15. Jahrgang | Nummer 18 | 3. September 2012

Erntekomplex – Teil 1

von Thomas Behlert

Wer jetzt als „Städter“ seinen Urlaub in ländlichen Gegenden verbringt, der wird sich über brummende Geräusche wundern. Ob nun im Häuschen an der Ostsee oder im Zelt am Rande des Thüringer Waldes: Überall brummt es gar herrlich und staubt es ganz hervorragend. Wieder sind die Bauern unterwegs, um die Ernte einzufahren. Da werden gleich, nachdem die letzten Tautropfen verdampft sind, die Traktoren und Mähdrescher auf die Felder gejagt, um all die wertvollen Früchte in die heimische Scheune zu holen. Ob nun Wintergerste, Weizen, Roggen oder Hafer, alles kommt für Brot, Schnaps, Bier und Futtermittel zum Einsatz. Nicht vor 22 Uhr ist Schluss.
Als wieder die Sonne brannte und das eigentümliche, fast schon erotische Brumm- und Dröhngeräusch zu hören war, sattelte ich mein Fahrrad und fuhr dem Ernteteam entgegen. Am Feldrain angekommen, machte ich es mir gemütlich, sah den fleißigen Männern (Wo sind die Frauen, verdammt?) zu und begann zu träumen. Auch ich war ein Erntekapitän. Wer Landwirtschaft studierte, der musste sich den Sommer frei halten, denn da ging es erst in die Bäume zum Kirschen pflücken, dann in die Mosterei zur „Bretterknaller“- (Fruchtwein-) Herstellung und dann auf die großen Erntemaschinen. Endlich war man wer, der Herrscher über Felder und Straßen, dessen Weg bis zu den Getreidesilos durch wunderbare Verkehrsschilder geschützt wurde: Erntefahrzeuge haben Vorfahrt.
Doch so ein Feld füllt sich im Vorfeld (welch Wort!) nicht von alleine, es gehört jede Menge Pflanzenschutz dazu. Der Sozialismus auf dem Lande wurde mit Herbiziden geschützt. Wo sich der Feind, das elende Unkraut, zeigte, kam es zum Einsatz von Total- und Kontaktherbiziden aus dem VEB Chemiekombinat Bitterfeld und dem VEB Fettchemie Karl Marx Stadt. Jeder wußte, was er hat: Trizilin, Simazin, Plantulin und natürlich Trazalex. Und wenn Mäuse unterwegs waren, um die Ernte zu schmälern, legten wir eben Giftweizen aus. Die Wirkungsweise behalte ich lieber für mich, nur so viel: Ich lebe immer noch und fühle mich zwischen meinen Anfällen und Blutungen wohl.
Jetzt müssen sich die Landwirte mit dem Bundesministerium für Verbraucherschutz, mit Lebensmittelschützern, Öko-Bräuten und den Grünen rumärgern, wenn diese fiesen Nager die Ernte bedrohen. Ja, Leute, die Marder, Füchse und Raubvögel, die es zu schützen gilt, gehen doch überhaupt nicht in den hohen Feldbewuchs. Und den Hamster braucht kein Mensch (dessen Bekämpfung ist aber schon wieder eine neue Geschichte).
Zuerst wurde das Getreide mit dem Mähdrescher E 175 in Thüringen und Sachsen geerntet, mit unterschiedlichen Radtraktoren, von ZT 300 bis ZT 320, und dem bulligen Lastkraftwagen W 50 abgefahren. Da war der schmächtige Student ein Ernteheld, nur die Kohlekumpel im Winter konnten das noch toppen. Die jungen, braun gebrannten Studentinnen halfen nicht nur bei der Ernte, sondern auch uns betrunkenen Jungs in die Kojen. Verkatert saßen alle am nächsten Tag wieder auf der Erntemaschine, zogen krumme Bahnen, fuhren sich in Wasserlöchern fest oder legten beim Rückwärtsfahren einen Strommasten um. So kam es schon vor, dass ein Dorf für einige Tage ohne Strom da stand.
Wenn dann keine Getreidehalme mehr auf den staubigen Feldern standen, fuhr die Brigade über die Autobahn (!) mit Mähdreschern und Traktoren in Richtung Küste zur sozialistischen Hilfe. Nach drei Tagen Fahrt, vielen Reparaturen, lahmen Kreuz und dreckigem Äußeren ging es in die Ostsee und danach gleich zur Getreideernte auf die großen Schläge voller Korn.
Der Traum ist vorbei und man weiß, dass immer mehr Bauern Mais anbauen für Kraftstoff, sie sich von Bordcomputern den Ernterhythmus ausrechnen lassen, keiner dem Nächsten hilft und Jugendbrigaden längst ausgestorben sind …