15. Jahrgang | Nummer 11 | 28. Mai 2012

Der Talleyrand der Berliner Opern

von Michaela Klingberg

Als der Intendant Heinz Tietjen 1953 mit dem großen Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland geehrt wurde, hatte er sich ein Vierteljahrhundert in drei politischen Systemen als Theaterleiter bewährt. Ob in der Weimarer Republik oder im Nationalsozialismus: Tietjen war der mächtigste Intendant in der Berliner Operngeschichte. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg deutete zunächst nichts auf einen Karriereknick hin, da der sowjetische Stadtkommandant Nikolai Erastowitsch Bersarin ihn zunächst zum „Leiter aller Operntheater der Stadt Berlin“ berief. Doch der Reihe nach.
Tietjen, 1881 im marokkanischen Tanger geboren, begann seine berufliche Laufbahn 1904 als zweiter Kapellmeister im Theater Trier und brachte es innerhalb von drei Jahren zum Direktor des Hauses. 1922, inzwischen war der gelernte Dirigent und Regisseur auch Intendant des Trierer Theaters, wechselte Tietjen nach Breslau.
Als das durch eine Betriebs-Aktiengesellschaft geführte „Deutsche Opernhaus“ 1924 Konkurs anmelden musste und kurze Zeit später in städtische Verwaltung überging, schlug die Berliner Stunde von Heinz Tietjen. An dem nunmehr in „Städtische Oper“ umbenannten Haus trat er seine erste Berliner Intendantenstelle an. Während die Städtische Oper in der Folgezeit, vor allem durch das Engagement des Generalmusikdirektors Bruno Walter, einen künstlerischen Aufschwung erlebte, sank das Niveau der Staatsoper beständig. Angelastet wurde das dem Intendanten Max von Schillings, dem Kultusminister Carl Heinrich Becker bereits im Mai 1925 Tietjen als Co-Intendanten zur Seite stellen wollte. Schillings lehnte diesen Versuch ebenso dankend ab, wie die ihm vom Ministerium nahe gelegten Engagements der Dirigenten Otto Klemperer und Bruno Walter. Max von Schillings bezahlte die Querelen mit seiner Entlassung und das Kultusministerium ernannte Tietjen im September 1926 zum Generalintendanten der Preußischen Staatstheater Berlins. In den folgenden Jahren entwickelte sich Tietjen zur zentralen Figur im Berliner Opernbetrieb. Die bis heute einzigartige Ämterhäufung erreichte ihren Höhepunkt 1927. Bis 1932 bekleidete Tietjen fortan auch die Position eines Ministerialreferenten im Preußischen Kultusministerium. Man stelle sich vor, der Generaldirektor der Opernstiftung Peter F. Raddatz wäre gleichzeitig in der Kulturverwaltung beschäftigt…
Eine „Arbeitsgemeinschaft“ sollte ab 1925 zu besseren Absprachen zwischen den Berlinern Häusern führen, was aber fast ausschließlich zu Lasten der Städtischen Oper ging. Generalmusikdirektor Bruno Walter warf daraufhin das Handtuch. Tietjen spielte ein doppeltes Spiel und betrieb in der Folge die Fusion zwischen Städtischer und Staatsoper. Das überrascht nicht, hatte er doch bereits vor seinem Amtsantritt in einem Papier darauf verwiesen, dass „für die Viermillionenstadt Berlin drei Opernhäuser nebeneinander, mit gleichem Spielplan und gleichen künstlerischen Zielen, zuviel sind“. In der Folge setzen Diskussionen um die Schließung eines Opernhauses ein. Zunächst war die Städtische Oper Favorit im Schließungsroulette, letztlich traf es die Krolloper. Generalintendant Tietjen hatte sich nach außen für deren Rettung eingesetzt, intern jedoch für eine Schließung votiert.
1931 erklomm Tietjen die nächste Stufe auf der Karriereleiter – er wurde (zusätzlich zu seinen anderen Ämtern) zum künstlerischen Leiter der Bayreuther Festspiele berufen. Winifred Wagner, eine Freundin Adolf Hitlers, hatte nach dem Tod ihres Mannes Siegfried im August 1930 die Leitung der Festspiele übernommen und Tietjen gegen anfängliche Anfeindungen von NSDAP-Funktionären vehement verteidigt, galt dieser doch einigen aufgrund seiner Beziehungen zum SPD-geführten Kultusministerium noch als „Linker“. Wagner schreckte das nicht. Sie arrangierte ein erstes Treffen zwischen Hitler und Tietjen. Über das Treffen existieren verschiedene Darstellungen Tietjens. In einer Nachkriegsversion hatte er mit Hitler „glücklicherweise niemals ein Wort gewechselt“. Auf dem Betriebsappell der Preußischen Staatstheater am 30. Januar 1936 führte Tietjen aus, ein erstes Treffen mit Hitler hätte es bereits im Sommer 1930 in Bayreuth gegeben, später habe „die Erkenntnis des Führers, dass das Herz des Hermann Göring auch etwas haben müsse, dazu geführt, dass Adolf Hitler die Souveränität über die Preuss. Staatstheater Hermann Göring übertragen hat. Hermann Göring übt seine Souveränität als Mäzen aus. Aber nicht als Zuschauer, sondern als General-Intendant (bin) ich stolz darauf, sein erster Adjudant zu sein (…)“.
Göring, der sich nach seiner Wahl zum Preußischen Ministerpräsidenten im April 1933 die Zuständigkeit für alle Preußischen Staatstheater festschreiben ließ, hatte Tietjen die alleinige Entscheidungsbefugnis bereits 1932 zugesichert. Tietjens seit 1926 bestehender Vertrag mit dem preußischen Staat lief zunächst weiter und wurde im Nationalsozialismus lediglich zweimal geändert – 1938 im Anschluss an den ablaufenden Dienstvertrag und im August 1944 (Verlängerung bis 1948!).
Dass Heinz Tietjen nach Kriegsende im Jahre 1948 noch einmal den Weg zurück auf die Intendantenbühne fand, verdankte er seiner geschönten Biografie und glücklichen Umständen. Zunächst schien es als sollte Tietjen seine Karriere ohne Komplikationen fortsetzen können. Nachdem Bersarin ihn am 15. Mai 1945 zum Interimsintendanten aller Berliner Operntheater ernannt hatte, legte Tietjen bereits am 30. Mai erste konzeptionelle Vorschläge vor. Er forderte die Zentralisierung aller Opern- und Konzertangelegenheiten, was ihm zusätzlich die Entscheidungsbefugnis über die Berliner Philharmoniker und alle anderen Orchester gesichert hätte. Nur neun Tage später war er seinen neuen Posten los. Seine Tätigkeit im Nationalsozialismus hatte ihm zunächst einen Strich durch die nahtlose Weiterführung seiner Karriere gemacht. Tietjen legte Einspruch ein und fuhr eine kluge Verteidigungsstrategie, die die Entnazifizierungskommission 1947 zu dem Urteil der „uneingeschränkten Wiederzulassung zu künstlerischer Tätigkeit“ animierte. Tietjen hatte sich geschickt zum Retter von jüdischen Künstlern stilisiert und befand sich seit 1934 angeblich selbst im Widerstand. Da hatte er, gemeinsam mit dem preußischen Finanzminister Johannes Popitz, beschlossen „bewusst auf unseren Posten zu bleiben, um aus unserer bisherigen Antipathie gegen das System in Aktivität überzugehen“. Popitz wurde wegen seiner Beteiligung am 20. Juli 1944 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt, für Tietjens Widerstandsthese finden sich bis heute keine Belege. Zwar hatte Tietjen einige seiner jüdischen Freunde beim Verlassen des Landes unterstützt, bei einigen Angestellten und Künstlern nahm er wissentlich deren Tod in Kauf.
Nachdem die Entnazifizierungskommission positiv für den ehemaligen Intendanten gestimmt hatte, oblag die endgültige Entscheidung über die Aufhebung des Berufsverbotes dem interalliierten „Cultural Affairs Committee“. Im Dezember 1947 wurde der Antrag von der Kommission, die aus Vertretern der vier Besatzungsmächte bestand, einstimmig abgelehnt. Unter normalen Umständen wäre Tietjens Schicksal damit besiegt gewesen, da eine Berufung nicht gestattet war. Nachdem der Städtischen Oper mit Michael Bohnen und Werner Jacob innerhalb kürzester Zeit allerdings zwei Intendanten aufgrund ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit abhanden gekommen waren, sollte der ausgewiesene Fachmann Tietjen zunächst „künstlerischer Mitarbeiter“ des Hauses werden. Merkwürdigerweise blieb eine Intervention dagegen aus und Tietjen wurde 1948 sogar wieder Intendant des Hauses. Mit seiner neuerlichen Ernennung hatte der wandelbare und anpassungsfähige Tietjen sein Ziel erreicht. Er blieb sechs Jahre in Berlin, bevor er seine Karriere an der Hamburgischen Staatsoper ausklingen ließ.