15. Jahrgang | Nummer 20 | 1. Oktober 2012

Betriebsunfall? Oder doch mehr Regel im System?

von Literat

Dass der Christian irgendwie das Format zum ersten Manne im Staate nicht hatte, mussten wir angesichts gehäufter Peinlichkeiten aus dem Wulffschen Privatleben ja praktisch direkt seit seinem Amtsantritt zur Kenntnis nehmen. Dass er aber nicht nur der falsche Präsident war, sondern zum Amt auch noch die falsche Frau hatte, wie der Spiegel dieser Tage nicht ohne Süffisanz kund tat, das müssen wir nun auch noch verdauen, seit uns Bettina Wulff mit Memoiren („Jenseits des Protokolls“) und ihrem Konterfei auf Titelblättern (unter anderem von Stern und Super-Ilu) belästigt, indem sie sich bei all dem als öffentlich misshandelt darstellt und sonst nichts. Natürlich ist es nicht amüsant, von den Medien und von Google mit dem Rotlichtmilieu verbandelt zu werden. Sich dagegen zu wehren, ist das gute Recht einer (und eines) jeden. Aber in Buchform – also bei einer umfassenderen Sicht auf die Zeit im Amt sowie die davor und danach – quasi unter den Tisch fallen zu lassen, dass Bettina Wulff die kleinkarierte Selbstbedienungsmentalität ihres Christian bei kostenlosen oder stark unterpreisigen Urlaubsreisen zumindest geteilt und selbst durchaus auch Vergünstigungen – eines namhaften Autoherstellers und anderer Anbieter – abgegriffen hat, das ist mit dem Begriff Chuzpe sicher korrekt beschrieben. Und die ist zu allem Überfluss auch noch gepaart mit einer Abgeschmackheit, die selbst Damen aus dem Milieu, die auf sich halten, in der Regel nicht unterläuft. So passt eine Passage des Buches, in der Bettina Wulff praktisch mitteilt, wie sie den Christian auf der Dienstreise im Hotelbett offenbar nicht ran lassen wollte, weil die Liebesgeräusche womöglich von den Personenschützern nebenan mitgehört würden – das ausführliche wörtliche Zitat ist auch im Spiegel nachzulesen –, zwar vom Niveau her zu einem ihrer Bekenntnisse an anderer Stelle: „Ich habe bei Männern kein festes Beuteschema.“ – aber Niveau hat das nicht. Nun ist allerdings auch eine kleinbürgerliche Klitsche in Großburgwedel nicht der Élysée-Palast, weshalb, was dort mit Esprit daherkommt, hier wohl fast zwangsläufig den Muff von Blümchensex verströmt. Apropos Esprit: „Ich bin von Zeit zu Zeit monogam, aber ich ziehe die Polygamie vor. Die Liebe dauert lange, aber die brennende Lust nur zwei bis drei Wochen.“ So klingt es, wenn eine französische First Lady (Carla Bruni) der Welt ein Bekenntnis macht!
Spitzfindige Interpreten der Schrift von Bettina Wulff wollen ja aus deren Erzählungen über ihre infolge von Christians Amtsstress und seines, also Christians, freien Fall angespannten Ehe herauslesen können, dass der Angetraute vielleicht in Bälde die gemeinsame Heimstatt in Großburgwedel wird räumen müssen, um einer dann besser gestellten Beute Platz zu machen. Da fragt sich Literat, ob es nicht vielleicht ein Akt christlicher Nächstenliebe wäre, ihm das nachgerade zu wünschen.
Der Volksmund spricht im Übrigen: „Wer den Schaden hat, der spottet jeder Beschreibung.“ Und gemeint sind damit dann so Sachen, wie sie das brillante Schandmaul Jochen-Martin Gutsch in der Berliner Zeitung zum Besten gab: „Aufregend und wegweisend wäre jetzt ein langes, total offenes Interview in der ‚Emma’. Das würde ich lesen! Ein Gespräch über modernen Feminismus. Bettina Wulff könnte sagen: ‚Der Christian hat mich nie groß interessiert. Hallo?! Ich mochte ja nicht mal die CDU! Ich habe immer heimlich Die Linke gewählt. Aber Christian war ganz oben. Das fand ich sexy. Ich war ja nur Pres­setante bei Continental, einem Reifenher­steller. First Lady war dann natürlich super­geil, aber am Ende doch zu stressig. First-Lady-Smalltalk ist auch meist öde und viele der Ladys sind alt, haben Falten und spre­chen ausländische Sprachen. Das mochte ich nie. Naja. Der Christian geht jetzt natür­lich gar nicht mehr! Er ist nett, er kümmert sich um die Kinder. Er ist ein guter Vater. Aber nur weil er jetzt ganz unten ist, muss er mir ja nicht das Leben versauen.’“
Angesichts von – im weitesten Sinne – gesellschaftlichem Leben, das solche köstlichen Sottisen zur Folge hat, möchte man dann doch wieder mit Ulrich von Hutten ausrufen: „Oh Jahrhundert! Oh Wissenschaften! Es ist eine Lust zu leben.“

P.S.: Wer diesen Beitrag als Satire auf einen politischen und gesellschaftlichen Betriebsunfall – die Lancierung der Familie Wulff ins Schloss Bellevue, weil es Kanzlerin Angela Merkel sehr als ein Fall von günstig erschien, den letzten noch verbliebenen CDU-Granden nach Kohl, Schäuble, Merz, Koch und wer weiß wem noch in Bereiche außerhalb der Konkurrenz zu entsorgen, – gelesen hat, hat’s erfasst und ist hoffentlich auf seine Kosten gekommen. Das wird vielleicht insbesondere bei jüngeren Lesern der Fall sein, denen aus der Geschichte der Bundesrepublik manches nicht präsent ist. Weil im vorliegenden Fall Satire allerdings höchstens die halbe Wahrheit ist, wird Veranlassung für eine Nachbemerkung gesehen, die inhaltlich durchaus als Teil der Botschaft verstanden werden kann.
Dergleichen Betriebsunfälle gehören nach Auffassung auch des Autors zu den konstitutiven Elementen eines Systems, in dem von Demokratie immer gesprochen wird und in dem Personalentscheidungen regelmäßig von Parteispitzen ausgekungelt werden. Die „Betriebsunfälle“ der Vergangenheit waren dabei wesentlich unappetitlicher: Heinrich Lübke – ein altersseniler („Meine Damen und Herren, liebe Neger“) Bundespräsident mit NS-Vergangenheit; Kurt Georg Kiesinger – ein wegen seiner Schreibtischtäterschaft zur Nazi-Zeit öffentlich geohrfeigter Bundeskanzler; Karl Carstens – vom NSDAP-Mitglied zum Bundespräsidenten; Hans Filbinger – vom NS-Marine- und -Todes-Richter zum baden-württembergischen Ministerpräsidenten. Was später kam, erreichte politisch dieses Niveau nicht mehr, übertraf es volks- und privatwirtschaftlich aber zum Teil bei weitem – (pars pro toto) in Gestalt eines NRW-Minister- und nachmaligen Bundespräsidenten „Bruder“ Johannes Rau, unter dessen Düsseldorfer Kungelherrschaft die Basis für den desaströsen Niedergang der West-LB, der einst größten Landesbank, gelegt wurde, und mit einem dem Prekariat entstammenden Bundeskanzler Gerhard Schröder, der erst Millionen seiner Landsleute verharzte und dann sein Schäfchen – als „Genosse der Bosse“ – ins Trockene brachte, indem er auf die Payroll von Nord Stream (Erdgas aus Russland nach Mitteleuropa) wechselte.
Im Vergleich dazu sind die Wulffs – Kinkerlitzchenen. Allerdings – ist der Niveauverlust im Systemversagen wirklich trostreich?