14. Jahrgang | Nummer 10 | 16. Mai 2011

„Wir werden die ersten sein!“

von Gerd Kaiser

Im Sommer 1946 wurde der damals weitgehend unbekannte, bald aber als Begründer der sowjetischen Raketenforschung gerühmte Sergej Koroljow in einem vertraulichen Gespräch von seinem Landsmann A. Kreisman, beide stammten aus Shitomir, gefragt, ob er daran glaube, dass es der Menschheit gelingen werde „die sündhafte aber herrliche Erde zu verlassen“. Koroljows Antwort: „Selbstverständlich wird dies eintreten, und wir werden die ersten sein!“
Das Gespräch fand auf einem unweit Nordhausens angelegten provisorischen sowjetischen Übungs- und Erprobungsgelände für ballistische Raketen statt, die von deutschen Wissenschaftlern und Militärs im Auftrag der Wehrmacht entwickelt worden waren und – unter der Tarnbezeichnung „A 4“, ab 1944 unter dem Propaganda-Namen „V 2“ – eine neue Ära der Kriegführung eröffnet hatten. Kreisman, Offizier für Technik, diente in einer eigens für den Verschuss von Raketen gebildeten Brigade unter Generalmajor A. Twerezki. Sie bereitete sich auf den damals noch in Deutschland vorgesehenen Start einer Rakete vom Typ A4/V2 vor.
Ein Jahrzehnt nach dem Gespräch umkreiste der „Sputnik“ die Erde (1957), und anderthalb Jahrzehnte später (1961) war es soweit: Juri Gagarin umrundete als erster Mensch die Erde in der Weltraumkapsel „Wostok“. Koroljows Prophezeiung war verwirklicht, seine Mission jedoch, wie das folgende Jahrzehnt zeigte, noch nicht vollendet.
Überliefert wird die zitierte Anekdote, es ist bei weitem nicht die einzige, in  der liebevoll geschriebenen mehrbändigen Biografie Natalja Koroljowas, der Tochter des „Königs“ der sowjetischen Raketenforschung („Korol“, die Abkürzung des Familiennamens, bedeutet „König“), Sergej Koroljow, und der Chirurgin Ksenija. Kenntnisreich legt die Tochter Zeugnis vom Leben des Vaters (1906 -1966) im Dienste der Raketen- und der Weltraumforschung ab.
Erstmals dokumentieren zahlreiche Briefe familiären Charakters, Denkschriften und Schriftsätze Koroljows zu beruflichen Themen dessen Lebensstationen auf dem Weg zum Ingenieur und Anfang 1932 zum Leiter der Gruppe zur Erforschung der reaktiven Bewegung beziehungsweise als Konstrukteur und Theoretiker, der zum Thema Raketenflug in die Stratosphäre forschte.
Die Jahre zwischen seiner willkürlichen Verhaftung durch das NKWD (1938) bis zum Vorabend des Startes der ersten interkontinentalen ballistischen Rakete vom Typ R-7 (1957), deren Chefkonstrukteur Koroljow war, waren die Jahre, in denen Koroljow Voraussetzungen dafür schuf, den Weltraum zu erforschen. Die ihm verbliebenen Jahre umfassen die Jahre seines Triumphes im letzten Jahrzehnt seines früh, am 14. Januar 1966, vollendeten Lebens.
Seine Ausarbeitungen zu Forschung und Lehre widerspiegeln den zähen Kampf zur Verteidigung und Entwicklung seines Lebenswerks gegen Eingriffe von nicht geringen ursprünglichen Gegnern der Weltraum- und Raketenforschung, wie Jossif Stalin und Lawrentij Berija, sowie deren Erfüllungsgehilfen, die Koroljow dem Tod im Permafrostboden nahe brachten und dessen Forschungen für anderthalb Jahrzehnte im übertragenen und direkten Sinne „auf Eis“ legten. Der Kampf Koroljows und seiner Familie sowie von Freunden wie dem Polarflieger Michail Gromow und der Fliegerin Walentina Grisodubowa, beide Abgeordnete des Obersten Sowjets, die das zähe Ringen am Rande des Abgrundes um das Überleben Koroljows und um die Verwirklichung seiner wissenschaftlichen Ideen zur Entwicklung der Raketentechnik im Dienste seines Vaterlandes unterstützten, sorgten letztendlich dafür, dass Sergej Koroljows Ideen obsiegten und er einen entscheidenden Beitrag zur Erschließung des Weltraums für die wissenschaftliche Forschung und für das Gleichgewicht des Schreckens im Kalten Krieg leisten konnte.
Sergej Koroljow wurde in keiner Phase seines Lebens etwas geschenkt. Seine Lebensstationen und Lebensverhältnisse wechselten abrupt. In Moskau, wo er bis zu seiner Verhaftung zur Entwicklung von Flüssigkeitsraketen und Triebwerken für Flugzeuge forschte und experimentierte, wurde er im Sommer 1940 „wegen Mitwirkung in einer antisowjetischen trotzkistischen Organisation“ von einer Sonderkommission des NKWD zu acht Jahren Lagerhaft verurteilt. Der Häftling in den berühmt-berüchtigten Moskauer „Inneren Gefängnissen“ des NKWD, Lubjanka und Butyrki, kam über Transitgefängnisse und letztendlich per Schiff bis nach Kolyma. Im Lagerverbund „Dalwostotschstroj “ der GULag, der Hauptverwaltung Lager des NKWD, größtenteils jenseits des Polarkreises am Stillen Ozean gelegen, malochte der geniale Forscher mit der Spitzhacke in der Goldmine Maldjak im Tagebau. Von diesem Lebensabschnitt brachte er die Erfahrung über den Umgang des NKWD mit „seinen“ Häftlingen mit: „Sie schlagen zu, ohne Nekrolog.“
Schließlich landete er, was ihm höchstwahrscheinlich das Leben rettete, in einer weiteren perfiden Form der Häftlingsarbeit, in der so genannten „Scharaschka“, den Forschungsgefängnissen des NKWD. In „Gefängnissen ohne Zellen“, gleichwohl ebenfalls mit hartem Regime, wirkte Sergej Koroljow von 1940 bis 1944 an der Entwicklung von Militärflugzeugen mit – anfangs in Moskau, wo seine erste Scharaschka von seinem vormaligen Professor, dem nunmehrigen ebenfalls NKWD-Häftling und gleichfalls weltberühmten Flugzeugkonstrukteur Andrej Tupoljew geleitet wurde, zuletzt in Omsk und Kasan.
Nach einer kurzen Zwischenstation Koroljows in Berlin fiel am 2. Oktober 1945, unweit Cuxhavens, wo die Briten im Beisein ihrer amerikanischen und sowjetischen Verbündeten den Start einer erbeuteten A4/V2 demonstrierten, einem der Offiziere der britischen Militärspionage ein sowjetischer Offizier mit hoher Stirn auf, der die Uniform eines Hauptmanns der Artillerie der Roten Armee trug, jedoch keine Kriegsauszeichnungen hatte. Als Oberstleutnant (bald zum Oberst befördert) trat Koroljow ein knappes Jahr später seinen Dienst im sowjetischen Institut RABE in Bleicherode als Leiter der Gruppe „Wystrel“ („Start“) an. Das Institut hatte kurz nach Kriegsende der sowjetische Raketenforscher Boris Tschertok ins Leben gerufen, für den Koroljow damals noch ein „Niemand“ war.
Hier trugen sowjetische Wissenschaftler gemeinsam mit verbliebenen und neu angeworbenen deutschen Ingenieuren sowie Facharbeitern, insgesamt annähernd 6.000 Fachkräfte, technische und technologische Erfahrungen der deutschen Raketenforschung und -produktion zusammen.
Der ursprünglich noch für 1946 in Thüringen vorgesehene Versuchsstart fand jedoch schussendlich am 18. Oktober 1947 in Kapustin Jar, dem ersten sowjetischen Raketenschießplatz, unter Mitwirkung einer Gruppe deutscher Raketenforscher unter Helmut Gröttrup statt.
Aus dem Häftling am Rande der Welt und am Rande des Todes, Sergej Koroljow, war inzwischen ein Gesprächspartner für Jossif Stalin und Lawrenti Berija geworden. Beide verantwortlich dafür, dass die Forschungen Koroljows und zahlreicher weiterer Wissenschaftler, die die Verteidigungskraft der UdSSR am Vorabend des Krieges deutlich gestärkt hätten, ignorant und unter haltlosen Vorwürfen für Jahre abgebrochen worden waren. Berija sorgte nach der am 13. Mai 1946 von Stalin erlassenen Direktive über die Raketenforschung dafür, dass sein Sohn Sergo die aus den Fischzügen der Sieger übernommenen Forschungs- und Konstruktionsergebnisse auf dem Gebiet der Luftabwehrraketen an führender Stelle zum „sowjetischen Erfolg“ führen konnte. (1953 musste seine Mutter, ebenso wie der Sohn nach der Verhaftung von Berija in Sippenhaft genommen, mit ansehen, wie Sergo einer fingierten Hinrichtung unterworfen wurde. Dessen ursprünglich schwarzer Haarschopf war seitdem schlohweiß.)
Sergej Koroljows Lebensweg als Forscher, Konstrukteur, Lehrer und Organisator der sowjetischen Weltraumforschung zwischen Moskau und Maldjak, zwischen Peenemünde auf Usedom und Bleicherode in Thüringen, zwischen den sowjetischen Raketenstartplätzen Kapustin Jar und Baikonur führte auf Umwegen in den Weltraum. Es war ein Weg vom Häftling bis zum Chefkonstrukteur, der auch unter schweren Bedingungen und in schwierigen Zeitläuften das seine zur Entwicklung eines Kräftegleichgewichts im Kalten Krieg leistete und zum Aufbau einer eigenständigen Raketenforschung und -produktion in der UdSSR sowie der Raketentruppen als selbständiger Waffengattung beitrug.
Schnelle Orientierung in den übersichtlich gegliederten beiden Bänden der Biografie ermöglicht eine Chronik der wichtigsten Lebensdaten. Ein kommentiertes Namensregister gibt Auskunft über annähernd 500 Personen, die entweder versuchten Koroljows, Lebensweg zu durchkreuzen oder ihm zur Seite standen.
Ein kompetenter Übersetzer und ein Lektorat hätten dem von Liebe und Sachkunde geprägten Lebensbild des Vaters der Autorin und zugleich des Vaters der sowjetischen Weltraumforschung gut angestanden.

Natalja Koroljowa: S.P. Koroljow. Vater, Zweites Buch, Elbe-Dnjepr-Verlag, Klitzschen 2010, 366 S., 26,80 Euro.
Dies.: S. P. Koroljow. Vater, Drittes Buch, ebenda, 283 S., 24,90 Euro.
A. S. Kalaschnikow: Start. Raketa uschla. Srelischtsche potrjassajuschtscheje, in: Istoritscheskij Archiv, Moskva, 3/2010, S.140-156.