14. Jahrgang | Nummer 11 | 31. Mai 2011

Von der Wahlverwandtschaft zweier Künstlerpersönlichkeiten

von Klaus Hammer

Sie sind einander nie begegnet, der seit 1926 in Seebüll nahe der dänischen Grenze lebende (und 1956 89-jährig gestorbene) virtuose Maler der Farbe Emil Nolde und der im westfälischen Hagen beheimatete (und 1999 auf Ibiza verstorbene) Emil Schumacher, der als ein Hauptmeister des abstrakten Expressionismus gilt. Aber Nolde hatte eine enge Beziehung zu Hagen, zu dem dortigen Sammler Karl Ernst Osthaus und dem Maler Christian Rohlfs, und 1987 besuchte der fast 75-jährige Schumacher die Nolde Stiftung Seebüll und erinnerte daran, was Noldes Malerei für die Künstler seiner Generation bedeutet habe. Die Nolde Stiftung in Seebüll und die Emil Schumacher Stiftung in Hagen haben nun beschlossen, die beiden Künstlerpersönlichkeiten als nah „verwandte Seelen“ mit einer besonderen Auswahl ihrer Werke sich begegnen und miteinander sprechen zu lassen. Und diese wunderbare Ausstellung kann nun, nachdem sie zunächst in Hagen gezeigt wurde, auch in der Berliner Dependance der Nolde Stiftung besichtigt werden. In sieben Abteilungen werden von beiden Künstlern „Landschaften – Experimente mit Farbe und Form“, „Bergsilhouetten – Gestaltung von Licht und Atmosphäre“, „Wellen und Horizontlinien – Dynamik und Ruhe“, „Wolkenformationen über Erdlinien – das Leichte und das Schwere“, „Bäume – Zwischen Gegenstand und Abstraktion“, „Grotesken und Figuren – Menschenbild und Tierdarstellung“ und „Häuser – Zivilisation und Natur“ von beiden Künstlern gezeigt – und mal ergeben sich gravierende Unterschiede in der Mal- und Gestaltungsweise und mal wieder verblüffende Übereinstimmungen, als ob die konfrontativ angeordnete Bildergruppe ein und derselbe Künstler gemalt habe.
Ein grundsätzlicher Unterschied besteht wohl darin: Schumachers Arbeiten sind aus Linien konstruiert, deren Kolorit sich entweder der Zeichnung unterordnet oder erst nachträglich hinzugetreten zu sein scheint. Bei Nolde hingegen definiert sich die Komposition aus der Platzierung von Farbflächen, deren Ränder durch Farbkontraste entstehen. Auch in den Bergsilhouetten der Schweizer Alpen stehen sich der Kolorist Nolde und der Zeichner Schumacher gegenüber, um Natur in eine jeweils eigene künstlerische Bildsprache von gleicher Intensität zu überführen. Nolde beschränkt sich in „Berglandschaft (blau und grün)“ auf wenige Farben, Schumacher erfindet in „GE-27“ (1992) in wenigen Strichen – und die Umrisslinie des Bergmassivs in kurzen Strichen wiederholend – ein grandioses Panorama. Nolde in der „Küstenlandschaft“ wie Schumacher in der „Flusslandschaft mit Stein“ (1947) erzeugen mit changierenden, von konturierenden Linien eingefassten Farbfeldern – Gelb, Orange, Rot, Braun, Grün, Blau, bei Schumacher kommt noch das Weiß hinzu – das Erlebnis von Weite, indem sie die Farbränder wie Wellensäume horizontal durch das Bild laufen lassen. Auch in der von Nolde 1910/11 gemalten Reihe der „Herbstmeere“ und in Schumachers Werkgruppe „Mossul“ (1986), „Musco I“ (1990) und „Gorim II“ (1996) – seine Titel sind freie Wort-Erfindungen – kreuzen sich die kompositorischen Wege der beiden. Es sind in die gestische Abstraktion geführte, in Farbmaterie aufgelöste Landschaften. In Schumachers Bild „Ohne Titel“ von 1965 – drei zerknüllte Pergamentpapierfetzen treiben auf den schwarz bewegten Wellen – scheint das Spiel von Noldes „Hoher Sturzwelle“ (1948), die sich in dramatischer Aktion vor dem gelb leuchtenden Hintergrund aufbäumt, wieder aufgegriffen worden zu sein. Noldes im Sturm gepeitschter „Baum am Strand“ (1910) scheint im rötlichen Farbenspiel lichterloh zu brennen, aber auch die in Eis und Schnee erstarrten Baumfigurationen in Schumachers „Januar I“ (1993) lassen die gleiche gestische Gebärde erkennen. Gerade bei der Gestaltung von Bäumen wird man leicht einen Schumacher mit Nolde und umgekehrt verwechseln können.
Noldes grotesk deformierte Gestalten in „Seltsame“ (1923) oder „Spukgestalten“ (1931/35) lassen an einen mittelalterlichen Mummenschanz mit aktuellen Anspielungen denken. Dagegen sind Schumachers sonderbare Figuren, so die vogelfüßige Gestalt der Gouache „GS-15“ von 1990, schwarze Schattenwesen, deren Umrisslinien kleine, lebendige Szenen von genrehaftem Charakter einschließen. Die impressionistische, lichtsprühende Malweise Noldes im „Friesenhaus“ (1910) – es ist hier zu einem Bestandteil der Natur geworden – hebt sich ab von Schumachers instabilem Liniengefüge eines Gebäudes in „G 35“ (1980), das sich in seiner Entsprechung des Menschlichen selbst in ein Lebewesen verwandelt hat.
Es ist bei Schumacher nie zu einem starken und bewussten Einfluss Noldes, geschweige denn zu einer künstlerisch auslösenden, seinen Weg bestimmenden Wirkung gekommen. Und doch besteht zwischen ihnen eine Wesensverwandtschaft, wohl auch ein unmittelbarer Zusammenhang, den man nicht nur als bloßen Zufall abtun kann. Das ist bei aller Eigenständigkeit der Bildsprache ihre Hinwendung zur Natur, zur sichtbaren wie unsichtbaren Wirklichkeit, bei aller Weltläufigkeit ihre Erdhaftigkeit und Bodenständigkeit, auch das Einswerden von Künstler und Material im Schaffensvorgang. Die Bildmaterie selbst hat ihre Geschichte, ihr Schicksal, ihren Leidensweg. Nicht der Künstler, sondern die emotionsgeladene Materie spricht.

Nolde/Schumacher. Verwandte Seelen, Dependance Berlin der Nolde Stiftung Seebüll, Jägerstraße 55, bis 19. Juni, täglich 10 bis19 Uhr, Katalog 29 Euro