14. Jahrgang | Sonderausgabe | 5. Dezember 2011

2050

von Gabriele Muthesius

Ein mongolisches Sprichwort empfiehlt: „Sag deine Zukunft nicht voraus, ehe sie nicht geschehen ist.“ Trotzdem wird es immer wieder versucht, und die Sache ist ja auch nicht ohne Reiz.
Um es gleich vorweg zu sagen – der englische Titel des Buches ist präziser und weckt insofern keine Erwartungen, die dann trotz voluminöser Erscheinung nicht eingelöst werden: „The World in 2050. Four Forces Shaping Civilization’s Northern Future“. Alles, was auf dieser Erde südlich des Mittelmeeres liegt, um eine aus hiesiger Sicht leicht fassliche geografische Bezugsgröße zu wählen, kommt bei Laurance C. Smith nur am Rande vor. Seine zentrale Fragestellung lautet: „Wäre es mög­lich, dass das 21. Jahrhundert den Niedergang des Südwestens der USA und des europäischen Mittelmeerraums und gleich­zeitig den Aufstieg der nördlichen Staaten der USA, Kanadas, Skandinaviens und Russlands erleben sollte?“
Konkret hat der Autor die Gebiete nördlich des 45. Breitengrades im Focus und prognostiziert ihnen „enorme Veränderungen“ in den nächsten Jahrzehnten, „die aus ihnen Regionen wachsender menschlicher Aktivität, größeren strategischen Werts und größerer wirtschaftlicher Bedeutung als heute machen werden“. Die vier Kräfte und deren Zusammenspiel, die er in diese Richtung wirken sieht – und zwar keineswegs linear simplifiziert – sind: Demografie, zunehmende Ressourcenausbeutung, Globalisierung und Klimawandel.
Zu jeder dieser Kräfte bringt Smith Argumente vor, die man so oder ähnlich bereits gelesen haben mag, die er jedoch ausführlich ausbreitet und empirisch unterlegt – so etwa die These, dass das globale Bevölkerungswachstum bereits seit Jahren abflacht und perspektivisch zum Erliegen kommen wird. Zur Ressourcenfrage rechnet Smith vor, dass die Anhebung des weltweiten Konsumstandards auf ein Niveau, wie es heute in der westlichen Hemisphäre gegeben ist, den globalen Verbrauch auf das Elffache steigern würde. Und im Hinblick auf den Klimawandel – für Smith „schlicht und einfach eine nachgewiesene Tatsache“ – verweist der Autor darauf, dass die CO2-Konzentration in der Atmosphäre sich den Werten des Miozäns, eines Erdzeitalters vor 15 Millionen Jahren, nähere; damals war es im Schnitt zwischen drei und sechs Grad wärmer und der Meeresspiegel lag um 25 bis Meter höher als heute. Wem das die Überzeugung stärkt, dass letztgenannter Entwicklung nur umso konsequenter mittels Übergang zur Nutzung CO2-armer oder gar -freier Energiequellen gegengesteuert werden müsse, dem macht der Autor zugleich wenig Hoffnung. „[…] woher wird in 40 Jahren der Löwenanteil  der Energie kommen? Höchstwahrscheinlich aus denselben Quellen wie heute.“ Es gebe keine realistische Möglichkeit, innerhalb weniger Jahrzehnte ohne Erdöl, Kohle und Erdgas auszukommen.
Die Länder und Erdregionen nördlich des 45. Breitengrades werden, davon ist Smith überzeugt, zu den Gewinnern der von ihm skizzierten globale Prozesse gehören. Dabei werden seiner Auffassung nach die heutigen Staaten in ihrer gegenwärtigen Gestalt und Ausdehnung jedoch Veränderungen unterworfen sein. Die in diesem Zusammenhang von Smith’ bemühte, idyllisch weich gezeichnete historische Parallele gibt allerdings zu denken: „Genau wie einst Mexiko 1848 im Vertrag von Guadalupe Hidalgo Arizona, Kalifornien, Colorado, Nevada, Neumexiko, Texas und Wyoming ganz oder teilweise an die Vereinigten Staa­ten abtrat, wird vielleicht später einmal die Russische Födera­tion ihren Fernen Osten an die Volksrepublik China abtreten.“ Was hier nach freiwilligem Akt klingt, war im Falle Mexikos das Ergebnis eines verlorenen Krieges und kostete das Land die Hälfte seines Territoriums.

P.S.: 1983 erschien in der DDR ein Buch von Erich Hanke – „Ins nächste Jahrhundert. Was steht uns bevor?“. Darin wurde die Frage „Wann ist der Kapitalismus endgültig überwunden?“ zwar nicht auf den Tag genau, doch gleichwohl zeitlich fassbar beantwortet: „Sicher werden weitere kapitalistische Länder vor dem Jahre 2000 aus dem imperialistischen Machtbereich ausbrechen, andere in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts.“ Auch im Detail war der Autor – auf der Grundlage statistischer Berechnungen – durchaus präzise: „Das heißt, die Sowjetunion würde etwa im Jahre 2005 die USA im Stand der Arbeitsproduktivität erreichen.“ Daher soll dem einleitenden mongolischen Sprichwort ein adäquater abschließender Gedanke zur Seite gestellt werden – „Prognosen sind schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen.“ (Karl Valentin, Mark Twain, Winston Churchill, Nils Bohr und andere – je nach Quelle)

Laurence C. Smith: Die Welt im Jahr 2050. Die Zukunft unserer Zivilisation, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2010, 480 Seiten, 22,99 Euro