlin 2011, 320 Seiten, 9,90 Euro, oder als pdf unter www.rosalux.de)

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Einen guten Dramaturgen hätte die neue Filmkomödie „Sushi in Suhl“ durchaus gebrauchen können. Autor Jens F. Otto und Regisseur Carsten Fiebeler haben eine eigentlich verrückte Geschichte aus der DDR nur liebenswürdig und sehr bruchstückhaft erzählt. Alles, was spannend oder gar problematisch hätte sein können, wurde ausgeblendet – in dieser Hinsicht ein typischer DEFA-Film: so tun, als ob! Die wahre Geschichte von Rolf Anschütz, einem Japan-Fan aus Suhl, der ein Restaurant mit japanischer Küche im Thüringer Wald aufzog und internationales Format erreichte, ist von und mit vielen ehemaligen DDR-Bürgern unterhaltsam auf die Leinwand gebracht worden. Publikumsliebling Uwe Steimle trägt in der Hauptrolle den Hauptanteil daran, dass der Kinobesuch nicht vergebens ist (wenngleich er sich keine Mühe gibt, die Thüringer Sprachfärbung anzudeuten). Die wirkliche Geschichte des Kochs Rolf Anschütz liest sich allerdings aufregender, als der Film geworden ist.
(Sushi in Suhl, ab 18.10. in zahlreichen Kinos)

bebe