15. Jahrgang | Nummer 3 | 6. Februar 2012

Gorbatschow. Mensch und Macht

von Gisela Reller

Mensch und Macht – so der Untertitel der Gorbatschow-Biografie des in Berlin lebenden ungarischen Autors György Dalos. Auf dem Gipfel der Macht ist der einstige Bauernsohn Michail Sergejewitsch Gorbatschow, als er im Oktober 1988 zum Staatschef der UdSSR gewählt wird. Anlässlich einer Begegnung erzählt ihm wenig später der kirgisische Schriftsteller Tschingis Aitmatow ein orientalisches Gleichnis über einen großen Herrscher und einen weisen Propheten: Der weise Prophet, ein enger Vertrauter des Herrschers, sagt, dass ihm zu Ohren gekommen sei, dass der Herrscher davon träume, seinem Volk die Freiheit zu schenken. Nach einer Weile des Schweigens meint der Prophet, eine so löbliche Absicht erhöhe den Herrscher zwar zu einer Gestalt, die Göttern gleiche, doch er müsse wissen, dass der eine Weg zu herrschen darin bestehe, sich an die Traditionen der Vorgänger zu klammern und unerbittlich daran festzuhalten. Der andere aber, den er zu wählen beabsichtige, der Weg des Märtyrers sei. „Du musst wissen, großer Herrscher“, sprach der Prophet, „dass sich die Freiheit, die du gewährst, als krasser Undank derer, die die Freiheit erhalten, gegen dich wenden wird. Viele deiner zu Anfang getreuen Mitstreiter werden unverhüllt dreist werden, und du wirst, großer Herr, bis ans Ende deiner Tage Kummer und Erniedrigung erfahren.“ Ins Grübeln gekommen, antwortete der große Herrscher dem weisen Propheten: „Warte hier an meinem Hof sieben Tage. Ich will über deine Worte nachdenken.“
Das Buch „Gorbatschow. Mensch und Macht. Eine Biografie“ von Dalos ist keine Biografie im Sinne einer Lebensbeschreibung. György Dalos – Jahrgang 1943, fünf Jahre Geschichtsstudium in Moskau, 1968 Ausschluss aus der Ungarischen Kommunistischen Partei, zwei Jahrzehnte mit Berufsverbot belegt, Mitbegründer der demokratischen ungarischen Oppositionsbewegung – hat den Schwerpunkt auf die ereignisreichen Jahre 1985 bis 1991 gelegt und untersucht, was die Macht aus einem Menschen macht, und was der Mensch Gorbatschow mit der Macht macht.
1985: Gorbatschow wird im März zum Generalsekretär des ZK der KPdSU gewählt. „Der Augenblick, in dem er unter dem Jubel der mehr als vierhundert ZK-Mitglieder den Beratungssaal betrat, gehörte sicher zu den glücklichsten seines Lebens.“ Das Erbe jedoch, das Gorbatschow von seinen Vorgängern übernommen hatte, war teuflisch: Da sind zurückgebliebene, stagnierende Industrie und Landwirtschaft, mangelhafte Versorgung der Bevölkerung, ein mörderischer Rüstungswettlauf. Da sind die Mittelstreckenraketen SS-20 („ein Albtraum für den dichtbesiedelten [europäischen] Kontinent“). Da tobt in Afghanistan seit 1979 ein Krieg, der jährlich mehr als drei Milliarden Rubel verschlingt. Die Maßnahme zur Überwindung der Trunksucht und des Alkoholismus ist erfolglos. „Wer annimmt, dass die Massenproduktion von Alkoholischem dem Staatshaushalt nur Gewinn bringe“, nehme zur Kenntnis, dass Ende der siebziger Jahre vierzig Milliarden für Alkohol ausgegeben wurden, die Kosten wegen des vom Alkohol verursachten Produktionsausfalls, der Behandlung der Alkoholkranken und der Betriebsunfälle dagegen sechzig Milliarden Rubel betrugen. „Insofern war die [von vielen geschmähte] Kampfansage an das soziale Übel des Alkoholismus voll begründet.“ Im November 85 – zum ersten Mal seit der Kuba-Krise 1962 schien „ein Atomkrieg nicht mehr ganz unmöglich“– erfolgte ein erstes Gipfeltreffen mit dem US-Präsidenten Reagan in Genf.
György Dalos schildert in seinem Buch sehr spannend, wie sich Gorbatschow zu den gravierenden Ereignissen der Jahre 1985 bis 1991 verhielt: Das reichte von der Katastrophe im Atomkraftwerk Tschernobyl 1986 bis zur Rückkehr des verbannten Bürgerrechtlers Andrej Sacharow;  vom sowjetisch-amerikanischen Abkommen über die Beseitigung der in Europa stationierten Mittelstreckenraketen 1987 bis zum Truppenabzug aus Afghanistan 1988. Behandelt werden der Ausbruch des territorialen Konflikts zwischen armenischer und aserbaidshanischer Sowjetrepublik wegen der Enklave Berg-Karabach und der Abzug von Teilen der sowjetischen Streitkräfte aus Osteuropa, die Blutbäder der Armee in Tbilissi und Baku bei Unabhängigkeitsdemonstrationen, der Zusammenbruch des Ostblocks und die sowjetische Einwilligung in die deutsche Wiedervereinigung. Und schließlich die Auflösung des Warschauer Paktes, der Zerfall der Sowjetunion und Gorbatschows Rücktritt von seinen Ämtern als Generalsekretär und Präsident.
György Dalos hat diese dramatischen Jahre in neun Kapiteln, einem Prolog und einem Epilog kundig aufbereitet und zusammengefasst, oft mit Details, die nicht allgemein bekannt sind. So wusste ich zum Beispiel nicht, dass am 7. November 1990 ein Attentat auf Gorbatschow verübt worden war, dass im Verbannungsort Sacharows erst eine Telefonleitung verlegt werden musste, damit Gorbatschow mit dem „Staatsfeind“ telefonieren konnte, dass Raissa Gorbatschowa ihren Mann durchaus nicht nur ins westliche Ausland begleitet hatte, sondern mit ihm nach der Atomkatastrophe auch in Tschernobyl war. Die Ärzte meinen, dass darauf ihre Leukämie–Erkrankung zurückzuführen sei, an der sie 1999 starb. Erstaunlich jedoch, dass der Besuch Gorbatschows im Vatikan im Dezember 1989 keine Rolle spielt, obwohl Gorbatschow einmal sagte: „Der Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs wäre ohne Johannes Paul II. nicht möglich gewesen.“
Während Gorbatschow im Ausland zur Ikone wurde, verlor er in seinem Land – in dem man während seiner Regierungszeit oft nicht einmal Brot und Zucker kaufen konnte – zunehmend Prestige und Macht, was im Dezember 1991 zu seinem Scheitern führte. Als ich 1989 dienstlich in Moskau weilte, dämpfte meine Freundin Nina meine Schwärmerei für „Gorbi“ mit den Worten: „Jetzt können wir zwar bellen, aber zu beißen haben wir nichts.
Dalos schreibt (die ausgezeichnete deutsche Bearbeitung erfolgte durch Elsbeth Zylla) über Michail Gorbatschow als politische Ausnahmeerscheinung, dessen Politik von Perestroika, Glasnost und Neuem Denken das Weltgeschehen der späten achtziger und frühen neunziger Jahre nachhaltig prägte. Dass auch der Zerfall der Sowjetunion mit seinem Wirken zusammenhängt, war von Gorbatschow nicht beabsichtigt. In seinem autobiografischen Buch „Über mein Land“ gesteht er: „Die Tatsache, dass es mir nicht gelang, das Land zusammenzuhalten, ist mein größtes Unglück und bereitet mir den größten Kummer.“
Dalos zitiert ausführlich aus Gesprächsprotokollen der Politiker-Elite, aus Reden und Schriften – allerdings ohne zuzuordnende Quellenangaben; ein Literaturverzeichnis macht diesen Mangel nicht wett. Es enthält aber eine sehr hilfreiche Zeittafel zur politischen Laufbahn von Michail Gorbatschow und ein penibles Namensregister. Als Mangel empfand ich, dass keine persönliche Begegnung zwischen Gorbatschow und Dalos stattgefunden hat … So ist das Buch „nur“ eine enorme Recherchearbeit über den manchmal doch zu zögerlichen Politiker und den harmoniebedürftigen Menschen mit schlechter Menschenkenntnis. Ob sich ein Zwanzigjähriger aber vorstellen kann, was Gorbatschow für die Sowjetunion und für die Welt bedeutete? Im Februar 2011 äußerte sich Gorbatschow in einem Interview mit der russischen Zeitung „Nowaja Gazeta“ zu den Gegnern seiner Politik: „Damals haben wir die Freiheit geschaffen, die die Menschen heute genießen, wenn sie in die Kirche gehen, Visa beantragen, im Internet surfen oder unabhängige Zeitungen lesen.“
Am 22. August 1991 fand eine Begegnung des Friedensnobelpreisträgers Elie Wiesel mit dem Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow statt. Wiesel, ein Überlebender des Holocausts, schrieb darüber in einer japanischen Zeitschrift: „Ich habe noch nie einen so einsamen Menschen gesehen…“ Zu dieser Zeit hat Michail Gorbatschow an seiner Seite nur noch seine Frau Raissa Maximowna („Die Beziehung zwischen Raissa und Michail war von Anfang bis Ende die seltene Symbiose von Menschen, die für Freud und Leid ein gemeinsames Konto haben.“), seine Tochter Irina, die Enkel Xenija und Nastja und seine 1992 gegründete Moskauer Gorbatschow-Stiftung. 1996 scheiterte er bei dem Versuch, als Präsidentschaftskandidat in die Politik zurückzukehren. Dennoch – wer sich mit russischer Literatur beschäftigt, stößt immer wieder auf seine Perestroika, denn sie hat ungezählten Schriftstellern die Veröffentlichung ihrer Werke ermöglicht.

György Dalos: Gorbatschow. Mensch und Macht. Eine Biografie, Verlag C. H. Beck, München 2011, 288 Seiten, 19,95 Euro

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