14. Jahrgang | Nummer 25 | 12. Dezember 2011

Querbeet (IV)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal rokoköse Basteleien, ein sympathischer Vaterlandsverräter, ein grauenvoller Tugendbold, ein Unsterblicher und Papierschnee.
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Thüringen, Saaletal, Dornburger Schlösser, Heidecksburg. Ach, Heidecksburg! Grandioser Hingucker, verführerischer Herlocker. Deshalb: Stippvisite in Rudolstadt zu Füßen der barocken Wuchtbrumme; 60 Meter überm Saale-Spiegel. Schon Schiller war angetan; anno 1887. Und noch dazu von zwei hier lebenden Schwestern: Caroline die eine, unfroh verheiratet; Charlotte die andere, noch ledig. Der Star-Dramatiker (28, „Die Räuber“), ohnehin kein Kostverächter, verknallte sich prompt in beide. Und die in ihn. Das Trio erwägt einen Lebens-Dreier; doch Charlotte bekam den Trauring. Caroline war stinksauer.
Rudolstadt – ein Schicksalsort Friedrich Schillers. Das kleine, chic-charmante Museum im Haus von dessen Schwiegermama gibt Stichworte für anrührendes Gedenken, die angeschlossene Restauration Anlass zum Naschen und Schlucken. Dann hinauf zur Burg: Prunk gucken, Fernsicht glotzen. Und etwas kostbar Kurioses bestaunen: Die sensationelle Ausstellung „Rococo en miniature“ in der Ex-Hofküche. Da toben tausende Figürchen in pittoresken Alltagsszenen durch opulent höfische Kleinstarchitekturen. Grandios millimetergenau gefummelte Bastelarbeiten aus Draht, Pappe, Leim, Gips. Ein aus Freizeit-Jux mit Lupe und Pinzette entstandenes, grotesk lästerliches Historical der beiden Künsthandwerker Gerhard Bätz und Manfred Kiedorf; gewuchert in den letzten 50 Jahren. Das tollste Groß-Spektakel im Kleinstformat, das mir je vor die Pupillen kam.
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Wer kennt noch „Kohlenkutte“ oder „Transportpaule“? Zwei saftige Typen aus dem ruppigen Reich der DDR-Arbeiterklasse auf dem befohlenen Weg vom Ich zum Wir – ohne unterwegs ihr Ich im Wir gänzlich unter zu buddeln. Kutte & Paule sind dem Leben abgelauschte, dann für die zensierte sozialistische Gegenwartsliteratur halbwegs zurechtgestutzte Figuren des „Arbeiterschriftstellers“ Paul Gratzig. Der blauäugige, lebensgierige Kerl, Jahrgang 1935, ist ein vaterloses Kriegs- und Flüchtlingskind. Im DDR-Bildungswesen, das dem unteren Stande sonderlich zugetan, fiel es durch Grips und Schreibgeschick auf – und wurde überschüttet mit Förderung. Ein Segen, der dankbar machte: Als Genosse, als Stasi-Spitzel. So ging das seinen sozialistischen Gang: Kulturarbeiter, Autor, Veröffentlichungen, Uraufführungen, Frauen, Kinder; dann die Skrupel, das Neinsagen, die Ungnade. Dann Ex-Genosse, SED-Opfer. Der so idealistische wie einzelgängerische Dickschädel lebt ein mit Widersprüchen prall gefülltes Leben in Lust und Bitterkeit, so euphorischer wie dummer Anpassung und schließlich schmerzlich sturer Abgrenzung. Die Dokumentarfilmerin Annekatrin Henkel hat alles sensibel schonungslos ins Bild gesetzt; gestützt auf Interviews mit Weggefährten, Verwandten, dem Stasi-Führungsoffizier sowie auf spröde Gespräche mit Gratzig, dem fast 80jährigen Grantler, der heute aus Daffke einsam in den Weiten der Uckermark wohnt. Das zu Herzen gehende, übers Individuelle weit hinaus reichende Porträt trägt den so passenden wie nicht passenden Titel „Vaterlandsverräter“. Eine Schicksalserzählung. Ein Epochenbild.
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Einem anders widerspruchsvollen Schicksal geht der Berliner Schauspieler Matthias Neukirch im Studio Box des Deutschen Theaters nach: spielerisch-dokumentarisch im kleinen Kreis, dem Publikum, mit dem Neukirch auf Augenhöhe am Tisch sitzt. Es geht um Hans Schleif, Neukirchs Großvater, erfolgreicher Architekt und Archäologe (Olympia-Ausgrabung). Ein Intellektueller, ehrgeizig, politisch indifferent, der schließlich direkt unter SS-Reichsführer Himmler Karriere machte. Briefzitat: „Nun wird’s wohl klappen, wie immer in wirklich guten Zeiten siegt die Tugend.“. Der Sieger endete als KZ-Baumeister. Ende April 1945 erschoss er sich. Neukirchs Recherche, unangestrengt und gerade dadurch schwer beklemmend, ist der packende Versuch, anhand von Familiendokumenten zu ergründen, wie es geht, dass ein kluger Kopf aus tief bürgerlichem Anstands-Milieu zum Verbrecher wird. Und wie sie sich diese Tragödie im ganz Alltäglichen zusammenzieht. Etwas Furchtbares, lapidar aufgeblättert. Ein netter, ein grauenvoller Tugendbold „in wirklich guten Zeiten“.
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Jetzt erst, 56 Jahre nach Hitler, wurde aus Anlass des 200. Todestages von Heinrich von Kleist ein Nazi-übliches Stückchen Antisemitismus beseitigt: Der Gedenkstein am Kleinen Wannsee in Berlin, wo der Dichter erst seine krebskranke Gefährtin Henriette Vogel, dann sich selbst am 21. November 1811 erschoss – dieser grobe Steinklotz trug einst die Inschrift des Dichters Max Ring: „Er lebte, sang und litt in trüber, schwerer Zeit. Er suchte hier den Tod und fand Unsterblichkeit.“ Ring war Jude, seine Zeilen mussten weg. Jetzt endlich wurden sie aufs Neue eingemeißelt: Für die Ewigkeit (hoffentlich!). Und die Unsterblichkeit – von Kleist und auch Max Ring.
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Der Staat gleiche einer „durchbluteten Maschine“, meint Kleist in schlagender Doppeldeutigkeit. Zum Gedenken an dessen Tod vor zwei Jahrhunderten kamen in Berlin jetzt alle seine Stücke zur Aufführung: nicht als gigantische Sprachkunstwerke (die sie auch sind), aber als philosophisch bohrende, gelegentlich auch verbohrte Fragespiele, garniert mit drastischem Fantasy- und Psychothrill und oft geradezu extrem-zirzensisch arrangiert: Kleist-Performances, Kleist-Werkstätten. Kleist also lebt; rätselhaft und wie verrückt. Und wir rackern uns an ihm ab; unentwegt mit erschaudernder Lust.
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Weil Weihnachten bevorsteht, rieselt im Berliner Friedrichstadt-Palast leise der Schnee. Der denkbar einfachste, denkbar herrlichste Theatereffekt im Riesensaal. Und über die immerhin weltweit größte Revue-Bühne schweben massenhaft wundersamste Gestalten, längste Beine oder süßeste Engel mit aller Arten Flügel. Eine säkulare Jahresend-Messe voll von immer sagenhafteren Überraschungen, gemixt aus so noch nie geschauter High-Tech-Raffinesse sowie zart kindlicher Verspieltheit. Und minutenlang wirbelt Seidenpapierschnee durch magisch blaues Licht – da geht ein Juchzen durch den Raum.
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Jetzt noch ein Wutschrei in die stille Nacht: Der Titel „Bester Europäischer Film“ für das mit „Tristan“-Akkorden verschmierte Hochglanz-Weltuntergangsdelirium „Melancholia“ von Lars von Trier ist die reine Blödigkeit des Kritiker-Gewerbes im abendländischen Lichtspielgeschäft. Aber 2012 wird alles besser. Prosit Neujahr! Und dann das nächste Querbeet.