15. Jahrgang | Nummer 17 | 20. August 2012

Ein umstrittener Dialog und seine Folgen

von Rolf Reißig

Die Überraschung war perfekt. Nach Jahrzehnten erbitterter Auseinandersetzungen und Feindschaft zwischen SPD und SED präsentierten die Grundwertekommission der SPD und die Akademie für Gesellschaftswissenschaften der SED am 27. August 1987 erstmals ein gemeinsames Grundsatzpapier: „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“. Die Erklärung sorgte in Ost und West für Irritation. Nicht alle wussten sie produktiv zu nutzen. Statt die politischen Karten neu zu mischen, wurden sie nicht selten in die alten Muster einsortiert. Die Kritiker in der Bundesrepublik sahen darin einen „Verrat an der westlichen Wertegemeinschaft“, die in der SED eine beginnende „Sozialdemokratisierung“ der Staatspartei und eine Aufweichung der DDR. Das gemeinsame Papier von SPD und SED und seine Folgen bleiben bis heute umstritten: in der Politik, in der Öffentlichkeit und auch in der Wissenschaft. Verwundern kann das kaum, denn mit diesem Unterfangen wurde Neuland beschritten und begann ein Experiment, dessen Ausgang zunächst offen schien.
Dieser von Anfang 1984 bis 1989 stattfindende Dialog zwischen der Grundwertekommission der SPD und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften der SED sowie weiteren DDR-Wissenschaftlern war ein Sonderfall des Ost-West-Dialogs. Gegenstand dieses Grundsatzdialogs waren erstmals die bestimmenden ideologischen Streitfragen des Ost-West-Konflikts, die Grundsatzfragen der vom Systemgegensatz geprägten Epoche. Diskutiert wurden in offener und öffentlicher Form die universellen Werte Frieden, Fortschritt, Demokratie, Menschenrechte, gesellschaftlicher Wandel in Ost und West. Der Gedanke eines „gemeinsamen Papiers“ kam erst während der 4. Tagung im Februar 1986, der wohl spannendsten Diskussionsrunde insgesamt.
In dem dann erarbeiteten gemeinsamen Papier wurde erstmals der enge Zusammenhang zwischen Außen- und Innendialog formuliert. Beide Seiten sollten auf Feindbilder verzichten und auch nicht mehr auf Abschaffung des anderen Systems setzen, sondern auf dessen Existenzberechtigung und seiner Friedens- und Reformfähigkeit. Kritik, auch in scharfer Form, dürfe nicht mehr als Einmischung in die inneren Angelegenheiten zurück gewiesen werden. Notwendig sei die offene Diskussion über den Wettbewerb der Systeme, ihre Erfolge und Misserfolge. Man plädierte für eine neue politische Kultur des Dialogs und der Demokratie in den Gesellschaften in Ost und West und für deren Ko-Evolution. Rolf Schneider sprach in einem Spiegel-Essay vom SPD-SED-Papier als „Magna Charta einer möglichen Perestroika in der DDR“.
Es kam deshalb für alle, gerade auch für die zwei ost- und zwei westdeutschen Autoren des Papiers, überraschend, dass Erich Honecker (buchstäblich über Nacht) und danach auch das SED-Politbüro einem solchen Ideologiepapier zustimmten. Noch dazu, da es kein Auftragswerk und nicht mit der SED-Führung abgestimmt war. Erich Honecker wie dem Politbüro galt das Papier als „wichtiger Akt der DDR-Friedenspolitik“ und Schritt der Einbeziehung der SPD in eine „Koalition der Vernunft“ Ein Konzept des Umgangs mit diesem Streitpapier, wurde nicht diskutiert. Sinn und Anliegen des Papiers und die mit ihm verbundene und unverhoffte Chance wurden nicht erfasst. Doch auch im Westen dominierte die konservative Ablehnungsfront. Ein Umdenken fand in Ost und West nicht statt. Honeckers Öffnungsexperiment nach außen war ohne die erforderlichen innenpolitischen Folgerungen gedacht. Die SED glaubte, ihre bisherige Doppelstrategie – Dialog und gewisse Flexibilität nach außen, Dialog- und Reformverweigerung nach innen – unbeschadet fortsetzen zu können. Doch genau diese Strategie scheiterte in der Folge zusehends.
In der SED entwickelte sich nach Verabschiedung des Papiers und seiner Veröffentlichung im Neuen Deutschland ein relativ offener und kritischer Meinungsstreit um die neuen Begriffe und die alten Glaubenssätze. Genau genommen war es die lebhafteste, interessanteste und strittigste Diskussion seit Jahren. Es dominierte zunächst ein Gefühl der Erleichterung und der Hoffnung, mit den Veränderungen in Moskau und dem gemeinsamen SPD-SED-Papier nun endlich die ideologischen Schützengräben verlassen und offener über die drängenden Probleme in der DDR diskutieren zu können. Unter DDR-Intellektuellen vollzog sich eine Debatte, die auch im Westen als Reformdiskurs Beachtung fand.
Eine fast einhellige Zustimmung zum SPD-SED-Papier gab es in der Evangelischen Kirche der DDR, stimmten doch viele Forderungen des Papiers mit ihren eigenen überein. Entgegen zeitgenössischen Deutungen fand das gemeinsame Dialogpapier selbst bei einer Mehrheit in den Bürgerrechtsgruppen zunächst einen positiven Widerhall. Das Papier diente Bürgerrechtlern zugleich als Berufungsinstanz für ihre seit langem erhobenen, kritischen Forderungen an die DDR-Machthaber.
Trotz unterschiedlicher Reflexionen war das SPD-SED-Dialogpapier in der DDR-Gesellschaft mehrheitsfähig geworden, nur anders, als es sich die SED-Führung vorgestellt hatte. Dabei ging es dieser Mehrheit damals nicht um Abschaffung der DDR, sondern um deren Demokratisierung und den notwendigen gesellschaftlichen Wandel in Ost und West. Eine für die DDR der achtziger Jahre einmalige Situation und Chance.
Der Dialog als spezifische Form der öffentlichen Diskussion und Meinungsbildung kollidierte in der DDR bald mit dem Monopolanspruch der SED auf Wahrheit. Die konservativen Kräfte und Hardliner gingen zur Gegenoffensive über. Das „außenpolitische“ Papier werde, so hieß es nun, als innenpolitisches Dokument „missbraucht“. Die daraufhin eingeleitete Missbrauchskampagne seitens der SED-Führung sollte den Geist wieder in die Flasche zwingen. Die Medien wurden angewiesen, „nichts mehr zu diesem Thema des Dialogpapiers zu bringen“, da es zu „Konfusionen und Illusionen in der SED“ geführt habe. Das Papier durfte bereits im Herbst 1987 nicht mehr als Broschüre publiziert werden. Der Druck auf die kritisch eingestellten Genossen und Parteiintellektuellen nahm zu. Viele lavierten oder gingen „in Deckung“. Die konservativen Kreise und Apparate der SED konnten sich noch einmal durchsetzen. Es wurde jedoch ein Pyrrhussieg, denn die Glaubwürdigkeitskrise der SED-Führung vertiefte sich zusehends.
Die 89er-Bewegung in der DDR-Bevölkerung stellte alsbald Forderungen, die weit über die des SPD-SED-Papiers hinaus reichten. Für die Ereignisse im Herbst 1989 war jedoch typisch, dass es nicht nur eine Bewegung gegen die Staatspartei gab, sondern auch eine Reformbewegung in ihr.
Sinn und Anliegen des Dialogpapiers sind jedoch nicht in Frage gestellt. Die Politik des Dialogs hat mehr als die der Abstandsnahme zur Zivilisierung des epochalen Ost-West-Konflikts und zur Öffnung der geschlossenen Ost-West-Strukturen beigetragen, partiell die politische Kultur in der DDR und selbst innerhalb der SED verändert, dort das demokratisch-sozialistische Potenzial gestärkt und schließlich zum friedlichen Verlauf des zunächst nichtintendierten Umbruchs 1989 beigetragen.
Was bleibt? Die politische Situation hat sich grundlegend verändert. Das Dialogpapier ist ein Zeitdokument und Geschichte geworden. Der Abstand zum Geschehen hat jedoch einen erstaunlichen Effekt: Er macht es aktuell. Die notwendige sozialökologische und solidarische Transformation betraf nicht nur den Osten, sondern auch den Westen. Was damals schon angedacht, wird heute ganz offensichtlich. Und – Dialog ist dort am nötigsten, wo er unmöglich scheint. Das gilt auch heute, wo neue politische Gegensätze und Feindbilder, herkömmliche und „neue“ Kriege das Bild unserer Zeit prägen. Der Ausweg ist nicht die Militarisierung des Politischen, sondern die Suche nach Dialog, nach Verständigungsprozessen, in denen trotz konträrer Ausgangslage gemeinsam nach Lösungen gesucht werden muss.