15. Jahrgang | Nummer 6 | 19. März 2012

Querbeet (VII)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal eine tierische Entdeckung, eine obszöne Kulturgeldverschwendung, ein robust versorgter Volksbühnen-Boss, Hallesches Theaterglück, türkische Selbstkritik sowie ein Polizist, der mit „eins-eins-null“ ein cooles Buch macht.

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Wie süß: Lustig aufgespannte Lauscher vorn, keck aufgestelltes Punker-Haar hinten. So schnüffelt gut getarnt ein Mix aus Spitzmaus und Schildkröte durchs Trockengras. Und ich hab’s entdeckt: Ein Gürteltier! Alle anderen sind vorbei gelatscht. Tja, der trainierte Theaterblick: Immer das kunstvoll Versteckte finden. – Addios Schnuffel, addios Patagonien: Weiter bis Kap Hoorn. Weltendegefühl, Südpolsehnsucht. Dann im Flieger nach Norden. Abwurf ins staubige Nichts. Vulkankegel am Horizont: Atacama. Die trockenste Wüste der Welt, wo alle paar Jahre eine Kaffeekanne voll Wasser vom Himmel fällt. Als wir wie im Science-Fiction-Film durch die Mondlandschaft staksen: Sonnenuntergang. Und Regenbogen. Tatsächlich tropft just in diesem Moment die eine kostbare Kanne! Wahnsinn! – Da kutschiert man für Unsummen erst um die halbe Welt, dann durch Argentinien und Chile, aber was sich einhämmert vom großen Welttheater zwischen Gletschereis und Wüstensand: Das Kännchen Regenwasser; das Gürteltier. Nochmal Wahnsinn!

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Selbstverständlich hängt auch hoch in den Anden 2500 Meter überm Pazifik die zünftige Lehmhausherberge von San Pedro im Netz. Und im Laptop die Nachricht: Der Berliner Senat hat Frank Castorfs Vertrag als Volksbühnen-Boss bis 2016 verlängert. Endlich! Die Monatsgage von geschätzt 20.000 Euro ist garantiert bis zur Rente. Und weil zufällig gerade die Intendanz des Berliner Gorki-Theaters frei wurde, wollte sich der fett versorgte Großintendant die kleine Hütte gleich einverleiben. Als hübsches Zubrot. Ein derart robuster Erwerbstrieb verdatterte selbst den Kultursenator. Augenverdrehen, Abwinken.
War es der Ärger übers verweigerte Extra oder bloß Langeweile („Unsere Theaterlandschaft ist längst volksbühnisiert, da gibt’s nichts Neues zu erfinden.“): Die erste Castorf-Premiere „Die Marquise von O.“ nach Unterzeichnung des Bis-zur-Rente-Abkommens war nichts als Krampf. Mit ein bisschen Kartoffelsalat, viel lebendem Viehzeug (Pferd, Hund, Huhn), mit lauem Zynismus, faden Ferkeleien, herumlungernden Starschauspielern sowie ausgeleierten Selbstzitaten. Die Unlust am Kleist-Text gähnte, die am Regieführen grinste. Olle Castorf (61) ausgebrannt? Dabei muss er noch vier Spielzeiten lang kokeln. Bloß mit Gähnen und Grinsen und ohne heftige Flammenwürfe wird das nicht gut gehen.

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Ein anderer Groß-Zocker der Hochsubventions-Branche ist Jürgen Flimm, Chef der Berliner Staatsoper und einst, so er selbst, sich (wie heute Castorf) für sattes Honorar schwer langweilender Festspielintendant von Salzburg. Aus diesen alten, teuren aber öden Zeiten stammt Katie Mitchells videogestützte Inszenierung von Luigi Nonos gigantomanisch-sentimentalem Requiem auf prominente Frauen der kommunistischen Revolution: „Al gran sole carico d’amore“. So gespreizt wie der Titel war die Produktion, die Flimm jetzt wieder aufwärmte. In einem ausgedienten Berliner Kraftwerk. Wofür er in die Riesenhalle extra ein Theater setzen ließ. Und ein Gourmet-Restaurant dazu. Für luxuriöse Pausen-Erquickung. Weil dieser Edel-Event selbst den Staatsopern-Etat überfordert, machte der Senat flugs schlappe 215.000 Euro locker. Aus dem für derartige Extras niemals vorgesehenen Hauptstadt-Kulturfonds. Proteste wurden arrogant verlacht. Sozialdemokratisch-spießige Kulturpolitik, die einer sich in ranzigem Avantgardismus suhlenden Bussi-Bande einen sauteuren Glitzer-Laufsteg baut. Für sage und schreibe fünf Vorstellungen.

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Nun fehlt das frech in die Luft geschmissene Geld der freien Szene, für deren besondere Erfindungen besagter Fonds löblicherweise einst eingerichtet wurde. Die innovative Nachwuchsentwicklung muss halt sehen, wo sie bleibt. Wie das Theater unterm Dach im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Dort verhalf Chefin Liesel Dechant der tollen Schauspielerin Anja Schneider vom Gorki-Theater zum bravourösen Regie-Debüt mit einem Wolfgang-Hilbig-Projekt „Nachtgeschwister“. Thema: Lust und Leid einer Liebe zwischen Dichter und Dichterin im geteilten Deutschland. Ein komplexes Thema signifikant auf die Glücks- und Schmerzenspunkte gebracht. Schlimmes schönes Ding. Tragödie und Groteske in wilder Zweisamkeit. Ohne monetäre Sondermittel. Mit Selbstausbeutung aller Beteiligten, was keinen Kultursenator juckt. Doch die Szene tobt trotzdem. Und ringt tapfer ums Überleben. Wie auch die von Gabriele Streichhahn konservativ literarisch dirigierte Berliner Kleinstbühne Theater im Palais; quasi ein Gegenstück zu Dechants eher experimentellem Etablissement. Im alten Palais in Sichtweite von Unter den Linden wird zudem exzellente Schauspielkunst zelebriert. Da hat Monika Lennartz, jahrzehntelang ein Fixstern im ostdeutschen Spielbetrieb, ein feinnerviges Solo als eine an Alzheimer erkrankte Rentnerin. In der Uraufführung des Monologs von Amanita Muskaria „Die Reise nach Buenos Aires“. Unvergesslich; wie so viele Rollen der großen Lennartz.

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Als Student in Leipzig kam Peter Sodann in den DDR-Knast. Sein Uni-Kabarett war zu aufmüpfig. Später bastelte er als durchtrieben pfiffiger Theatermacher in Halle aus einem alten Kino und ruinösem Tanzschuppen ein Theater, das er, noch zu DDR-Zeiten und halblegal, zur „Kulturinsel“ ausweitete. Mit Kneipe, Studio, Bibliothek, Hotel. Die nach 1990 zur sehenswert blühenden Landschaft sanierte Altstadt Halle machte auch vor dieser Insel nicht halt; Sodanns Theater-Imperium wurde noch größer, noch erfolgreicher. Jetzt ist Matthias Brenner der Boss. Und macht trotz üblich knapper Kasse ein prima Stadttheater mit kleinem Klasse-Ensemble und – mit vernünftigem Pluralismus – ganz unterschiedlichen Regisseuren. Die arbeiten teils „voksbühnisiert“, teils in geschlossener Erzählweise. Beispiel eins: Eine verrückte, dennoch für jedermann verständlich aufgebrochene Ibsen-Adaption von Martina Eitner-Acheampong. „Ein Volksfeind“, das Urstück über (politischen) Opportunismus, spielerisch ins Gegenwärtige verrückt. Neuer Titel: „Un-Gehorsam“. – Daneben Beispiel zwei: Präzises Einfühlungs- und Schauspielertheater mit dem Fassbinder-Psychothriller „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ (Regie: Maik Priebe). Hin nach Halle!

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Das Innenministerium lieferte soeben eine strittige Studie, nach der ein beträchtlicher Teil unserer migrationshintergründigen Jugend sich dem militanten Islam verschrieben hätte, große Abneigung gegenüber dem Westen pflege, Gewalt akzeptiere und „ohne Integrationstendenz“ sei. Dazu liefert das „postmigrantische“ Berliner Theater Ballhaus Naunynstraße einen aufregenden Kommentar mit dem Doku-Projekt „Paragraph 301 – Die beleidigte Nation“. Der nämlich stellt „Herabwürdigung des Türkentums“ unter Strafe. Bis zu zehn Jahren.
„Paragraph 301“ handelt von dem türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink, der 2006 zu sechs Monaten auf Bewährung verurteilt und später von einem rechtsradikalen Jugendlichen ermordet wurde. Das performative Projekt dokumentiert türkische Innenansichten, zu denen auch Interviews und beliebte TV-Talkshows gehören. Gerade die strotzen vor nationalistisch-rassistischen Ehre-Blut-und-Boden-Tiraden. Ein größenwahnsinniger Goebbels-Ton als herrisches Alltagsbewusstsein wohl nicht weniger türkischer Normalos. Wer das Nest besudelt, sich nicht einpasst, der kriegt das Messer. Ein kompakter Kurzlehrgang in Sachen faschistoidem Türken-Machismo. Geht unter die Haut. Beschreibt entsetzliche Psychosen; liefert – selten genug – kritische türkische Nachdenklichkeit. Mutig! Ein Muss für uns alle.

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Er sieht super aus, ist „Bulle“ und schon sein Name ist Programm: Cid Jonas Gutenrath. Der Hamburger Kerl mit Bart, Charakterschädel, Kindern und Ehefrau war zunächst Türsteher im Puff-Betrieb, dann Marinetaucher, Bundesgrenzschützer und schließlich Polizist in der Einsatzzentrale Berlin-Tempelhof. Aus seinen Erfahrungen am Notruftelefon hat er ein bewegendes Buch gemacht: „110 – Ein Bulle hört zu“ (Ullstein). Großartig. So ist das Leben. Die 382 Seiten liefern Plots für gut ein Dutzend ARD-Tatorte. Und sind Pflichtlektüre für alle, die noch immer Polizeibeamte notorisch als „Bullen“ beschimpfen. Bis zum nächsten Querbeet.