14. Jahrgang | Nummer 25 | 12. Dezember 2011

„… dann war vielleicht Liszt ein Kirchenvater.“

Über Friedrich Nietzsches Verhältnis zu Franz Liszt

von Kai Agthe

„Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum“, lautet ein Satz Friedrich Nietzsches, der in den letzten 111 Jahren zu einer sprichwörtlichen Redensart geworden ist. Jeder Mensch, der der Musik aktiv und/oder passiv verbunden ist, wird diesen Ausruf aus dem Buch „Götzen-Dämmerung“ – das 1888 als eines der letzten Werke vor Nietzsches geistiger Umnachtung erschien – zweifelsohne teilen. Der Aphorismus 33 aus der Sammlung „Sprüche und Pfeile“ beginnt mit dem Hinweis „Wie wenig gehört zum Glücke! Der Ton eines Dudelsacks.“ Und er endet, nach dem berühmten und hier bereits zitierten Diktum, mit dem ironischen Zusatz: „Der Deutsche denkt sich selbst Gott liedersingend.“ (KSA 6, 64) Nietzsches Wort „Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum“ ist derart fest im deutschen Zitatenschatz verankert, dass der bayrische Kabarettist Gerhard Polt im Jahr 2005 – als ein von ihm gefördertes Gymnasium mit besagtem Ausspruch um musikalisch begabte Stipendiaten warb – sich zu dem ironischen Hinweis veranlasst sah: „Ein Leben mit Musik ist ebenfalls ein Irrtum.“
Ohne Musik wäre auch und vor allem Nietzsches Leben ein Irrtum gewesen. Im 19. Jahrhundert, da musikalische Kunstwerke noch nicht technisch reproduziert werden konnten, bot nur das Konzert die Möglichkeit, Musik zu genießen. Wo das nicht war, konnte man Musik allein durch eigenes Spiel erklingen lassen. Wir wissen, dass Nietzsche ein ganz passabler Pianist war und auf dem Klavier oft und gern improvisierte. Verschiedene CD-Einspielungen geben heute auch einen Eindruck von dem kompositorischen Potenzial und Geschick, das Nietzsche, der ein Dilettant im besten Sinne des Wortes war, als Musiker besaß. Er hat neben kleineren Werken für das Piano sowie für Klavier und Chor auch zahllose hörenswerte Lieder hinterlassen, in denen er unter anderem Gedichte von Friedrich Rückert, Sandor Petöfi, Adelbert von Chamisso sowie eigene lyrische Texte vertonte. Dass er generell ein sehr musikalischer Mensch war, zeigen nicht zuletzt seine Gedichte. Über die Nähe der Lyrik zur Musik hat Friedrich Nietzsche selbst wiederholt reflektiert, so unter anderem im Zusammenhang mit Heinrich Heines Dichtung, die ihm lieb und teuer war. Auch Nietzsches frühe Gedichte sind ganz im Geist der Romantik gehalten. Sein bekanntester Text, das Stück „Vereinsamt“, mit einer Ergänzung auch als „Der Freigeist“ bekannt, erinnert in nicht geringem Maße an die Poetik von Wilhelm Müllers „Winterreise“. Und am Ende von Nietzsches lyrischem Schaffen stand mit den „Dionysos-Dithyramben“ von 1888 jedoch eine großartige Gedichtsammlung, welche die expressionistische Dichtung der Zeit nach 1900 vorbereiten half.
Auch Nietzsches philosophisches Werk kreist immer wieder um musikästhetische Themen, zuerst und vor allem natürlich um das Gesamtkunstwerk Richard Wagners. Allein drei Schriften über den väterlichen Freund, dem er zuletzt und über Wagners Tod hinaus in einer Art Hassliebe verbunden war, sind überliefert. Eine publizistische Lebensreise, die Nietzsche 1876 mit der vierten Unzeitgemäßen Betrachtung „Richard Wagner in Bayreuth“ als glühender Anhänger und Apologet begann und die er mit den Schriften „Der Fall Wagner“ und „Nietzsche contra Wagner“ (beide 1888) als überaus scharfzüngiger Kritiker beendete.
Es ist im Jahr von Franz Liszts 200. Geburtstag naheliegend, Friedrich Nietzsches Werk daraufhin zu prüfen, wie er sich über den ungarischen Künstler geäußert hat, der als musikalisches Wunderkind begann und in seinen besten Jahren in gleicher Weise Komponist, Klaviervirtuose, Dirigent, Musikschriftsteller und Musikvermittler war. Auch der Erfolg Richard Wagners – das konnte oder wollte Nietzsche nicht sehen – verdankt sich zu einem nicht geringen Teil dem Engagement Liszts, der für den Freund und späteren Schwiegersohn gerade in seiner Weimarer Zeit die Weichen stellte, in dem er dessen Opern, zum Teil als Uraufführungen, an der Ilm mit großem Erfolg inszenierte.

Liszt: „Hundert Musiker-Seelen zusammen“

Nicht allein das Wissen, dass Liszt zahlreiche Kirchenmusiken komponierte, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass Liszt der Vater von Cosima Wagner und der Schwiegervater von Richard Wagner war, lässt vor Prüfung der Quellen vermuten, Nietzsches Verhältnis zu Liszt müsse – um es diplomatisch zu formulieren – ein höchst ambivalentes gewesen sein. Die Konsultation von Friedrich Nietzsches zu Lebzeiten veröffentlichten Büchern und, in diesem Zusammenhang nicht unwichtig, der nachgelassenen Fragmente belegt die These nachhaltig.
Man könnte Nietzsches Verhältnis zu Liszt kurz und bündig in einem Zitat zusammenfassen, das in einem nachgelassenen Fragment des Jahres 1887 zu finden ist: „Liszt, der Repräsentant aller Musiker, kein Musiker: der Fürst, nicht der Staatsmann. Hundert Musiker-Seelen zusammen, aber nicht genug eigene Person, um eignen Schatten zu haben. Wenn man eine eigene leibhafte Persönlichkeit haben will, so muss man sich nicht sträuben, auch einen Schatten zu haben.“ (KSA 8, 511) Nietzsche spricht hier Liszt kurz entschlossen jedwede künstlerische Originalität ab. Für diese späte Notiz mag sprechen, dass sie zu Lebzeiten unveröffentlicht blieb. Der Gedanke fehlender künstlerischer Individualität Liszts – den man auch als musikalischer Laie so nicht teilen mag – zieht sich kontinuierlich durch das musikästhetische Denken Nietzsche. Es findet sich schon in einem Fragment von 1880, in dem er Liszt einen „passiven Künstler“ (KSA 9, 317) nennt, was den Vorwurf beinhaltet, dass Liszt vieles, aber kein aktiver, wirklicher, das heißt genialer Künstler gewesen sei.
Danach gefragt, was wohl die zeitlose Aktualität Franz Liszts ausmacht, sei die ungarische Musikwissenschaftlerin Klára Hamburger zitiert, deren auch für den musiktheoretisch nicht geschulten Leser überaus erhellendes Buch „Franz Liszt – Leben und Werk“ jüngst in deutscher Übersetzung erschien. Die Liszt-Expertin schreibt: „Er (Liszt – der Verf.) war einer der großen Romantiker des 19. Jahrhunderts und neben Richard Wagner die Hauptfigur der von den Zeitgenossen als ,Zukunftsmusik‘ verhöhnten ,Neudeutschen Schule‘. Er ist der Vater der symphonischen Dichtung: Schöpfer der ,Faust- und ,Dante-Symphonie‘, der Oratorien ,Die Legende von der heiligen Elisabeth‘ und ,Christus‘, von Messen, Psalmen und kleineren Kirchenkompositionen. Er gilt als Erneuerer des Klavierspiels: Seine Solostücke und Konzerte sind halsbrecherisch virtuos, wie auf den eigenen Leib geschrieben und bis zum Auftreten seiner Schüler für jeden anderen unspielbar. Heute sind sie nicht mehr aus dem Repertoire der Pianisten wegzudenken.“
Klára Hamburger erwähnt zwar an einer Stelle auch Nietzsche, nicht aber dessen Äußerungen über Liszt. In Wolfram Huschkes Studie „Franz Liszt – Wirken und Wirkungen in Weimar“, in der viel Neues über dessen Weimarer Zeit zu finden ist, fällt Nietzsches Name nicht. Auch sonst erscheint der Philosoph in den neuesten Liszt-Biografien, so unter anderem in dem schrecklich-schön betiteltem Buch „Franz Liszt: Musikgenie und Frauenschwarm“ von Anton Mayer nur in allgemeinen Zusammenhängen.

„Wenn Wagner ein Christ war …“

Bevor gezeigt werden soll, wie sich Nietzsche über Liszt äußerte, sei daran erinnert, dass er, Nietzsche, im Gegensatz zu vielen Zeitgenossen, die Tatsache, dass Liszt 1865 in Rom zum Abbé, also zum katholischen Geistlichen, ernannt wurde, nicht in hämischer Absicht gegen ihn wendete. Das muss überraschen, hatte Nietzsche doch selbst Wagners Spätwerk „Parsifal“ im buchstäblichen Sinn als ein „Zu-Kreuze-kriechen“ des Meisters verstanden. Kein abschätziger Kommentar, soweit sich sehen lässt, aber über Liszts niedere Weihen, wenn man nicht gewillt ist, die folgende Äußerung Nietzsches, enthalten in „Der Fall Wagner“, in diese Richtung zu deuten: „Wenn Wagner ein Christ war, nun dann war vielleicht Liszt ein Kirchenvater.“ (KSA 6, 51) Aber dieser Pfeil dürfte weniger in eine religiöse, sondern eher in die musikästhetische Richtung zielen. Denn Wagners Bühnenweihfestspiel „Parsifal“ – für Nietzsche eine unentschuldbare Verfehlung – steht, wie bei Klára Hamburger zitiert, eine kaum überschaubare Fülle von kirchlich motivierten Kompositionen Liszts gegenüber. Das umfangreiche Oeuvre an Kirchenmusik des Ungarn ist es, das es für Nietzsche gerechtfertigt erscheinen lässt, ihn als Kirchenvater der Musik des 19. Jahrhunderts zu apostrophieren.
Ebenfalls in „Der Fall Wagner“ wirft Nietzsche Wagner bekanntlich vor, als Komponist und Künstler auch und vor allem ein Impresario seiner selbst, das heißt, ein „Schauspieler“ zu sein. Ein Vorwurf, der auch Liszt trifft, wenn es heißt: „– Ich habe erklärt, wohin Wagner gehört – nicht in die Geschichte der Musik. Was bedeutet er trotzdem in deren Geschichte? Die Heraufkunft des Schauspielers in der Musik: ein capitales Ereigniss, das zu denken, das vielleicht auch zu fürchten giebt. In der Formel: ,Wagner und Liszt.‘“ (KSA 6, 37)
Bereits in einem nachgelassenen Fragment aus dem Jahr 1885 nennt Nietzsche Wagner und Liszt, aber auch Paganini, „Schauspieler-Genie’s“, wobei die Betonung auf „Schauspieler“ liegt. Über die drei nachdenkend, „komme ich“, so Nietzsche, „bei mir nicht darüber hinweg, immer dieselbe Frage wieder aufzuwerfen: was sich in jenen Dreien scheinbar neu ausdrückt, ist das vielleicht doch nur der alte und ewige ,Cagliostro‘, nur neu verkleidet, neu in Scene gesetzt, ,in Musik gesetzt‘, in Religionen gesetzt, – wie es dem Geschmack des neuen Jahrhunderts – dem Jahrhundert der Menge, wie gesagt, – am besten entsprechen mag? Also nicht mehr wie der letzte Cagliostro als der Verführer einer vornehmen und ermüdeten Cultur, sondern – als demagogischer Cagliostro? – und unsre Musik, mit deren Hülfe hier ,gezaubert‘ wird: – was, ich bitte und frage euch, bedeutet unsere d(eutsche) M(usik)!“ (KSA 11, 676/677)
Zwei Jahre nach dem Tod Wagners und ein Jahr vor dem Tod Liszts kommt Nietzsche in seiner Notiz zu dem Schluss, dass die drei Genannten nicht mit ihrer Musik begeisterten, sondern vielmehr die Kunst beherrschten, mit ihrer Musik zu manipulieren. Denn sie mit Cagliostro – dem Alchimisten und Hochstapler aus dem 18. Jahrhundert – zu vergleichen, heißt ja im Grunde nichts anderes, als sie der Scharlatanerie zu bezichtigen, die „im Jahrhundert der Menge“, wie Nietzsche das 19. Jahrhundert nennt, einer Massensuggestion gleichkommt. Wie so oft, äußert er sich in seinen zu Lebzeiten unveröffentlichten Fragmenten tendenziell noch schärfer als in seinen publizierten Schriften. Freilich scheint Nietzsche zu verkennen, dass massenwirksamer Erfolg, zumal in der Musik, nicht ausschließlich aus Manipulation resultieren muss, sondern nicht zuletzt Folge echter Begeisterung sein kann.

„Liszt: oder die Schule der Geläufigkeit“

Im Spätwerk „Die Götzen-Dämmerung“ steht im Kapitel „Streifzüge eines Unzeitgemässen“ als erstes Stück der Aphorismus „Meine Unmöglichen“. Dabei handelt es sich um eine Liste von historischen und zeitgenössischen Persönlichkeiten, die von Seneca über Victor Hugo bis Zola reicht und die Nietzsche, die Überschrift deutet es an, allesamt mit Argwohn betrachtete. Über George Sand, die französische Schriftstellerin und zeitweise Lebensgefährtin von Frédéric Chopin, heißt es etwa, sie sei „die Milchkuh mit ,schönem Stil‘“ (KSA 6, 111). Dort aufgeführt ist auch Franz Liszt, dem in einer sybillinisch kurzen Notiz attestiert wird: „Liszt: oder die Schule der Geläufigkeit.“ (KSA 6, 111). Man geht sicher nicht fehl in der Annahme, dass das Wort „Geläufigkeit“ hier als „Gefälligkeit“ zu übersetzen ist. Liszts Musik, so dürfen Nietzsches Gedanken deuten, ist gefällig, das heißt auf den Massengeschmack zugeschnitten. Und der Masse hat Friedrich Nietzsche, wie wir wissen, in kultureller wie in politischer und sozialer Hinsicht, gründlich misstraut. Als Denker war er zeitlebens ein Einzelgänger. Alle Bewegungen des 20. Jahrhunderts, die politischen zumal, die ihn für sich reklamierten, haben wissentlich oder unwissentlich übersehen, dass seine Philosophie, wenn schon nicht resistent vor ideologischer Vereinnahmung aller Couleur, so doch eine erkennbar individualistische ist.
Wie war Friedrich Nietzsches Verhältnis nun zur romantischen Musik im Allgemeinen? Auch dieses ist generell ambivalent, aber ebenfalls eher mit dem persönlichen Geschmack des Philosophen, denn mit stichhaltiger musikkritischer Argumentation zu erklären. Im Aphorismus 245 von „Jenseits von Gut und Böse“ wird etwa Robert Schumann attestiert: „Schumann mit seinem Geschmack, der im Grunde ein kleiner Geschmack war, (nämlich ein gefährlicher, unter Deutschen doppelt gefährlicher Hang zur stillen Lyrik und Trunkenboldigkeit des Gefühls), (…) dieser Schumann war bereits nur noch ein deutsches Ereignis in der Musik, kein europäisches mehr, wie Beethoven es war, wie, in noch umfänglicherem Maße, Mozart es gewesen ist, – mit ihm drohte der deutschen Musik ihre größte Gefahr, die Stimme für die Seele Europas zu verlieren und zu einer bloßen Vaterländerei herabzusinken.“ (KSA 5, 188) Das ist fürwahr ein vernichtendes Urteil über den Komponisten und Pianisten, der 1834 in Leipzig die bis heute erscheinende Zeitschrift für Musik begründete. Und zwar mit Ernst Ortlepp, der, wie wir durch die Studien von Hermann Josef Schmidt und die Schriftenreihe der Ernst-Ortlepp-Gesellschaft e.V. in Zeitz wissen, für den jungen Friedrich Nietzsche als ein nicht unbedeutender Mentor gelten kann.
Im besagten Aphorismus 245 von „Jenseits von Gut und Böse“ wird hingegen Felix Mendelssohn-Bartholdy, der, so Nietzsche, „schnell verehrt und ebenso schnell vergessen wurde“, durch den Philosophen geadelt, indem er betont, Mendelssohn-Bartholdy sei „der schöne Zwischenfall der deutschen Musik“ (KSA 5, 188). (Auch Goethe ist von Nietzsche ein Zwischenfall ohne Folgen für die Deutschen genannt wurden.) Bekanntlich war es der früh verstorbene Mendelssohn-Bartholdy, der Johann Sebastian Bach für das Konzertrepertoire wiederentdeckte. Nietzsche konnte – trotz seines feinen musikalischen Sensoriums – die von Mendelssohn ins Rollen gebrachte Bach-Renaissance allerdings nicht teilen, wie ein Aphorismus im Kapitel „Der Wanderer und sein Schatten“ von 1880 des Buches „Menschliches Allzumenschliches II“ (1886) deutlich macht. Die beiden Säulen von Nietzsches Musikbegeisterung blieben für ihn stets Mozart und Beethoven (KSA 2, 615/616), während etwa Franz Schubert, der ja Wilhelm Müllers Zyklus „Die Winterreise“ kongenial vertonte, für Nietzsche „ein geringerer Artist als die andern grossen Musiker“ ist (KSA 2, 617).
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Erlebnisse Nietzsches mit Wagner auch seine Haltung zu Franz Liszt geprägt haben. Es wäre zu kühn, wollte man behaupten, dass Liszt als Schwiegervater Wagners von Nietzsche in Sippenhaft genommen wurde. Aber Liszt gehörte als Vater von Cosima Wagner zum Wagner-Clan. Cosima, eine Frau, der Nietzsche in einer recht verqueren Art innig und über das Ende seines geistig regen Lebens hinaus zugetan war. Noch in der Nervenklinik in Jena meinte er ja, seine Frau Cosima habe ihn dorthin gebracht.
„Frau Cosima Wagner ist bei Weitem die vornehmste Natur“, heißt es in „Ecce homo“ (KSA 6, 268). Und: „Die wenigen Fälle hoher Bildung, die ich in Deutschland vorfand, waren alle französischer Herkunft, vor Allem Frau Cosima Wagner, bei weitem die erste Stimme in Fragen des Geschmacks, die ich gehört habe …“ (KSA 6, 285) Dem überbordenden Lob, das aus dem letztgenannten Zitat spricht, möchte man gründlich misstrauen, weil das Wissen, dass wir von Cosima haben, nicht deckungsgleich mit dem Bild ist, das Nietzsche zeichnet. In einem nachgelassen Fragment von 1887/88 heißt es über Wagners Witwe, die ja auch die Ariadne der „Dionysos-Dithyramben“ sein soll: „Frau Cosima Wagner ist das einzige Weib größeren Stils, das ich kennen gelernt habe; aber ich rechne ihr es an, daß sie Wagnern verdorben hat. Wie das gekommen ist? Er ,verdiente‘ solch ein Weib nicht: zum Dank dafür verfiel er ihr. – Der Parsifal W(agner)s war zu allererst- und anfänglichst eine Geschmack-Condescendenz W(agner)s zu den katholischen Instinkten seines Weibes, der Tochter Liszt’s, eine Art Dankbarkeit und Demuth von Seiten einer schwächeren vielfacheren leidenderen Creatur hinauf zu einer, welche zu schützen und zu ermuthigen verstand, das heißt zu einer stärkeren, bornierteren […]“ (KSA 13, 16) Cosima wird hier also bescheinigt, ihren Mann verdorben, weil – bedingt durch ihren katholischen Glauben – zum „Parsifal“ wie, so klingt es durch Nietzsches Zeilen hindurch – zu einem schweren Verbrechen angestiftet zu haben.

Liszts „vornehme Orchester-Accente“

Bis zum Ende seines geistig bewussten Lebens, also bis Ende 1888/Anfang 1889, bleibt Nietzsches Verhältnis zu dem kompositorischen Werk Liszts – denn um dieses drehen sich seine Äußerungen – mehrdeutig, wie ein weiterer Blick in das autobiographische Buch „Ecce homo“ zeigt. Dort heißt es einerseits:  „Ich selbst bin immer noch Pole genug, um gegen Chopin den Rest der Musik hinzugeben: ich nehme aus drei Gründen, Wagner’s Siegfried-Idyll aus, vielleicht auch Liszt, der die vornehmen Orchester-Accente vor allen Musikern voraus hat (…)“ (KSA 6, S. 291) Eine Aussage, die wortwörtlich auch in Nietzsches ebenfalls 1888 entstandene Schrift „Nietzsche contra Wagner“ eingegangen ist (KSA 6, 420/421).
Leider kann an dieser Stelle nicht detaillierter ausgeführt werden, dass Nietzsche sich in seiner letzten Lebenszeit „entdeutschen“ wollte, indem er mit großer Inbrunst in seinen Briefen das Gerücht streute, er stamme von einem polnischen Grafengeschlecht namens Niezky ab. Bei dieser Gelegenheit behauptete er auch, seine Physiognomie sei auf den Bildern Historienmalers Jan Matejko wiederzufinden. Und wirklich sind schnauzbärtige Gestalten von seinem Zuschnitt auf den Bildern des Polen zu sehen was Nietzsches polnische Herkunft aber nicht glaubhafter macht. Die genealogische Forschung hat diese auch schon vor vielen Jahren widerlegt. Richtig ist, dass ihm, Nietzsche, die Klaviermusik von Frédéric Chopin – des Polen mit den französischen Wurzeln, der auch ein Freund Franz Liszts war – viel bedeutet hat.
Spannend ist in diesem Zusammenhang, dass Nietzsche in „Ecce homo – Wie man wird, was man ist“ nicht nur Wagner, sondern auch Liszt durchaus seine Anerkennung zollt. Letzterem bescheinigt er hier, er habe, wie oben zitiert, „die vornehmen Orchester-Accente vor allen Musikern voraus“. Das ist ein lakonisches, aber, bei Lichte betrachtet, doch kein geringes Lob, denn es würdigt Franz Liszt als einen herausragenden Vertreter der Orchestermusik im 19. Jahrhundert. Auch und gerade Friedrich Nietzsche dürfte klar gewesen sein, dass Liszt der Begründer der symphonischen Dichtung ist, wie sie etwa die 1857 in Weimar uraufgeführte und in diesem Jubeljahr zweimal daselbst gegebene„Faust-Symphonie“ exemplarisch unter Beweis stellt, die heute als eine der bedeutendsten Kompositionen Franz Liszts gilt und in der man die zitierten „vornehmen Orchester-Accente“ fast mit Händen greifen kann.
Andererseits lesen wir in seinen autobiographischen Aufzeichnungen „Ecce homo“ auch: „(…) ich selber war eigenhändig Zeuge, wie man in Leipzig, zu Ehren eines der echtesten und deutschesten Musiker, im alten Sinne des Wortes deutsch, keines blossen Reichsdeutschen, des Meister Heinrich Schütz einen Liszt-Verein gründete, mit dem Zweck der Pflege und Verbreitung listiger Kirchenmusik …“ (KSA 6, S. 358) Nietzsche empfindet es, mit anderen Worten, fast als persönliche Beleidigung, auf jeden Fall als ein Skandalon, dass im Namen von Heinrich Schütz, dem seit dem 17. Jahrhundert so bezeichneten „Vater der deutschen modernen Musik“, ein Liszt-Verein gegründet wird. Anstößig schon deshalb, so denken wir Nietzsches Invektive weiter, weil sich Heinrich Schütz eben nicht mit Liszt vergleichen lässt. Auch wenn hier kritisch zu bemerken wäre, dass es einen „echtesten und deutschesten Musiker“ gar nicht geben kann. Und Liszt war Europäer im strengen Sinne Nietzsches genug, um nicht auf den von Nietzsche verachteten „Reichsdeutschen“, der am Ende vielleicht noch Wagnerianer ist, reduziert zu werden. Das Wortspiel „listige Kirchenmusik“ kann hier einmal mehr als ironischer Seitenhieb auf Liszt verstanden werden, der nicht nur Kirchenmusiken schrieb, sondern auch als Reformator der Kirchenmusik im 19. Jahrhundert gelten kann.
Friedrich Nietzsches Verhältnis zu Franz Liszt war ambivalent, aber, wie die Zitate belegt haben, im Ganzen nicht undifferenziert, wenngleich bis heute durchaus diskussionswürdig. Mit der musikalischen Romantik und ihren Vertretern stand Nietzsche, wie gezeigt, im Allgemeinen auf ästhetischem Kriegsfuß. Erschwerend kam hinzu, dass auf der Person Liszts, ob man will oder nicht, für Nietzsche auch der große Schatten Richard Wagners lastete.
„Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.“ Ohne Musik wäre aber auch das philosophische Werk Nietzsches um ein entscheidendes Kapitel ärmer. In diesem Sinne verdankt Friedrich Nietzsche als Mensch und Philosoph der Musik, wenn schon nicht alles, so doch sehr viel.

Gekürzte Fassung eines Vortrags, der aus Anlass des 111. Todestages von Friedrich Nietzsche am
27. August in der Kirche von Röcken, Nietzsches Geburtsort, gehalten wurde. Die in Klammern gesetzten Zitatnachweise beziehen sich auf die
Kritische Studienausgabe der Werke Friedrich Nietzsches (KSA) mit Nennung der Band- und Seitenzahl.