14. Jahrgang | Nummer 20 | 3. Oktober 2011

Wider den Strom

von Gerd Kaiser

Mit seinen eben erschienenen Erinnerungen an das erste Nachkriegsjahrzehnt zeichnet Wladyslaw Bartoszewski eindrucksvolle Biographien von Persönlichkeiten, denen er als Journalist und als Häftling in der VR Polen begegnete. Eine von ihnen war Jerzy Mering. Dieser hatte in den Vorkriegsjahren Jura an der Warschauer Universität studiert und arbeitete seit 1947 als Rechtsanwalt in Warschau. Er hatte sich einen guten Ruf als Verteidiger in politischen Prozessen gegen die polnischen Generale August Emil Fieldorf, Stefan Mossor, Stanislaw Tatar und Marian Spychalski erworben – letzterer wurde nach seiner Haftzeit zuerst Verteidigungsminister und anschließend Vorsitzender des Staatsrates der VR Polen. Mering arbeitete auch als juristischer Berater des Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei. Bartoszewski, Journalist der katholischen Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“, saß bei der ersten Begegnung der beiden, abgeurteilt nach einem ebenfalls politischen Prozess im Warschauer Gefängnis in der Rakowiecka-Straße ein.
Erstmals verhaftet im November 1946 war er bis April 1948 in Untersuchungshaft gehalten, jedoch ohne Urteil entlassen worden, weil ihm keine Straftat nachgewiesen werden konnte. Im Dezember 1949 erneut verhaftet, blieb er diesmal bis Mai 1952 in Untersuchungshaft und wurde dann zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt – ohne Anrechnung der Untersuchungshaft …
Er arbeitete in der Druckerei der genannten Haftanstalt, als Mering eine Besuchserlaubnis erwirkte. Bartoszewski stellte Mering eine Vollmacht aus, die es diesem ermöglichte die Interessen seines Mandanten zu vertreten. Das war bereits nach Stalins Tod und der Exekution eines von dessen Henkersknechten, Lawrentij Berija im Jahre 1953, als sich erste Zeichen eines politischen Tauwetters bemerkbar machten. Wenige Wochen nachdem Mering die Verteidigung Bartoszewskis übernommen und als erstes verlangt hatte, dass man seinen Mandanten einer Ärztekommission vorstellen müsse, wurde dieser in eine Haftanstalt im abgelegenen Rawicz verlegt, wo Ärzte eine beidseitige Lungentuberkulose und eine Herzerkrankung feststellten. Hier erhielt er die dringend notwendige medizinische Versorgung und eine nicht gesundheitsschädliche Arbeit in der Anstaltsapotheke. Allerdings nur für kurze Zeit. Anfang Juni 1954 verlegte man ihn über Nacht nach Raciborz. Hier gaben verurteilte ehemalige SS-Männer und zu lebenslänglichen Freiheitsstrafen verurteilte Kriminelle den Ton an. Sie teilten den TBC-Kranken zur Arbeit in der staubgeschwängerten Luft der Anstaltsschneiderei ein. Dem Anstaltsarzt gelang es jedoch, Bartoszewski in das Krankenrevier zu verlegen, denn Mering hatte den Weg seines Mandanten verfolgt und erreichte schließlich, dass dieser im August zu einem halbjährigen Krankenurlaub aus der Haft entlassen wurde. Vom Luftkurort Zakopane aus besuchte Bartoszewski zu Weihnachten Mering in Warschau, der ihn herzlich in seiner Familie aufnahm. Bartoszewski erhielt Einblick in die von Mering betriebene Neuaufnahme des Verfahrens. Mering forderte die Oberste Militärstaatsanwaltschaft auf, „ihrer Aufsichtspflicht gerecht zu werden und das Urteil im vorliegenden Falle zu kassieren“, weil dieses gegen formaljuristische Regeln verstoßen hatte und dem Angeklagten Bartoszewski kein „Staatsverrat“ nachgewiesen worden war. Am 2. März 1955 stellte das Oberste Militärgericht fest, dass Bartoszewski wider Recht und Gesetz verfolgt worden war.
Bei späteren Begegnungen mit Mering erfuhr Bartoszewski, dass dieser beabsichtige, mit seiner Familie Polen zu verlassen und sich in Israel anzusiedeln. Das geschah 1957. Den Lebensunterhalt für die Familie verdiente Mering, der nicht Iwrit, die offizielle Sprache in Israel sprach und auch nicht im englischen Recht firm war, das das Rechtswesen in Israel geprägt hatte, als ungelernter Arbeiter. Bartoszewski erfuhr später, dass Mering in Israel eine lebenslängliche  Freiheitsstrafe verbüße. Er hatte seine Frau in flagranti mit einem Mann angetroffen, sei daraufhin wutentbrannt in ein Geschäft geeilt, habe dort ein Brecheisen gekauft und damit den Mann erschlagen. Da er nach israelischem Recht nicht im Affekt, sondern mit Vorbedacht gehandelt habe, lautete das Urteil für Mering auf lebenslänglich…
Nach vielfältigen Versuchen erhielt Bartoszewski 1963 ein Visum für eine Reise nach Israel. Hatte er doch unter Einsatz seines Lebens zur Zeit der deutschen Okkupation von Polen verfolgten Juden geholfen. Als „Gerechter unter den Völkern“ durfte er in Yad Vashem einen Baum zur Erinnerung an gerettetes Leben setzen. Diese Gelegenheit nutzte Bartoszewski um Mering zu helfen. Während eines Empfangs beim damaligen Präsidenten Israels Salman Shazar, erwirkte er dessen Erlaubnis Mering besuchen zu dürfen, weil dieser ein politisch engagierter Mann gewesen sei, der Polen aus politischer Haft zur Freiheit verholfen habe. „Warum sollte ich allein“, so Bartoszewski über seine Gespräche mit israelischen Politikern, Juristen und Journalisten „über Polen reden, die Juden gerettet haben? Dafür hat mir vor einigen Tagen der Präsident ihres Landes gedankt. Jetzt möchte ich über Juden reden, die Polen gerettet haben.“
Bartoszewski erhielt eine Besuchserlaubnis. Beide waren zutiefst gerührt, als sie einander in der Zelle gegenübersaßen. Mering stimmte Bartoszewskis Vorschlag zu, sich beim Staatsoberhaupt Israels für eine Begnadigung einzusetzen. Im Ergebnis der Bemühungen Bartoszewskis wurde Jerzy Mering zu einer zehnjährigen Freiheitsstrafe begnadigt und konnte 1967 die Haftanstalt verlassen.
Erneut begegneten Bartoszewski und Mering einander anderthalb Jahrzehnte später. Mering, der eine neue Familie gegründet hatte, überreichte Bartoszewski bei dieser Gelegenheit ein Bändchen selbstverfasster Gedichte. „Die Gedichte waren – offen gesagt – schlecht, so sprachen wir nicht von ihnen, sondern über Merings Verdienste“. 1984 begegneten beide einander wiederum, diesmal in New York. Einige Jahre später erfuhr Bartoszewski, dass Mering vorgeschlagen hatte, ihn als Ehrenbürger Israels anzuerkennen, eine Auszeichnung, der er 1991 teilhaftig wurde.

Wladyslaw Bartoszewski unter Mitarbeit von Michal Komar: Pod Prad. Moje srodowisko niepokorne 1945-1955. Wspomnienia Dziennikarza i Wieznia. (Wider den Strom. Im Kreise  Ungebeugter 1945-1955. Erinnerungen eines Jorunalisten und Häftings). Literatura Faktu PWN. Warszawa. 2011. ISBN 978-83-01-16510-9