14. Jahrgang | Nummer 12 | 13. Juni 2011

Mord an einem Philosophen

von Mathias Iven

„Plötzlich lautes Rufen, mehrere Schüsse, Schreie gellen durch das hohe Stiegengebäude. Ich drücke Inges Arm so fest, dass sie schreit, und sage: ,Das hat Schlick getroffen!‘ Über das Stiegengeländer gebeugt, sehe ich ihn unten auf dem Rücken liegen. Ohne mich zu bedenken, laufe ich zu ihm hinunter – in meiner Erregung sehe ich den Mörder nicht. Ich beuge mich über den Kopf des Liegenden. Seine Miene ist streng verschlossen, abweisend, vermutlich leidet er starke Schmerzen. Menschen umringen uns, er wird aufgehoben und die Stiege hinauf getragen. Ich hebe seinen Hut auf und trage ihn hinterdrein. An der Tür zu den Dekanatsräumen nimmt man mir den Hut aus der Hand, die Tür schließt sich.“ – Traude Cless-Bernert, ehemals Studentin an der Wiener Universität, sollte den 22. Juni 1936 nie vergessen, den Tag der Ermordung des Philosophen und Physikers Moritz Schlick. Die Tat, ob politisch motiviert oder die Aktion eines geistesgestörten Psychopathen, erregte und entzweite die Wiener Öffentlichkeit. Verurteilten die einen den Attentäter Johannes Nelböck, einen ehemaligen Studenten Schlicks, so sahen die anderen darin einen ersten Schritt zur „wirklich befriedigenden Lösung der Judenfrage“. Vor allem aber schien für jene ein Mann beseitigt worden zu sein, dessen philosophische Überlegungen „die pure Negation“ allen Denkens waren.
Moritz Schlick wurde am 14. April 1882 in Berlin geboren. Ab dem Herbst 1888 besuchte er zunächst das in Berlin-Mitte gelegene Königstädtische Gymnasium, drei Jahre später wechselte er in das Luisenstädtische Realgymnasium. Schon früh fand er den Weg zur Musik, Malerei und Wissenschaft. Am 17. Oktober 1900 immatrikulierte sich Schlick an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Er belegte Lehrveranstaltungen zur Physik, Mathematik, Chemie und Philosophie. Für je ein Semester ging er nach Heidelberg und Lausanne. 1904 wurde er mit einer Arbeit auf dem Gebiet der klassischen Strahlenoptik von Max Planck promoviert. Er setzte seine Studien in Göttingen fort, hatte jedoch, wie er sich später erinnerte, mit der physikalisch-experimentellen Arbeit nur wenig Glück: „Wochenlang auf die Fertigstellung irgend eines Apparatteiles durch eine säumige Firma warten zu müssen, erschien mir unerträglich, und ich floh aus dem Laboratorium in meine philosophische Studierstube und ins Freie.“ Nach einigen Monaten erfolgte schließlich die endgültige Abkehr von den exakten Wissenschaften.
Im Herbst 1907 veröffentlichte Schlick sein erstes Buch: „Lebensweisheit. Versuch einer Glückseligkeitslehre“. Zur gleichen Zeit heiratete er und ließ sich in Zürich nieder. Er schrieb sich als Gasthörer an der Universität ein und beschäftigte sich vor allem mit dem Studium der Psychologie. Doch es sollten noch ein paar Jahre vergehen, bis sich für Schlick endlich die Möglichkeit einer akademischen Karriere eröffnete. Anfang 1911 reichte er seinen im Jahr zuvor veröffentlichten Aufsatz „Das Wesen der Wahrheit nach der modernen Logik“ als Habilitationsschrift an der Rostocker Universität ein, ihm wurde die venia legendi erteilt und am 29. Juni 1911 hielt er seine Antrittsvorlesung unter dem programmatischen Titel „Die Aufgaben der Philosophie der Gegenwart“. 1917 erschien „Raum und Zeit in der gegenwärtigen Physik“, einer seiner einflussreichsten Texte. In dieser Schrift beschäftigte sich Schlick als einer der ersten Philosophen mit der Einsteinschen Relativitätstheorie. Kurz zuvor hatte er bereits sein philosophisches Hauptwerk abgeschlossen: In der kriegsbedingt erst 1918 veröffentlichten „Allgemeinen Erkenntnislehre“ entwickelte Schlick systematisch seine Auffassung zum Wesen der Erkenntnis und ging Fragen der Denk- und Wirklichkeitsprobleme nach.
Nach wiederholten Zurückstellungen wurde auch Schlick in das Weltkriegsgeschehen einbezogen. Im März 1917 trat er seinen Dienst in der am Stadtrand von Berlin gelegenen Flugzeugmeisterei Adlershof-Johannisthal an. Er versuchte, sich mit der Situation so gut es ging zu arrangieren. In einem seiner zahlreichen Briefe beschrieb er sich als „halb Soldat, aber doch in Zivil, halb Flieger, aber doch auf der Erde, halb Arbeiter, aber doch zu gelehrt für einen gewöhnlichen Arbeitsmann“. Den von ihm durchzuführenden physikalischen Versuchen brachte er „weniger rein wissenschaftliches als technisches Interesse“ entgegen.
Zurück in Rostock nahm er seine Lehrtätigkeit sofort wieder auf. Mit der Überzeugung, dass Bildung „der wichtigste Zweck menschlicher Betätigung“ sei, engagierte er sich außerdem im 1919 gegründeten Volkshochschulausschuss des Landes Mecklenburg-Schwerin sowie in der „Vereinigung fortschrittlich gesinnter Akademiker“, deren Ziel es unter anderem war, „die Umgestaltung der Hochschule in eine der neuen Zeit entsprechende Form“ zu organisieren. Trotz alledem sehnte sich Schlick nach einer Veränderung. Er hoffte, endlich der „Rostocker Schläfrigkeit“ entkommen zu können. Und sein Wunsch sollte sich erfüllen. Am 1. Oktober 1921 erhielt er einen Ruf der Universität Kiel – doch Schlick schien zu ahnen, dass das nur ein Zwischenspiel sein sollte, denn man hatte ihm bereits die vertrauliche Frage gestellt, ob er bereit wäre, auf eine Wiener Lehrkanzel zu wechseln. Im Januar 1922 entschied er sich. „Es wird mir“, so schrieb er an Albert Einstein, „doch recht schwer, nach Wien zu gehen, nicht nur, weil die Zukunft in Oesterreich so dunkel aussieht, sondern auch, weil ich mich zuletzt unter den Kollegen und Studenten hier überaus wohl gefühlt habe.“
In der geistigen Tradition von Ludwig Boltzmann und Ernst Mach stehend, widmete sich Schlick ab 1922 vor allem Fragen der Naturphilosophie. Ab dem Wintersemester 1923/24 veranstaltete er ein wöchentliches Kolloquium, aus dem später der so genannte „Wiener Kreis“ erwachsen sollte. In den Folgejahren diskutierten hier unter anderem Otto Neurath, Friedrich Waismann, Herbert Feigl und Hans Hahn. „Jeder“, so erinnerte sich Rudolf Carnap später, „war stets bereit, seine Ansichten zu überprüfen oder durch andere überprüfen zu lassen. Der gemeinsame Geist war der der Zusammenarbeit, weniger der des Wettbewerbs. Das gemeinsame Ziel war, im Ringen um Klarheit und Einsicht zusammenzuarbeiten“. – Eine derartige geistige Ausrichtung konnte jedoch nicht verhindern, dass es zunehmend inhaltliche Divergenzen gab. Schlicks Vorbehalte gegen eine vermeintliche Wiener „Schule“ kamen hinzu.
Ende der zwanziger Jahre folgte Schlick Einladungen zu Vorträgen nach Cambridge, Oxford und London, er hielt Vorlesungen an der Stanford University und war als Mills Professor of Philosophy in Berkeley tätig. Wie schon in Rostock engagierte sich Schlick auch in Wien für die allgemeine Volksbildung. So trat er in der Wiener Urania auf und sprach in der Ethischen Gemeinde, zu dessen Vorstand er zählte. Einer seiner letzten öffentlichen Auftritte fand am 7. Februar 1936 im kleinen Festsaal der Wiener Universität statt. Im Rahmen der „Volkstümlichen Universitätsvorträge“ sprach Schlick zu dem Thema „Weltall und Menschengeist“. Am Schluss seiner Ausführungen hieß es: „Die wahren Gründe der Bescheidenheit und des Stolzes, der Freude und des Leides, des Wertes und Unwertes des Menschen sind nicht zu suchen in der theoretischen, erkenntnismässigen Beschaffenheit der Welt, sondern einzig und allein in der Art und Weise, wie er die Herrschaft benutzt, die ihm über seine Welt gegeben ist.“