14. Jahrgang | Nummer 14 | 11. Juli 2011

Atomausstieg auf Raten

von Heinz W. Konrad, Bern

Es ist wie immer: Auch die schlimmsten Katastrophen haben eine nur kurze Halbwertzeit, ganz anders als das freigesetzte Spaltmaterial in Fukushima etwa. Nachrichten über die anhaltenden Folgen des anhaltenden Desasters sind längst in den Hintergrund getreten – allüberall ist man zur Tagesordnung übergegangen, auf der in nahezu allen Staaten, die AKWs betreiben, die Kernenergie als unverzichtbar nach wie vor weit obenan steht.
Nicht ganz, denn immerhin gibt es zwei Länder, in denen gegenteilige Konsequenzen gezogen worden sind. Zum einen erfreulicherweise in Deutschland – auch wenn die hiesige Regierung zum Jagen getragen werden musste und dank des kapitalkräftigen Widerstandspotentials der Atomlobby noch nicht alle Messen gesungen sind. Zum zweiten die Schweiz, deren entscheidende Gremien Bundesrat (Regierung) und Nationalrat (Parlament) den Ausstieg der Eidgenossenschaft aus der Atomkraft im Juni ebenfalls verbindlich gemacht haben; ein Veto des Ständerates (Kantonsvertretung) wird nicht befürchtet.
Der Schweizer Fahrplan in die nuklearfreie Energieproduktion ist allerdings ein anderer als der im nördlichen Nachbarland. Zwar hat es auch im politischen Angelegenheiten meist gelassen wirkenden Helvetien Demonstrationen gegeben, bei denen die sofortige Stilllegung aller fünf AKWs gefordert wurde. Das Zeug zur Initialzündung für eine Massenbewegung hatten diese aber nicht. Und so verfügte der siebenköpfige Bundesrat – kollektives Regierungsgremium in Bern –, den Ausstieg dergestalt zu praktizieren, dass die Reaktoren planmäßig auslaufen. Was bedeuten würde, dass bei einer durchschnittlichen Betriebsdauer von 50 Jahren das erste der fünf AKWs 2019 und das letzte 2034 vom Netz gehen würden. Dass – anders als noch bis vor wenigen Monaten geplant – keine neuen Atommeiler gebaut werden, ist bei alledem verbindlicher Konsens.
Praktischerweise ist Bern mit dieser Verfahrensweise dem aus dem Weg gegangen, woran Berlin vermutlich noch sehr zu knabbern haben wird. Milliardenschwere Entschädigungsleistungen können die Schweizer Betreiber nicht stellen und diesbezüglich verlaufsbehindernde Prozesse anstrengen. Dass dafür andere Kanäle genutzt werden, macht die Vorgänge in beiden Staaten allerdings wieder vergleichbar; basteln die Konzerne und ihre medialen Kooperanten doch längst an der Drohkulisse überbordender und für den Bürger nicht mehr zu begleichenden Stromkosten. Bruno Zuppiger malt als Präsident des Schweizerischen Gewerbeverbandes bereits Strompreiserhöhungen von bis zu 100 Prozent an die Wand; ein Schweizer Schelm, der Arges dabei denkt, selbst wenn Strom nun ganz sicher auch nicht billiger wird …
Soweit hier erkennbar, folgt die Mehrheit der Eidgenossen solcher Panikmache nicht. Immerhin gibt die beschlossene Agenda dem Land Zeit, die mittelfristig wegfallenden Energiemengen alternativ zu ersetzen. Noch setzt sich das verfügbare Potential primär aus fast 60 Prozent Wasserkraft und nahezu 40 Prozent Kernenergie zusammen. Letztere anderweitig auszugleichen ist selbst beim skizziert kommoden Zeithorizont alles andere als ein Pappenstiel, macht es doch eine Erhöhung der so gewonnenen Stromproduktion von bislang zwei auf fünf Milliarden Kilowattstunden erforderlich.
Dennoch setzt die Schweiz zuallererst darauf, den Anteil der Wasserkraft weiter zu erhöhen, mit der das Alpenland geradezu gesegnet ist. Im Fokus stehen dabei weniger Großkraftwerke als vielmehr dezentrale Anlagen, mit denen sich bereits jetzt viele Gemeinden komplett oder weitgehend autark versorgen. Den zweiten Schwerpunkt legt der Bundesrat auf massive Stromeinsparungen, nicht zuletzt durch eine wesentlich verschärfte Definierung der „Effizienzstandards“ für sämtliche elektrischen Anlagen und Geräte, die im Land betrieben werden. Gelänge das, so argumentieren die Initiatoren dieses Szenarios, ließe sich der Schweizer Stromverbrauch um bis zu sieben Milliarden Kilowattstunden senken, was dann immerhin allein die Jahresproduktion der AKWs Mühleberg und Beznau ersetzen würde.
Der dritte Schwerpunkt der künftigen Energiestrategie ist der Schweiz nun eigentlich schon peinlich. Rächt sich doch, dass man in der bisherigen Behäbigkeit des wohlgefälligen Ist-Zustandes die Förderung der Energiegewinnung aus erneuerbaren Quellen sträflich vernachlässigt hat. Unabhängig der vom Heimatschutz naheliegender Weise geäußerten Befürchtung, dass das wunderschöne Landschaftsbild des Landes Schaden nehmen würde, wenn man es bedenkenlos mit Windrädern zupflastern würde – Anlagen wie diese führen zwischen Bodensee und Lago Maggiore ein ebensolches Schattendasein wie etwa Erdwärmeanlagen oder solarzellenbewehrte Dachflächen. Gerade für einen effizienten Einsatz Letzterer bietet das sonnenscheinreiche Land aber sehr gute Voraussetzungen. Immerhin: Durch die Berner Beschlüsse aufgescheucht ist mittlerweile schweizweit eine unübersehbare Emsigkeit ausgebrochen, gerade diesem hausgemachten Defizit schnellstmöglich abzuhelfen. Bisher hinderliche Schranken für die Einspeisung von Strom aus Biomasse, Wind-, Wasser- und Solarkraft sollen zügig beseitigt werden. Ein jetzt in Angriff genommenes Kataster aller im Lande für die Gewinnung von Solarenergie infrage kommenden Dachflächen soll helfen, das damit verbundene Potential aus dem Dornröschenschlaf zu erwecken.
Wenn also nun in der Schweiz die Weichen in eine atomenergiefreie Zukunft gestellt sind – im Land mit der mit Abstand entwickeltsten Basisdemokratie und der damit verbundenen Einflussmöglichkeit der Bürger auf die Belange des Gemeinwohls sind natürlich auch Weiterungen denkbar, die in der Lage sind, den geplanten Lauf der Dinge wieder zu ändern, zumindest aber zu relativieren. Die politischen Kräfte der verschiedensten Denkungsart werden nicht untätig bleiben.