15. Jahrgang | Nummer 12 | 11. Juni 2012

Hisbollah oder die Strafe Allahs

von Lutz Unterseher

In Israel laufen gegenwärtig militärische Vorbereitungen für einen Luftschlag gegen die iranischen Atomanlagen. Und die Tatsache, dass Premierminister Netanjahu die größte Oppositionspartei, Kadima, mit an Bord seiner Regierungskoalition geholt hat, verheißt nichts Gutes.
Sollte der Iran trotz der fraglos bestehenden, immensen militärisch-technischen Schwierigkeiten tatsächlich angegriffen werden, und zwar von Israel im wahnwitzigen Alleingang, stellt sich die Frage nach den Reaktionsmöglichkeiten der Führung in Teheran. Eine könnte darin bestehen, die mit dem Iran liierte Hisbollah im Libanon dazu zu bewegen, Israel erneut durch einen massenhaften Einsatz relativ einfacher konventioneller Raketen zu bedrohen – möglicherweise noch weiter reichend und wirkungsvoller, als im Jahre 2006 geschehen. Dies könnte in Israel zu Flüchtlingsströmen führen, welche die Existenz des Staates gefährden mögen.
Ob die Hisbollah sich zu einem solchen Akt der Solidarität bewegen ließe, ist allerdings offen: Der Krieg von 2006 hat viel Kraft gekostet, der Waffennachschub durch Syrien erscheint durch die dortigen Ereignisse gefährdet, und die Partei als Ganzes sieht ihre Zukunft immer mehr als Machtfaktor in der libanesischen Innenpolitik.
Gleichwohl ist im Falle eines Falles eine militärische Aktion der libanesischen Schiiten gegen Israel keineswegs auszuschließen. Deswegen erscheint es ratsam, sich die Ereignisse von 2006 etwas genauer anzuschauen.

Erinnerung

Falls die Erinnerung an den Krieg zwischen Israel und den militärischen Kräften der Hisbollah im Sommer 2006 nicht mehr frisch sein sollte, ein so schlimmes Ereignis wird oft gern nur am Rande wahrgenommen oder gar verdrängt, sei dem Gedächtnis ein wenig nachgeholfen: Nachdem die Hisbollah (die „Partei Allahs“) israelische Soldaten als Geiseln genommen hatte, um in Gefangenschaft geratene eigene Leute frei zu pressen, antworteten die Vertei­digungskräfte Israels (Zahal): erst mit schweren, kontinuierlichen Schlägen ihrer Luftwaffe, die Schrecken nicht nur für die gegnerischen Kämpfer, sondern vor allem auch die Zivilbe­völkerung brachten, und dann – erst gegen Ende ihrer Operation – mit einer Bodenoffensive in den Südlibanon hinein.
Diese Verzögerung resultierte daraus, dass der israelische Stabschef und Oberkomman­dierende (raf aluf) dem Premierminister, der das Risiko des Verlustes kostbaren jüdischen Lebens durch eine Operation zu Lande scheute, fälschlicherweise verheißen hatte, die Hisbollah würde nach einer kurzen Phase konzentrierter Schläge aus der Luft einknicken. Israel hatte sich zum ersten Mal in seiner Geschichte einen raf aluf geleistet, der aus der Luftwaffe kam und der jener in seinen Kreisen verbreiteten, aber jeder historischen Evidenz entbehrenden Ideologie anhing, nach der Kriege allein aus der Luft zu gewinnen sind.
Während der Monate Juli und August 2006 hielten die Kämpfer der Hisbollah über fünf Wochen hinweg den israelischen Angriffen stand. Zunächst ertrugen sie die massiven Luftschläge, und dann ließen sie die schließlich erfolgende Bodenoffensive sich festlaufen – eine Offensive, die mit einer, quantitativ gesehen, bis zu zehnfachen israelischen Übermacht geführt wurde: und überdies mit massiver Luftunterstützung –  einem Luxus, über den die arabische Defensive nicht verfügte.
Während der gesamten Dauer des Konfliktes gelang es der Hisbollah, ihre Basen in einem Maße zu schützen und zu bewahren, dass ein fast ununterbrochener Raketenterror gegen die Zivilbevölkerung Nordisraels (hinunter bis etwa zur Linie von Haifa) möglich war.
Am Ende begann der Widerstand der Hisbollah zu erodieren, was angesichts des krassen Missverhältnisses der Kräfte kein Wunder war. So kam der Waffenstillstand für sie gerade rechtzeitig. In diesen konnte ihre Führung freilich durchaus selbstbewusst einwilligen – hatte man doch, wenn einmal von dem eher vorgeschobenen Motiv der Gefangenenbefreiung abgesehen wird, sehr wesentliche Erfolge zu verzeichnen: Das innenpolitische Gewicht der Hisbollah im Libanon hatte erheblich zugenommen, und als arabische Avantgarde im Kampf gegen Israel erschien sie nun so heroisch wie konkurrenzlos.
Und auch Israel hatte sehr triftige Gründe, die Kampagne abzubrechen: Trotz einer gewissen Erosion der Kampfkraft auf arabischer Seite war letztlich doch kein Ende abzusehen. Der Druck der internationalen Gemeinschaft wuchs von Tag zu Tag, und – mindestens so relevant – in der israelischen Bevölkerung bröckelte vor dem Hintergrund zunehmender Ängste und wiederholt nicht eingehaltener militärischer Versprechungen die Unterstützung für den Krieg.

Erkenntnisinteresse

Worum es hier geht? Um den Versuch einer Erklärung der viele überraschenden militärischen Leistung der Hisbollah, was zugleich eine Analyse der Ursachen impliziert, die das Ins-Leere-Laufen mancher israelischen Anstrengung begründen. Dieses Erkenntnisinteresse begründet sich vor allem auch daraus, dass – wie noch auszuführen sein wird – der relative Erfolg einer modernen Guerilla im asymmetrischen Konflikt mit einer Erste-Welt-Armee von epochaler Bedeutung sein könnte.
Wenn nach Hintergründen und Zusammenhängen gefragt wird, dann soll es – in gewollter Verengung – einzig um Strukturen und Funktionsweisen gehen: und nicht um die Beurteilung der Motive oder Rechtfertigungen der einen oder anderen Seite. Andernfalls würde das Verständnis der machtpolitischen Relevanz dessen, was im Sommer 2006 geschehen ist, beeinträchtigt. Dieses Bemühen um einen Blick sine ira et studio mag zwar Hysterikern, die Neutralität immer schon als Parteinahme für Aggressoren denunziert haben, nicht gefallen. Doch sei’s drum.
Bevor wir uns nun der Hisbollah zuwenden, sind allerdings – zum besseren Verständnis – einige Informationen zum Kontext des Konfliktes und zum militärischen Profil des Kontra­henten einzubringen.

Kontext

Als Israels Regierung auf die Geiselnahmen mit Luftangriffen antwortete, wurde spekuliert, dass eine solche als Überreaktion erscheinende Maßnahme mit der Bush-Administration abgestimmt gewesen sei (oder hätte sein müssen). Die US-Führung, die sich angeblich auf einen eventuellen Schlag gegen den atomrasselnden Iran vorbereitete, hätte großes Interesse (gehabt), dem Regime in Teheran für einen solchen Fall die Option zu nehmen, mit der von ihm beeinflussten Hisbollah gleichsam eine zweite Front zu eröffnen.
Und Israel hätte auf eine solche Konstellation – nämlich  amerikanisches Interesse – gewartet und seit Jahren entsprechend geplant, um zum Schutz seiner geplagten Bevölkerung mit der Bedrohung aus dem Libanon ein für alle Mal aufzuräumen. (Hinzu sei die Problematik gekommen, dass ein als relativ schwach geltender – jedenfalls nicht mit militärischen Lorbeeren geschmückter – Premier sich hätte beweisen müssen.) Insofern sei die Hisbollah mit ihrer Provokation in eine Falle gelaufen.
Aber auch im umgekehrten Sinn war (und ist) vom Fallenstellen die Rede: Da wurde etwa gemunkelt, dass der hinter der Hisbollah stehende, sich von den USA bedroht sehende Iran seinen Gegner in Gestalt des Stellvertreters Israel einmal so richtig vorführen wollte.
Weitere Spekulationen gingen dahin, dass die Führung des bewaffneten Arms der Hisbollah auf längere Sicht ihre Felle davon schwimmen sah – in dem Maße nämlich, in dem die Hisbollah als Ganzes sich ‚zivilisierte’, um im innerlibanesischen Kräftespiel zu einem wichtigen politischen Faktor, einer wesentlichen Interessenvertretung der Schiiten, zu werden. Deswegen habe man nach gründlicher Vorbereitung auf einen Kampf asymmetrischer, mit Terrorwaffen verkoppelter Defensive – sowie mit Rückversicherung aus Teheran und auch Damaskus – die Provokation gewagt.
Wenn überhaupt, scheint Israel in die Falle gelaufen zu sein – und  nicht umgekehrt (obwohl Scheich Nasrallah, der Hisbollahführer, sich durch den Angriff überrascht zeigte). Dass Israel alsbald in eine missliche Lage geriet, ist umso erstaunlicher und erklärungsbedürftiger, als seine Streitkräfte zu den modernsten und kampferfahrensten der Welt gehören.

Zahal

Die allgemeine Wehrpflicht verschafft den Zahal-Truppen einen qualitativ besseren Schnitt, als er bei typischen Freiwilligenarmeen zu verzeichnen ist, die oft nur die ‚losers’ des Arbeitsmarktes bekommen. Und die lange Dienstzeit ermöglicht eine gründliche Ausbildung. Hinzu kommt – auf der Basis des qualitativ guten Grundpotentials – eine beträchtliche Rate an freiwilligen Längerverpflichtungen, die eine hohe Motivation des Personals anzeigen.
Die Luftwaffe ist durchgängig mit US-amerikanischem Gerät, zum Teil dem modernsten, ausgestattet. Und die Landstreitkräfte verfügen über eine weit tauglichere Ausrüstung als etwa die U.S. Army und Marines. (Die Invasion in den Libanon stützte sich hauptsächlich auf schwerstgepanzerte Fahrzeuge, was freilich hochbewegliche Einsätze der Infanterie, welche diese Transportmittel gleichsam als Basis nutzte, keineswegs ausschloss. Sicherlich, manche dieser Fahrzeuge wurden von der Hisbollah mit Hilfe moderner Panzerabwehrmittel und auch Minen geknackt: Hätten die Zahal-Verbände jedoch mit der US-amerikanischen Ausstattung antreten müssen, wären ihre Verluste um ein Vielfaches höher gewesen.)
Bemerkenswert und für den zu untersuchenden Konflikt besonders relevant ist vor allem, dass die israelischen Streitkräfte traditionell ein besonderes Gewicht auf Lage- und Zielaufklärung legen. Ingeniös wurden und werden die Ergebnisse unterschiedlicher Quellen miteinander verknüpft, seien diese luft- oder sogar raumgestützt, Erkundungsorgane vorgeschobener Truppenteile oder geheimdienstlicher Natur. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, dass Israel das erste Land war, welches unbemanntes Fluggerät (Drohnen) erfolgreich zur Zielaufklärung einsetzte – und zwar schon 1982, im ersten Libanon-Krieg.
Es bietet sich das Bild einer Streitmacht mit High-Tech-Zügen, guter Personalqualität, großer Erfahrung und relativ flexiblen Einsatzverfahren. Wenn sich so eine Organisation mit ihrem Gegenüber schwer tut, macht dies neugierig:

Hisbollah

Die Hisbollah wurde 1982 gegründet, als Reaktion auf den Einmarsch israelischer Truppen im ersten Libanon-Krieg. Wie manch andere Widerstands- oder Terrororganisation auch, die etwas auf sich hält, hat die Hisbollah eine politische Organisation und einen bewaffneten Arm. Erstere weist, und das ist auch nichts Neues, einen gemäßigten sowie einen weniger gemäßigten Flügel auf. Dabei scheint sich der Grad der ‚Mäßigung’ bei der Hisbollah danach zu bemessen, inwieweit diese Bewegung im Libanon eher regionalpolitische beziehungsweise Gruppeninteressen oder aber religiös-puristische Orientierungen vertritt. Dies soll uns allerdings nicht weiter beschäftigen: gilt doch das Augenmerk der militärischen Struktur und Operationsweise. Dazu gibt es aber nur recht spärliche Informationen: Einiges spricht dafür, dass der bewaffnete Arm von der Gesamtorganisation tendenziell entkoppelt ist und ein oberstes Aufsichtsgremium besitzt, welches sich aus zwölf islamischen Rechtsgelehrten, religiösen Wächtern, zusammensetzt. Diese scheinen – im Einklang mit den Erfordernissen eines dezentral-asymmetrischen Kampfes – den nachgeordneten Ebenen relativ große Entscheidungsfreiheit zu lassen und eher nur generelle Orientierung zu bieten.
Alles in allem ist die Struktur wenig hierarchisiert. So etwa gibt es drei unabhängige,  mitein­ander kooperierende Regionalkommandos, die offenbar in der Lage sind, den Defensivkampf in großer räumlicher Tiefe zu organisieren. Unterhalb dieser Ebene scheint sich das Konzept relativer Selbständigkeit, das nur auf gewisse Rahmenregelungen angewiesen ist, fortzu­setzen: bis hin zu den kleinsten Teams – Waffensysteme bedienenden Trupps von drei oder vier bis sieben Kämpfern.
Den plausibelsten Schätzungen entsprechend standen den Zahal-Truppen im Sommer 2006 etwa 3.000 – 5.000 Vollzeit-Kämpfer gegenüber. Diese konnten sich auf ein Mehrfaches an lokalen Teilzeit-Milizen stützen, die vor allem zu Zwecken der Versorgung und zum Stel­lungsbau herangezogen wurden.

Rüstung

Die Hisbollah ist alles andere als eine Steinzeitguerilla. Ihre professionelle Rüstungsplanung und -beschaf­fung ist von einer geradezu glasklaren Konsequenz. Im Gegensatz zu dem, was wir in Europa mit seiner Prävalenz von nationalen Status- und Industrie-Interessen erleben, ist die Ausrüstung der Hisbollah stringent aufgabenbezogen. Rationalität, selbst im eingeschränkt technischen Sinne, ist somit durchaus kein westliches Privileg.
Um in einer dezentralen Defensivstruktur unter Bedingungen der Störbarkeit durch einen übermächtigen Gegner gut kommunizieren und überdies den Heimvorteil der Kenntnis eigenen Geländes optimal nutzen zu können, wurden auf dem in dieser Hinsicht sehr ergiebi­gen Weltmarkt modernste Fernmeldemittel und etwa auch Nachtsichtgeräte erworben.
Die defensive Feuerkraft der taktischen Ebene stützt sich auf kompaktes Hochleistungsgerät, wie etwa Panzerabwehr-Lenkraketen neueren Typs vor allem aus russischer, seltener aus westlicher Produktion, die – als Artillerie-Ersatz – auch gegen statische Ziele besonderen militärischen Wertes, wie zum Beispiel israelische Befehlsstellen, eingesetzt wurden. Hinzu kommen an schwererem Gerät zahlreiche Mörser verschiedener Kaliber. All dies, dazu noch leichte russische Infanteriewaffen, ist offenbar vor allem aus (oder über) Syrien bezogen worden. Damit konnte die Guerilla unmittelbar und wirksam auf Eindringlinge in ihr Gebiet reagieren.
Das offensive Element der Ausrüstung wird durch weit reichende Lenkflugkörper und etliche Typen von Artillerieraketen gebildet: Da sind zum einen etwa Flugkörper mit Prä­zisionslenkung aus chinesischer Produktion, die sich zur Bekämpfung von Schiffen auch weit vor der Küste eignen. (Im Krieg war ein durchschlagender Erfolg zu verzeichnen.) Diese Lenkflugkörper sind technologisch durchaus anspruchsvoll und haben ihren Preis.
Und da sind zum anderen ballistische Raketen, die sich wegen ihrer Ungenauigkeit ‚nur’ für den Terroreinsatz gegen Flächenziele, wie etwa Städte, anbieten. Anderes ist aber auch gar nicht beabsichtigt. Vor allem die Raketen in der unteren Reichweitenkategorie (bis zu 25 Kilometer), sie repräsentieren die Technologie des Zweiten Weltkrieges, sind einfach und sehr kostengünstig. Sie könnten in heimischen Werkstätten hergestellt werden (was zum Teil wohl auch geschieht). Es wäre kaum überraschend, wenn Oberschulklassen (Palästina und der Libanon sind reich an solchen Schulen) derlei Gerät im Physikunterricht entwickeln und bauen wür­den: Raketenbau als Abiturfach?
Auf jeden Fall waren und sind einfache ballistische Artillerieraketen in solchen Mengen verfügbar, dass sich mit Massenstarts (Voraussetzung allerdings: sichere oder nicht entdeckte Abschussstellen!) jedes auch noch so leistungsfähige Abwehrsystem durch ‚Sättigung’ überwältigen ließe. Eine relativ gute Verfügbarkeit dürfte übrigens auch für ballistische Raketen mit Reichweiten um 50 Kilometer gelten, die gegen die Region um Haifa eingesetzt wurden; sie sind technologisch nur etwas aufwendiger.
Problematischer war und ist für die Hisbollah vermutlich der Zugriff auf Raketen– erheblich – größerer Reichweite, die freilich wohl aus zwei Gründen sehr gewünscht werden: Zum einen ließe sich damit der Terror noch weiter in den Raum der anderen Seite tragen. Und zum anderen ergibt sich dadurch die Option, bei einem Vordringen des Gegners immer noch gegen dessen Territorium wirken zu können: und zwar aus der eigenen Tiefe. Doch die iranische Führung – Iran ist für die Hisbollah wesentliches Herkunftsland der Geschosse mit Reichweiten über 25 Kilometer – hat 2006 wahrscheinlich die Nutzung besonders bedrohlicher Waffentechnik restringiert. Nicht wegen der in diesem Fall durchaus ins Gewicht fallenden Kosten, sondern um die Provokation in Grenzen zu halten. Diese Position ließe sich revidieren.

Kampfweise

Es wurde bereits mehrfach angedeutet: Die Hisbollah bekämpfte einen Gegner, der sich auf Luftmacht und mechanisierte Truppen stützt, asymmetrisch – zahlte also nicht in gleicher Münze zurück. Interessanterweise ließ (und lässt) man sich von iranischen Militärspezialisten und nicht etwa syrischen beraten. Das spiegelt nicht nur den besonderen politischen Einfluss des Iran wider, sondern ist auch für den Inhalt der Anleitung relevant: Es wird nämlich nicht der ursprünglich sowjetisch inspirierte Schematismus der syrischen Armee übernommen, sondern von einem Land gelernt, das experimentierfreudiger zu sein scheint. Dessen Revolutions­wächter (Pasdaran) haben schon im ersten Golfkrieg vorgeführt, wie ein gepanzerter Vorstoß, damals der Armee Saddam Husseins, durch leichte Truppen neutralisiert werden kann.
Die Kampfweise der Hisbollah, die als systematische Nutzung des Heimvorteils verstanden werden kann, lässt sich in fünf Punkten charakterisieren: Erstens – der Verteidigungskampf setzt am vorderen Rand des eigenen Gebietes an und wird – den  Gegner begleitend, verzögernd und abnutzend – bis in die Tiefe des Raumes fortgeführt.
Zweitens – auf der untersten taktischen Ebene ist der Kampf beweglich, nadelstichartig, wobei ein statisches Stellungssystem, dessen Gebiet möglichst nicht verlassen werden soll, Rahmen und Grundlage bildet.
Drittens – Das stützende Stellungssystem, das auch die für beweglichen Einsatz weniger geeigneten Waffenstationen beherbergt, ist netzartig-dezentral angelegt, umfasst also keine Schlüsselpositionen, deren Fall alles aus den Angeln heben würde.
Viertens – in einem verzweigten, von langer Hand vorbereiteten Tunnelgeflecht mit guter Schutzwirkung, aber auch in betonierten Feldbefestigungen und -bunkern, ver­schwindet die Truppe von der Erdoberfläche.
Fünftens – tarnen und Täuschen sind – mit einfachsten Mitteln – so perfektioniert, dass selbst hochwertigste Aufklärungssensoren ausgetrickst werden können. Zur Tarnung gehört allerdings auch, dass Raketen aus Wohnhäusern gestartet werden.
Anmerkung: Der große preußische Dichter Karl Gutzkow ließ seinen Rabbi Ben Akiba sagen: „Alles ist schon da gewesen.“ Und tatsächlich, in der Debatte, die in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts um eine defensive Verteidigung als Alternative zum NATO-Mainstream geführt wurde, um die sich zuspitzende West-Ost-Konfrontation zu entschärfen, gab es sehr ähnliche Ansätze. Einige Autoren wollten übrigens ihre Defensivkonzeptionen schon damals mit weitreichenden Raketen garnieren, allerdings nicht zwecks Terror, sondern zur Bekämpfung von sowjetischen Panzeransammlungen, was dann aber gelegentlich doch als zu offensiv – also systemwidrig – kritisiert wurde. Wie dem auch sei: Die asymmetrischen Konzeptionen wurden in jenen Jahren von der im Westen etablierten militärischen Lehr­meinung herablassend für funktionsuntauglich und abwegig erklärt, während viele Friedens­forscher sie zu ‚militaristisch’ fanden.

Hybris

Die Hisbollah wurde offenbar von den israelischen Militärs falsch eingeschätzt. Man hatte ihr wohl sehr viel weniger zugetraut. Hochmut kommt vor dem Fall, und außerdem bestrafen ihn die Götter. Pardon! In der Region des Monotheismus, dem Nahen Osten, wird wohl nur von einem gestraft. Was allerdings noch lange nicht heißt, dass die Hisbollah in diesem Kontext als Arm Allahs tätig war. Viel eher war die israelische Kampagne von Hybris gekennzeichnet – und zwar in mehrerlei Hinsicht: Zum einen gab es das Vorurteil, dass die Araber einfach nicht erfolgreich Krieg führen können. Dabei stützte man sich auf scheinbare historische Evidenz und übersah, dass die in neuerer Zeit generell mangelhaften Leistungen arabischer Armeen (Ausnahmen bestätigen die Regel), durch gesellschaftlich und politisch bedingte, also veränderbare Faktoren begründet waren und sind. Es muss zum Beispiel nicht sein, dass militärische Hierarchien extrem rigide sind und die Behandlung einfacher Soldaten durch Vorgesetzte demütigend ist.
Zum anderen war da der Glaube, mit großer technologischer Überlegenheit praktisch alles erreichen zu können – wobei eine besondere Spielart dieser Fixierung, nämlich die Überzeugung, dass Luftstreitkräfte es alleine schaffen können, dem ganzen Wahngebäude noch den First aufsetzte.
Und schließlich: Einer Streitmacht, die ihre Professionalität auf die Religion der Hochtechnologie und des mechanisierten Bewegungskrieges hin orientiert, fällt es  prinzipiell schwer, asymmetrische Formen der Reaktion zu begreifen (selbst wenn man sich ein gewisses Maß an Unkonventionalität bewahrt haben sollte).

Option

Das, was die Hisbollah gezeigt hat, ist von übergreifender machtpolitischer Relevanz: Bislang hatten Bewegungen oder Regimes, die meinten sich gegen tatsächliche oder empfundene Beeinträchtigungen ihrer Existenz durch die Erste Welt zur Wehr setzen zu müssen, im wesentlichen nur zwei Optionen: Erstens – Terror durch Selbstmordattentate und zweitens – die Entwicklung von Massenvernichtungsmitteln samt zugehöriger Trägersysteme. Ersteres ist scheußlich, individualistisch, irrational, schwer planbar und führt zu bisweilen unwillkommener Gegen­mobilisierung. Letzteres ist vor dem Hintergrund knapper Ressourcen von Entwicklungs- oder Schwellenländern mit ungeheuren wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Kosten verbunden.
Die Guerilla der Hisbollah steht für eine weitere, keineswegs völlig neue Option: Diese knüpft an traditionelle Muster des Partisanenkrieges an, ist jedoch technisch up to date, ohne dem Technologiewahn zum Opfer zu fallen, und kann es mit nach allen herkömmlichen Kriterien überlegenen Gegnern aufnehmen beziehungsweise diese an den Rand einer Niederlage bringen oder zum Rückzug ohne Sieg veranlassen.
Israel sollte all dies in seinem Kalkül eines möglichen Angriffs gegen Iran nicht außer Acht lassen.