14. Jahrgang | Sonderausgabe | 21. Mai 2012

Stalinismus

von Hajo Jasper

Als N.I. (Nikolai Iwanowitsch Bucharin, H.J.) während der Kollektivierung durch die Ukraine fuhr, standen an den Bahnstationen viele Kinder mit vom Hunger aufgeblähten Bäuchen. Sie bettelten um Almosen. N.I. verteilte sein ganzes Geld an sie. Das war im Sommer 1930. Als er wieder in Moskau war, besuchte er meinen Vater und erzählte ihm davon. Wenn es so etwas mehr als zehn Jahre nach der Revolution gibt, warum haben wir sie dann gemacht? Und er warf sich aufs Sofa und weinte hysterisch.“
Anna Larina, zweite Ehefrau Bucharins, des „Lieblings der Partei“ (Lenin), der 1937 nach einem Schauprozess erschossen wurde

„ … das würde bedeuten, dass wir viel zu früh gekommen sind,“ folgerte Leo Trotzki 1927 aus der regelrecht erschrocken bedachten Möglichkeit des Ausbleibens der Weltrevolution und eines sich weiterhin entwickelnden statt absterbenden Kapitalismus. Auch wenn diese Episode nicht Baberowskis Buch über Stalins Gewaltherrschaft entstammt, hat es doch viel mit ihm zu tun. Versucht der Autor doch die Frage neuerlich zu beantworten, worauf sich die stalinistischen Gewaltexzesse gründeten: auf die kommunistische Ideologie, auf die sich als deren Sachwalter und Vollstrecker beriefen, oder auf die psychopathische Verfasstheit des georgischen Potentaten und Schreibtisch-Massenmörders.
Dass die Bolschewiki mit ihrer Totalumwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Tat „zu früh“ gekommen, da elementare Voraussetzungen für einen historisch stabilen Erfolg noch nicht gegeben waren und die erhofften Nachfolgerevolutionen in europäischen Industriestaaten ausblieben, ist ebenso wenig zu bestreiten wie es sinnvoll wäre, ihnen dies vorzuwerfen. Selbst im Zeitalter der leistungsfähigsten Großrechner lassen sich gesellschaftliche Umwälzungen nicht auf Erfolg hochrechnen und programmieren. Dass Lenins Mannen indes ihre keineswegs bereits von den Volksmassen wirklich verstandene und gestützte Macht im Vertrauen auf spätere Erfolge fortan vor allem auf Gewalt und Terror gründeten, ist auch nicht durch ihre am Menschenwohl orientierten Ideen und Pläne zu rechtfertigen.
Insofern hat Baberowski recht, wenn er festhält, dass es auch in Russland und der späteren Sowjetunion nicht die Ideen waren, die töteten, sondern dass vielmehr Menschen dies taten; jene, die die Abzüge ihrer Gewehre und Pistolen betätigten, und mehr noch jene, die all dies in Gang setzten und etwa durch Parteitagsreden und Erschießungslisten legitimierten.
Baberowski geht zu Recht davon aus, dass Stalinismus als ein Prinzip totaler Gewaltherrschaft nicht erst mit Stalin begann. Was er mit dem paradox klingenden Begriff des „Stalinismus vor dem Stalinismus“ meint bezeichnet das, wozu bereits Lenin gegriffen hatte, um die errungene Macht zu sichern: den Roten Terror. Weit vor Stalins Allmacht bedeutete das bereits ein massenhaftes Blutvergießen im Volk zum apostrophieren Wohle des Volkes als legitimes Machtinstrument kommunistischer Politik, was auch nicht allein mit dem Hinweis auf die konterrevolutionären Bedrohungen zu erledigen ist ein Volk so massenhaft zu opfern, um es zu retten ist widersinnig.
Baberowskis umfängliche sowie streng gegliederte Faktensammlung und -interpretation treibt, so sehr die meisten Tatsachen bereits bekannt sein mögen, jedem die Tränen in die Augen, der sich mit der Idee des Kommunismus/Sozialismus je verbunden fühlte. Eine These indes scheint mir zu kurz zu greifen. Terminisiert der Autor das Ende des Stalinismus doch weitestgehend mit Stalins Tod, wobei er meint, das nach dem 5. März1953 umgehend eintretende Ausbleiben weiterer politischer Morde in der UdSSR und deren Satellitenstaaten, als Beleg dafür anführen zu können. Wiewohl Baberowski auch zuvor bereits den Begriffsinhalt des Stalinismus durchaus weiter gefasst hat als physischen Terrorismus und Massenmord, vernachlässigt er denn wohl doch das Maß der langzeitigen Nachwirkungen, die da wie dort und zum Teil bis heute nicht zuletzt in der Insouveränität oder gar der Unfähigkeit zu eigenem, freien Denken außerhalb vorgegebener und quasireligiöser Ideologien zeigt.
Zu Widerspruch regen auch weitere Sichtweisen Baberowskis an, gewiss. Vorbei kommt an seinem Buch, das gewiss überzogen auch schon als „Schlüsselwerk“ apostrophiert worden ist, jedoch niemand, dem sein Gegenstand in den Knochen sitzt, noch immer und auch dann noch immer zu Recht, wenn der simple Antikommunismus zu seiner Waffe macht, was „Kommunisten“ auf ihr Gewissen geladen haben.

Jürgen Baberowski: Verbrannte Erde. Stalins Herrschaft der Gewalt, C. H. Beck, München 2012,
606 Seiten, 29,95 Euro