15. Jahrgang | Nummer 10 | 14. Mai 2012

Wandertrieb

von Renate Hoffmann

Wenn im Frühjahr alles sprießt, dann sprießt auch dieser Trieb. Man weiß nicht so genau, was der eigentliche Grund für die Unruhe ist, die einen plötzlich überkommt, für die unstillbare Lust, durch Feld, Wald und Wiesen zu streifen. Möglicherweise handelt es sich um ein Relikt aus den Zeiten der Völkerwanderung, das im Tiefinneren rumort. Gibt man dem Drängen nach, so erschließen sich nicht nur geographisch andere Welten. Die fünf Sinne werden neu entdeckt, und die eigene Wahrnehmung wird bestaunt.
Blühende Rapsfelder verströmen ihren eigenwilligen Duft. In Wald und Busch herrscht ungeahnte Vielfalt an Geräuschen und Stimmen, vom Knacken und Knarren des Holzes bis zu den Vogelgesängen. Mittagswärme schmeichelt der Haut. Ist eine Anhöhe mit Fernblick erreicht, so bringen sich Verszeilen und Dichter in Erinnerung, die scheinbar in Vergessenheit geraten waren:  „Vom Grund bis zu den Gipfeln, / So weit man sehen kann, / Jetzt blüht’s in allen Wipfeln, / Nun geht das Wandern an … “ Der vielgereiste Herr von Eichendorff und sein „Taugenichts“, der ebenfalls im Frühling aufbrach, kannten sich diesbezüglich gut aus.
Im Sommer könnte der Wandertrieb etwas nachlassen (zu hohe Außentemperaturen oder anhaltende Feuchte während des „Siebenschläfers“ oder andere Ungelegenheiten). Doch im beginnenden Herbst regt er sich wieder. Dann nennt man ihn Spätwandertrieb. Ihn zu befriedigen, sorgt für ein freundliches Austrudeln der Wandersaison.
Zum Unterwegssein werden benötigt: 1. Trittsicheres, bewährtes Schuhwerk. Wenn ich meine alt gediente Fußwanderbekleidung zum Schuster bringe, fragt er jedes Mal: „Wie oft soll ich die denn noch flicken?“ Und ich antworte: „Nur dieses Mal noch.“ 2. Geeignetes Kartenmaterial. Obgleich ich es stets mit mir führe, verlaufe ich mich hin und wieder. Diese Verläufnisse nenne ich „Ehrenrunden“ und kompensiere damit gewisse Orientierungsmängel. 3. Ein Wandergott. Kurt Tucholskys Reisegott hieß Zippi. Meiner trägt den Namen Leopold und ist ein schlichter Ring, ohne Pretiosen. Dreht man bei unliebsamen Vorkommnissen an ihm, so geschehen kleinere Wunder. Manchmal. 4. Rucksack. Enthaltend: Notgepäck und – sofern man den treuen Begleiter nicht gegen eine moderne Tragevorrichtung ausgewechselt hat – viele Geschichten.
Im Schwarzwald fiel er mit mir in den Bach. Beide waren wir ziemlich durchnässt. Als ich ihn im Hochmoor der Hessischen Rhön unbedacht abstellte, behielt er einen ansehnlichen dunkelbraunen Flecken davon zurück. Ein Riss, säuberlich geklebt, reparierte Nähte – das sind seine Wandernarben. Doch bleibt er ein vertrauter Geselle und Mitwisser aller Begebenheiten.
Auf dem Weg nach Osterode im Harz befragte ich zwei älter Damen nach einem möglichen Nachtquartier im Ort. Sie musterten mich. Da ich nicht eben im schwarzen Kleid mit der roten Schleppe vor ihnen stand, hielten sie mich wohl für eine Landstreicherin. „Gehen Sie nur weiter, hier finden Sie nichts!“ Und als ich in Bernried am Starnberger See wirklich keine Bleibe fand, ging ich, fest entschlossen, an die christliche Nächstenliebe zu appellieren, zur Pforte des Klosters St. Martin. Die Schwestern betrachteten den wohlgerundeten Rucksack und mich, die ich zu dieser Stunde nicht mehr vor Tatendrang strotzte – und nahmen mich auf.
In Wertheim, der Stadt an der Taubermündung in den Main, wurde ich unvermutet Ehrengast eines Rockkonzertes. Diesmal in Kleidung und Gepäck nicht auffällig, saß ich in der zweiten Reihe. Zwar fielen mir beinahe die Ohren ab, doch wusste ich die Würdigung zu schätzen und harrte in Geduld aus.
Eine andere Art von Ehrenzuweisung geschah mir in Ottobeuren im Landkreis Unterallgäu. In der spätbarocken Basilika der Benediktinerabtei sollte ein Konzert stattfinden. Dirigent: Riccardo Muti. Ich las es unterwegs auf einem Plakat, welches bereits den Aufdruck AUSVERKAUFT trug – und änderte meinen Wanderplan. In der Dämmerung besah ich die Pracht des Kircheninneren von St. Alexander und St. Theodor und nahm dabei dem uralten „Bruder Beschließer“ den Aufstieg zur Empore ab. Dort brannte noch ein Licht. Tags darauf saß ich wieder in der zweiten Reihe, neben honorigen Gästen und hörte Mozart, Vivaldi und Cherubini.
Das sind die so genannten Wanderüberraschungen, die sich bei nie versiegender Neugier einstellen – und auch dann, wenn man bereit ist, nicht geplante Seiten- und Umwege einzuschlagen.
Wer also Gefallen daran findet, ein wenig zu vagabundieren, und gut zu Fuß ist; wer in einem kräftigen Regenguss die Vorfreude darauf entwickeln kann, in der nächsten Herberge seine nassen Sachen zu wechseln – der wandere los!