14. Jahrgang | Nummer 17 | 22. August 2011

Kreuz des Ostens

von Erhard Weinholz

Berlin-Ostkreuz, das war – und ist immer noch – eine Zumutung: Lange Wege, weder Rolltreppen noch Fahrstühle, keine Toiletten. Vor bald einem Vierteljahrhundert bereits hieß es, kleine Modernisierungen hätten „an der insgesamt unübersichtlichen und beengten Situation und an dem baulichen Zustande des Bahnhofs“ nichts bessern können. Nun endlich soll alles bequemer werden und groß und prächtig obendrein.
Schon sind die Umrisse der weiten Halle sichtbar, die den höher gelegenen Ringbahnhof neben der jetzigen Ringbahnstrecke überdachen wird, ist die breite Brücke fertig, die längs dieser Strecke von Nord nach Süd die Gleise überquert. Beton und Stahl, die Baustoffe einer makellosen, harten Moderne, haben Pflaster und Mauerwerk ersetzt. Doch zuvor hat man ringsum reinen Tisch gemacht, hat abgerissen, gerodet, verwilderte Areale freigeräumt und planiert. Sogar die großen alten Bäume auf dem Bahnsteig A hat man gefällt, der Bahnsteig selbst ist jetzt unzugänglich und wird irgendwann abgetragen – ein weltabgeschiedenes Fleckchen war das dort oben, wo alle zwanzig Minuten ein Zug nach Warschauer Straße abfuhr. Verschwunden sind der kleine Obstgarten südlich der Stadtbahngleise, an der Hauptstraße, gegenüber dem Wasserturm, und ebenso das Dickicht östlich der erneuerten Brücke, wo ich einmal Morcheln gefunden hatte, die in Berlin nicht eben häufig sind. Aber sie waren madig. Auch das Gelände nördlich der Stadtbahnstrecke, am Ausgang zur Sonntagstraße, wird bald zivilisierte Gestalt annehmen. Wenn in fünf Jahren der Umbau geschafft ist, wird es hier kaum anders aussehen als am Südkreuz: Alles wohlaufgeräumt und funktionierend; „Dialektik des Fortschritts“ nennt man dergleichen.
Alles? Nein: Ein kleines Stück Wildnis an der Hauptstraße, nahe bei der Brücke, ist, wie es scheint, den Säuberungsplanungen und -aktionen entgangen. Unter Ahorn und hohen Kastanien, deren Laub jetzt, Ende Juli, schon braun wird und verdorrt, wuchern Brombeerhecken; im Herbst werde ich hier sammeln können. Purpurviolett blüht die Taubnessel, blassblau die Wegwarte, weiß die Schafgarbe mit den schmalen, fein gefiederten Blättern, gelb das Habichtskraut, das Schöllkraut, aus dessen Fruchtschoten rotgelber Saft quillt; sie alle überragt mannshoher, dunkelgrüner Beifuß. Dazwischen steckt ein hässliches Sofa krumme Beine in die Höhe, verrosten Büchsen, liegen Scherben umher – ein Ort zum Verweilen ist das nicht. Ein Gleis führt von der Hauptstraße in den dichten Wuchs hinein, weiter östlich auf der Straße ist ein Schienenpaar zu sehen: Hier war einmal, bis in die neunziger Jahre, die Endhaltestelle der 82, mit der man in einer guten dreiviertel Stunde nach Mahlsdorf-Süd gelangte.
Das ist nun ein anderes Kapitel östlicher Verkehrsgeschichte: Während im Westen die Bahn aus dem Straßenbild verschwand, wurde im Osten das Netz erweitert. Spiegelten sich darin Eigenarten der Systeme? Straßenbahnen sind ein billiges Massentransportmittel, der Bus, den der Westen bevorzugte, ist in der Streckenführung flexibler. In den späten Fünfzigern gab es in Ost-Berlin vierundzwanzig Linien, zum Ende der DDR sechsunddreißig. Jetzt sind es zweiundzwanzig, von denen zwei über den Osten hinausführen.
Anfangs kam man weit herum auf diesen Strecken: Mit der 69 vom Walter-Ulbricht-Stadion nach Johannisthal oder mit der erwähnten 82 vom Dönhoffplatz an der Leipziger Straße fast bis an den östlichen Stadtrand. Ein Vergnügen war die Fahrt in den Gothaer Rumpelkästen allerdings nicht, „Strapazenbahnen“ wurden sie genannt. Ende der Sechziger wurde das Netz umgestaltet, die Stadtmitte weitgehend straßenbahnfrei. Von da an setzte die 82 am Ostkreuz ein.
Ich will der Gleisschleife weiter nachgehen, doch ein Zaun versperrt den Weg; eingezäunt ist auch die verfallene Baracke mit Veranda gleich daneben, einst wohl Pausenraum der Mitarbeiter. Aber ich hätte dort wohl ohnehin nichts aus DDR-Zeiten mehr gefunden, weder Dienstpläne noch Betriebszeitungen oder Kalender, nur den langweiligen Müll der 90er Jahre.
Meinen Weg hierher hatte ich über die Brücke genommen; muss ich auf ihr wieder zurück und dann nach links und noch einmal nach links, die Neue Bahnhofstraße entlang, um die Ringbahn zu erreichen? Es hatte doch an der Hauptstraße einen Zugang gegeben, an der einstigen Fahrkartenausgabe: Man lief dahinter ein Stück nach rechts und kam darauf nach oben… Nichts zu sehen von dem Backsteinhäuschen, aber gleich über die Straße entdecke ich eine Lücke im Bauzaun, darüber das „S“ auf grünem Grund: Ohne Umweg geht es hier zum Ringbahnsteig hinauf.