15. Jahrgang | Nummer 9 | 30. April 2012

Der Wunsch nach Wahrhaftigkeit: Das japanische Kaiserhaus

von Sandra Beyer

Es gilt als das älteste Herrscherhaus der Welt. Die Aussage ist so seltsam wahr, wie sie falsch ist. Denn das Kaiserhaus stammt mitnichten von der Sonnengöttin Amaterasu ab, sondern ist wohl eher koreanischen Ursprungs, noch hat es die längste Zeit seiner Existenz wirklich Macht über die Mauern des eigenen Palastes hinaus besessen. Es ist trotzdem das älteste Symbol und damit das beständigste Merkmal der Inselgruppe in Ostasien, die wir heute den Staat Japan nennen.
Belege dafür, dass der Urenkel der mythischen Urahnin noch vor unserer Zeit wirklich vom Himmel stieg, um das Reich zu gründen, gibt es nicht, dafür aber Gesetze um 700 u.Z., die die Herrschaft des Kaiserhauses mithilfe des festländischen Buddhismus an die Linie der Gottheiten binden sollte. Die ersten Chroniken des 6. und 7. Jahrhunderts schrieben die Genealogie der himmlischen Herkunft fest. Kaum hatte sich der Hof etabliert, scharten sich adlige Familien in der Gegend zwischen dem heutigen Kyoto und Osaka zusammen, und die Ländereien in den Provinzen wurden Kriegerfamilien als Lehen gegeben. So entmachtete sich der Adel in den nächsten Jahrhunderten selbst, und die Kaiserfamilie hatte nur bis ins 11. Jahrhundert wirklich regiert.
Das ist unter anderen Vorzeichen bis heute so geblieben, da der Kaiser erst den militärischen Führern, den Shogunen, die Regierungsmacht und ab 1868 den Oligarchen im neu benannten Tokyo übergeben musste. Der Tenno ist zwar seit der bedingungslosen Kapitulation und dem Ende der Besatzung nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr von Militärs umgeben, zu sagen hat er jedoch auch jetzt nichts. Japan ist eine parlamentarische Monarchie, das .heißt, der Kaiser verfügt über keinerlei konstitutionelle Rechte, die ihm als politisches Subjekt und als Mensch eine Stimme geben würden. Während die Monarchen in Asien Oberhäupter und Regierungschefs ihrer Länder sind, ist der Tenno nicht einmal wie in den europäischen Monarchien das Staatsoberhaupt. Er ist das Symbol des Landes, wie es die Verfassung von 1946 festschreibt, doch mehr als Repräsentation ist nicht seine Aufgabe. Das gilt für alle in der Kaiserfamilie, die seit der Besatzung nur aus den Nachfahren der männlichen Mitglieder besteht. Die Schwestern sowie die Tochter des jetzigen Kaisers heirateten Bürgerliche, da der Adel abgeschafft worden war, und wurden damit aus dem Palast ausgeschlossen. Das bedeutete auch die Trennung von der Familie als biologisch und emotional aneinander gebundene Menschen.
Im Nachgang der Dreifachkatastrophe vom 11. März 2011 wurde die Möglichkeit diskutiert, den weiblichen Mitgliedern, den Enkelinnen, ihre Titel zu erhalten beziehungsweise wiederzugeben und sie damit in der Familie zu belassen. Damit solle die Kernfamilie in ihren Repräsentationsaufgaben entlastet werden. Denn der Kaiser selbst ist herzkrank und nicht mehr der Jüngste.
Der Thronfolger hatte es seit seiner Hochzeit mehrfach gewagt, in der Öffentlichkeit zu seiner Frau Masako zu stehen, die mehrere Fehlgeburten erlitten hatte und seit acht Jahren unter Depressionen leidet. Für einen kurzen Moment atmete Japan auf und sah auf diese für das Land unglückliche Ehe, als 2001 die Tochter des Kronprinzenpaares, Aiko, geboren wurde. Es hätte einer einfachen Mehrheit im Parlament bedurft, um die Regelung, dass nur Männer den Chrysanthementhron besteigen dürfen, zu ändern. Der zweitgeborene Sohn des Kaiser verschob jedoch kurzerhand das Problem eine Generation nach hinten, als 2006 sein Sohn in eine ganze Generation von Prinzessinnen hineingeboren wurde. Vorherige Forderungen, der Thronfolger könne eine Konkubine haben, erscheinen nur auf den ersten Blick anachronistisch. In einem Haus, in dem die Herrscherlinie nur über das Konkubinat und die weibliche Linie so lange überleben konnte, ist das Hinzufügen einer zweiten Frau zum Gebären nicht allzu abwegig. Aber das würde im modernen Japan den Vorstellungen einer Ehe widersprechen. Denn auch in Japan wird aus Zuneigung zueinander geheiratet. Immerhin hielt der zukünftige Kaiser dreimal um die Hand der Diplomatentochter Masako an, bis sie sich überzeugen ließ, in den Palast zu ziehen.
Dessen Komplex selbst scheint uneinnehmbar und ist für die Öffentlichkeit nur zum Kaisergeburtstag und zu Neujahr für einen Blick auf die Kaiserfamilie geöffnet. Teile des großen Parks sind dann ebenso begehbar. In dem Areal leben das Kaiserpaar sowie die Familien der beiden Söhne in eigenen Palästen. Kommunikation findet in die Öffentlichkeit über das Hofamt sowie innerhalb über die Büros statt. Die Beziehungen zur eigenen Familie werden großgeschrieben, jedoch nicht zu den neu gegründeten Nebenfamilien. Diese sind eigene „Häuser“ und damit in der Verantwortung des jeweiligen männlichen Oberhaupts. So mochte es uns befremdlich erscheinen, wenn der Kaiser zu seiner Geburtstagsansprache am 23. Dezember 2010 über seine Sorgen wegen der gesundheitlichen und psychischen Probleme Prinzessin Aikos sprach. Jedoch sah der Kaiser als Großvater seine Enkelin das gesamte Jahr nicht persönlich, weil dies in der Kaiserfamilie nicht üblich ist. Im Gegensatz zur englischen Königin, die den zweiten in der Thronfolger, Prinz William, ihren Lieblingsenkel nennt und ihn auch privat in den Räumen ihrer Paläste trifft, ist ein Leben als Privatmenschen für die japanische Kaiserfamilie nicht vorgesehen. Das Hofamt tritt als Sprachrohr und als Büro für Öffentlichkeitsarbeit des Palastes auf. Es ist die einzige Verbindung vom und zum Kaiser. Seit 2001 untersteht es dem Sekretariat des Premierministers, wodurch der Kaiser und die beiden Häuser der Prinzen zu Ausführenden einer mittleren Behörde wurden. Das Tragische daran ist, dass niemand diese kontrolliert. Während es seit den Wahlen 2009 bereits den dritten Premierminister gibt, bleiben die Behörden davon unberührt.
Diese Gleichsetzung von Familie und Firma hat in der europäischen und amerikanischen Wahrnehmung schon oft zu Paranoia geführt. In den neunzehnhundertachtziger Jahren fürchteten sich die USA vor der wirtschaftlichen Übernahme durch die „gelbe Gefahr“. Seit März 2011 sind die Bilder von einer gleichgeschalteten Masse und den Samurai im Anzug aus der Mottenkiste geholt worden. Sprechen wir über Japan, sehen wir kein Land von Inseln mit 130 Millionen unterschiedlichen Menschen darauf, sondern den Japaner an sich. Unser spätkolonialistischer Rassismus lässt uns nicht verstehen, dass es an Japan nicht mehr zu verstehen gibt als an uns selbst. Das macht das Kaiserhaus als Symbol für Stabilität und jahrhundertelange Kontinuität so wichtig und so anachronistisch. Die Forderungen an den kapitalistischen Menschen, menschliche Bedürfnisse zu haben und für deren Erfüllung alles zu tun, ist bei einem reinen Symbol wie dem Kaiserhaus verfehlt. Der Kaiser ist der liebevolle und warmherzige Opa hinter Palastmauern für das Land, nicht für seine Enkelin.
Dem Japaner an sich wird gerade in wirtschaftlichen Zusammenhängen gern Doppelgesichtigkeit vorgeworfen. Zu glauben, dass es einen Unterschied zwischen draußen und drinnen gibt, ist ein (mutwilliges) Missverständnis. Drinnen (uchi) und Draußen (soto) sind keine Gegensätze, es sind zwei Seiten einer Medaille. Es gibt keinen wahrhaften, authentischen Kern, der durch eine Fassade geschützt oder versteckt werden muss. Drinnen und Draußen sind Beziehungen, die sich nach Situationen richten. Der Kolonialismus brachte eine als westlich verstandene Innerlichkeit im 19. Jahrhundert auch nach Japan. Dort war sie nur in jener romantischen, das einzelne (männlich, weiße) Individuum betonenden Form neu. Gefühle miteinander und zueinander waren für die Menschen auch vorher wichtiger gewesen als hierarchische Strukturen. Doch die Individualisierungen führten vor allem in der Literatur um 1900 und nach 1945 zu dem Glauben, dass Innen und Außen, Familie und Arbeitsplatz, Beruf und Berufung das Gleiche sein müssen. Für diese Sehnsucht nach Harmonie und wahrhafter Beständigkeit steht nun ausgerechnet das Kaiserhaus. Dass es sich bei diesem Symbol auch um Menschen handelt, ist die Tragik des ältesten Herrscherhauses der Welt. Doch die Profanität des Fernsehens verbietet es, ihr Schicksal wie das ihrer göttlichen Vorfahren in großen Melodramen in Fujicolor oder Digital zu zeigen. Das ist schade, denn diese Tragik hätte einen zynischen Hang zur Komik.