14. Jahrgang | Nummer 10 | 16. Mai 2011

Ablass zu Ausverkaufspreisen

von Thomas Kuczynski

Diese Rede mit dem Untertitel „Entschädigungsansprüche für Zwangsarbeit im „Dritten Reich“ hielt der Autor auf der Festveranstaltung „10 Jahre Gedenkstätte Ahrensbök“ am 8. Mai 2011.

Die Red.

Verehrte Anwesende:

Heute vor sechsundsechzig Jahren erklärte das Oberkommando der deutschen Wehrmacht die bedingungslose Kapitulation aller deutschen Streitkräfte gegenüber den Oberkommandos der Alliierten Expeditions-Streitkräfte und der Roten Armee. Der Zweite Weltkrieg in Europa war beendet.
Viele Deutsche, wohl die allermeisten, sahen diesen Tag damals und noch über viele Jahre als Tag der Kapitulation, als Tag der Niederlage. Und von ihrer Warte aus hatten sie völlig recht, denn das von ihnen zwölf Jahre zuvor mehrheitlich gewählte und bis zum bitteren Ende aktiv unterstützte Naziregime hatte eine vernichtende Niederlage erlitten und seine bedingungslose Kapitulation erklären müssen. Und die Jüngeren? „Wir waren glühende Nationalsozialisten“, erinnerte sich später eine der Schülerinnen im damaligen Lehrerbildungsseminar Ahrensbök, und für sie stellte sich der achte Mai damals selbstverständlich als eine einzige Katastrophe dar.
Nur wenige Deutsche empfanden diesen Tag schon damals als Tag der Befreiung, in erster Linie diejenigen, die aus Konzentrationslagern, Zuchthäusern und Gefängnissen befreit wurden, die aktiven Widerstand gegen das Regime geleistet hatten, die rassistisch Verfolgten, die ins Exil Gezwungenen, die unter Todesgefahr Verfolgten geholfen hatten, die in die innere Emigration gegangen waren, sie alle sahen den achten Mai als Tag der Befreiung an.
In einigen europäischen Ländern war und ist der achte Mai gesetzlicher Feiertag, in der Sowjetunion beziehungsweise in Russland, der Ukraine und Belarus, in Tschechien und der Slowakei, in Frankreich und so weiter. Er wird dort wie auch in andern Ländern völlig zu Recht als Tag des Sieges begangen, als Djen pobjedy beziehungsweise als Victory in Europe Day.
Im Osten Deutschlands, in der Deutschen Demokratischen Republik, wurde der Tag von Anbeginn und politisch völlig korrekt als Tag der Befreiung des deutschen Volkes vom Hitlerfaschismus gewürdigt. Ich halte diese Konkretisierung für wesentlich, verweist sie doch auf eine häufig übersehene historische Tatsache: Hätte die Rote Armee sich auf die Befreiung der Sowjetunion beschränkt und an deren damaligen Grenzen Halt gemacht, wäre das Konzentrationslager Auschwitz nicht am 27. Januar 1945 befreit worden, wären die Gaskammern und Krematorien in den Konzentrations- und Vernichtungslagern wohl noch sehr lange in Betrieb geblieben.
Im Westen Deutschlands, in der alten Bundesrepublik, mussten vierzig Jahre ins Land gehen, ehe 1985 der erste Mann im Staate, der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker, auf seine Weise und doch nicht so verschieden von den in der DDR Regierenden, den achten Mai als Tag der Befreiung vom menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bezeichnete. Zehn Jahre später proklamierte sein Nachfolger im Amt, Roman Herzog, den Tag der Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee als Gedenktag in Deutschland, als Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus.
In diesem Kontext ist die Eröffnung der Gedenkstätte Ahrensbök zu sehen, deren zehnter Jahrestag heute zu begehen ist. Ihre Vorgeschichte begann allerdings schon Ende der 1990er Jahre, als sich auf Initiative von Pastor Michael Schwer und der späteren Vorsitzenden Barbara Braß die Gruppe 33 bildete, aus der im Jahre 2000 der Trägerverein für die Gedenkstätte hervorging. Neben der eigentlichen Gedenkstättenarbeit ist der Verein einer Vielzahl weiterer Aktivitäten nachgegangen, hat mit dem Wegzeichen-Projekt dem durch Ahrensbök führenden Todesmarsch vom Auschwitz-Nebenlager Fürstengrube ein Denkmal gesetzt, die Geschichte eines der frühen, so genannten „wilden“ Konzentrationslager in Ahrensbök-Holstendorf erforscht und, nicht zuletzt, eine Geschichte der Zwangsarbeit in Ahrensbök erarbeitet.
Ich verweise hier nur auf das Buch Ahresbök. Eine Kleinstadt im Nationalsozialismus, dessen Erscheinen im Jahre 2001 vor allem seinem Hauptautor, Jörg Wollenberg, zu verdanken ist, und zu dem Norbert Fick ein wichtiges Kapitel über Ausländische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene im Arbeitseinsatz 1939-1945 verfasst hat. Fick hatte schon in den 1980er Jahren auf einem Dachboden die komplette Ausländermeldekartei der Gemeinde Ahrensbök für die Kriegszeit entdeckt, in mühsamer Kleinarbeit die 1.294 Namen identifiziert und festgestellt, dass 15 bis 20 Prozent der damals in der 5.000-Seelen-Gemeinde Gemeldeten zivile Ausländer waren, vor allem Zwangsarbeitskräfte und deren hier geborene Kinder. Eines von ihnen, der 1941 geborene Bogdan Siewierski, weilt heute unter uns.
Vor zehn Jahren auch wurde ein juristischer Schlussstrich unter das Thema Zwangsarbeit gezogen und damit die erregte Debatte zu den Entschädigungszahlungen an die im Zweiten Weltkrieg nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeitskräfte beendet. An dieser Debatte war ich insofern beteiligt, als ich damals in einem Gutachten nachgewiesen hatte, was den ehemaligen Zwangsarbeitskräften vorenthalten worden war und was ihnen dementsprechend als Entschädigung zustünde.
Diese Beteiligung war wohl auch Ursache dafür, dass ich die ehrenvolle Anfrage erhalten hatte, ob ich am heutigen Tage einen Festvortrag zum Thema Ablass zu Ausverkaufspreisen. Entschädigungsansprüche für Zwangsarbeit im „Dritten Reich halten könne. Für diese Einladung und für die Gelegenheit, zu dem von den Veranstaltern formulierten Vortragsthema sprechen zu dürfen, möchte ich Ihnen sehr herzlich danken.
In dem Gutachten hatte ich nachgewiesen, dass den ehemaligen Zwangsarbeitskräften Löhne in Höhe von über sechzehn Milliarden Reichsmark vorenthalten worden waren, also umgerechnet rund 180 Milliarden D-Mark beziehungsweise heutzutage 90 Milliarden Euro. Ich kann diesen Nachweis hier nicht in allen Einzelheiten referieren. Jedoch können Sie das und manches zu den Hintergründen der Verhandlungen in einem kleinen Büchlein nachlesen, das hier zum symbolischen Preis von fünf Euro erworben werden kann (Thomas Kuczynski: Brosamen vom Herrentisch. Hintergründe der Entschädigungszahlungen an die im Zweiten Weltkrieg nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeitskräfte. Verbrecher Verlag Berlin 2004).
Der Ausgangspunkt des Gutachtens war im Grunde der gleiche wie der von Hans Frankenthal, der als KZ-Häftling den Aufbau des Buna-Werkes der IG Farben in Auschwitz überlebt hatte. Er hatte als Grundforderung bei allen Entschädigungsverhandlungen in Sachen Zwangsarbeit formuliert: „Den ehemaligen Sklavenarbeitern steht zumindest der bis heute nicht ausbezahlte Arbeitslohn zu.“ Zumindest, denn bei einer so formulierten Forderung wird von all dem abgesehen, was nach bürgerlichem Recht als Schmerzensgeld bezeichnet wird.
Die von Frankenthal formulierte Mindestforderung ist einleuchtend und ihre Basis so einfach, dass sie all jenen, die Löhne oder Gehälter empfangen beziehungsweise zahlen müssen, verständlich sein sollte: Was die Zwangsarbeitskräfte damals zu wenig ausbezahlt bekommen haben, muss ihnen jetzt nachgezahlt werden. So hatte es auch der Jurist Burkhard Heß 1996 formuliert: „[…] maßgebend ist der Lohn, den ein deutscher Arbeiter an der Stelle des ausländischen Zwangsarbeiters verdient hätte.“
Was ich damals nicht wusste ist, dass diese Forderung schon fünfzig Jahre früher erhoben worden war, und zwar von einem Mann, der damals gar nicht so weit weg von hier wohnte, nämlich in Lübeck, also in Schleswig-Holstein. Norbert Wollheim, damals Vorsitzender des Verbandes der Jüdischen Gemeinden Nordwestdeutschlands, hatte als KZ-Häftling Nr. 107 984 fast zwei Jahre als Schweißer für die IG Farben in Auschwitz-Monowitz gearbeitet und war daher der Meinung, dass die IG ihm den damals nicht gezahlten Lohn schuldig geblieben war, er also zu ihren Gläubigern zählte. Der Streitwert im nach dem Kläger benannten Wollheim-Prozess wurde auf 10.000 D-Mark angesetzt, und diese Summe hatte einen sehr realen Bezug. Wollheim hatte in dem Schriftsatz erstens eine Haftzeit von 22 Monaten und zweitens eine Wochenarbeitszeit von 72 Stunden (also 312 Stunden je Monat) genannt, sich drittens auf den 1950 für gelernte Schweißer gezahlten Stundenlohn (1,40 DM) bezogen und viertens nur für die Zeit ab 1. Juli 1951 Verzugszinsen verlangt. Die Multiplikation der Ausgangsdaten (22 Monate × 312 Stunden pro Monat × 1,40 DM pro Stunde) ergibt eine ausstehende Lohnsumme von exakt 9.609,60 DM, also rund zehntausend DM. Ergo hatte Wollheim genau dieselbe Rechnung aufgemacht wie knapp fünfzig Jahre später sein Mithäftling Frankenthal: Den ehemaligen Sklavenarbeitern steht zumindest der bis heute nicht ausbezahlte Arbeitslohn zu.
Dabei war er sich über die seiner Notiz innewohnende Sprengkraft durchaus im Klaren, denn er schloss sie mit dem Bemerken ab: „Sollte es gelingen, ein obsiegendes Urteil im Sinne dieser [seiner] Ansprüche gegen die I.G. Farben zu erlangen, so dürfte damit ein wichtiges Präjudiz hinsichtlich aller Ansprüche geschaffen sein, die unterbezahlte Häftlinge gegen ihre früheren Arbeitgeber geltend machen können.“
Wie Recht Wollheim damit hatte, zeigt die Interpretation des in erster Instanz vom Kläger gewonnenen Prozesses durch die auf Seiten der Industrie argumentierende Presse. Die Wirtschaftszeitung/Deutsche Zeitung hatte nämlich am 11. Juli 1953 unter dem Titel „Wer soll wiedergutmachen? Anmerkungen zu einem Frankfurter Fehlurteil“ die Politiker gewarnt: Wenn das Wollheim-Urteil Rechtskraft erhielte und zum Präzedenzfall würde, dann müsste man es auf „vier bis fünf Millionen Kriegsgefangene, Internierte, KZ-Häftlinge und andere Zwangsarbeiter“ hochrechnen, woraus sich ein Schadensersatzvolumen von 60 bis 80 Milliarden Mark ergäbe. Ohne diese Rechnung im Einzelnen zu analysieren, ist klar: Die deutsche Industrie wusste insgesamt ziemlich genau, welche Beträge sie schuldig geblieben war, um welche Beträge es bei künftigen Entschädigungsverhandlungen gehen würde oder zumindest gehen müsste.
Und wieder offenbart sich eine verblüffende Parallele zu den 1999 (nicht) verhandelten Summen: Wird bei dem 1953 in der Wirtschaftspresse befürchteten Schadensersatzvolumen die seither stattgefundene Geldentwertung berücksichtigt, so wäre 1999 um über 200 Milliarden D-Mark zu verhandeln gewesen. Insofern ist es schon bemerkenswert, wenn der 1999 unmittelbar beteiligte US-Staatssekretär Eisenstadt die in meinem Gutachten genannte Summe als „nicht nachvollziehbare Forderung von 180 Milliarden DM“ bezeichnet hat, ein Mann übrigens, der zuvor als stellvertretender Finanzminister mit solchen Summen tagtäglich Umgang gehabt hatte.
Vor Verhandlungsbeginn (1998) war von den Opfern als Minimum des Anstands eine Zahlung von 10.000 D-Mark pro Kopf bezeichnet worden. Inzwischen ist weitgehend anerkannt, dass die Zahl der während des Krieges auf dem Territorium des „Großdeutschen Reichs“ zur Zwangsarbeit verpflichteten Menschen etwa 15 Millionen betrug. Die sich daraus ergebende Gesamtentschädigung wäre also mit 150 Milliarden nicht so sehr verschieden gewesen von den berechneten 180. Von der deutschen Wirtschaft und der deutschen Regierung gezahlt wurden aber schließlich nur etwas mehr als acht Milliarden. Warum?
Ich möchte vor allem zu sechs Aspekten etwas sagen.
Erstens hat niemand versucht, über den Einzelfall hinausgehend, die in den Akten vorhandenen Daten über Beschäftigte und Löhne unter Berücksichtigung der Steuern, Abgaben und sonstigen Abzüge analytisch auszuwerten. Aber für die Firma Daimler-Benz beispielsweise waren all diese Daten seit Jahrzehnten bekannt. Werden sie buchhalterisch zusammengestellt und mit einem entsprechenden Inflationssatz multipliziert, so ergibt sich, dass der Konzern im Jahre 1999 für eine reguläre Entschädigung knapp 16.000 D-Mark pro Zwangsarbeitskraft hätte zahlen müssen, insgesamt über 1,2 Milliarden D-Mark. Wer meint, diese Zahlung hätte den Nachfolge-Konzern in den Bankrott getrieben oder zumindest Arbeitsplätze gefährdet, möge sich erinnern, dass er im Jahre 1998 einen Gesamtgewinn von über zehn Milliarden DM erzielt hatte. Der Konzern hätte also für eine angemessene Entschädigung weniger als sieben Wochen Gewinn verwenden müssen. Das hätte ihn nicht in den Bankrott getrieben und auch keinen Arbeitsplatz gefährdet, es hätte die Dividende der Aktionäre ein wenig geschmälert und nicht einmal die nächste Großfusion verzögert. Mehr wäre nicht passiert.
Im Übrigen ist natürlich – damals wie heute – festzustellen: Wenn an der Jahreswende 1999/2000 im Kampf um die Übernahme eines (!) Konzerns Beträge von schließlich über 400 Milliarden Mark gezahlt worden sind, dann kann gar keine Rede davon sein, dass nicht genügend Geld vorhanden war, um 180 Milliarden an Entschädigungen zu zahlen. Eine solche gemeinsame (!) Zahlung hätte die Firmen, wie am Beispiel Daimler-Benz gesehen, keineswegs in den Ruin getrieben. Gewiss, die 400 Milliarden für Mannesmann wurden für ein hochprofitables Unternehmen gezahlt, an dem einige Millionen Besitzerinnen und Besitzer von Mobiltelefonen hingen. Die Entschädigungen wären an einige Millionen ehemaliger Zwangsarbeitskräfte gegangen, die zwar während des Krieges sehr profitabel waren, nicht mehr jedoch zu Zeiten der Verhandlungen. Das aber war der einzige Unterschied, und insofern hätten die Erben beziehungsweise Rechtsnachfolger der Zwangsarbeitgeber nicht behaupten dürfen, sie könnten nicht zahlen, sondern ihre Behauptung hätte wahrheitsgemäß lauten müssen: Wir wollen nicht zahlen. Alles andere war Heuchelei.
Zweitens sind auf keiner Seite die Toten berücksichtigt worden. Aber die Entschädigungsansprüche waren aus den wirtschaftlichen Resultaten der geleisteten Zwangsarbeit abzuleiten, und zwar unabhängig davon, ob die Anspruchsberechtigten noch am Leben sind oder nicht. Ein anderes Herangehen hätte die Zahlungspflichtigen aus der Verantwortung gerade denen gegenüber entlassen, die nicht zuletzt wegen der ihnen während ihrer Zwangsarbeitszeit in Deutschland zugefügten physischen und psychischen Schäden inzwischen verstorben oder gar schon während dieser Zeit umgekommen waren. Ein anderes Herangehen hätte, um es ganz deutlich zu formulieren, die Zahlungspflichtigen nachträglich dafür belohnt, dass auf dem Wege der „Vernichtung durch Arbeit“ viele der Zwangsarbeitskräfte mittelbar und unmittelbar umgebracht worden beziehungsweise an den späteren Folgen schon verstorben sind. Im Gutachten selbst wurde zu einem möglichen Zahlungsmodus vermerkt: Ein sehr großer Prozentsatz der Anspruchsberechtigten ist zwischenzeitlich verstorben. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass durch Zwangsarbeit „erwirtschaftete“ Einnahmen und Gewinne prinzipiell als Hehlergewinne zu betrachten und zurückzuzahlen sind. Unseres Erachtens ist diese Seite des Problems nur in der Weise zu lösen, dass die gesamte Entschädigungssumme der von der Bundesregierung vorgeschlagenen Stiftungsinitiative deutscher Unternehmen: Erinnerung, Verantwortung und Zukunft zur Verfügung gestellt wird. Aus dem Fonds Erinnerung und Verantwortung werden die unmittelbar Anspruchsberechtigten entschädigt. Dagegen sollten in die Stiftung Erinnerung und Zukunft nur jene Teile der Entschädigungssumme eingebracht werden, die den verstorbenen Anspruchsberechtigten nicht mehr ausgezahlt werden können. Durch ein solches Vorgehen bliebe überdies der Vorrang des Entschädigungsfonds gegenüber der Stiftung gewahrt; auch wird damit verhindert, dass die Stiftung als „moralische Geste“ den Betroffenen gegenüber erscheint, denn sie basiert in der Tat nur auf den nicht mehr direkt auszahlbaren Entschädigungsbeträgen.
Aber die ansonsten auf keiner Gedenkveranstaltung vergessenen Toten, sie spielten bei keiner der miteinander verhandelnden Parteien eine Rolle. Und da von den ehemaligen Zwangsarbeitskräften zum Zeitpunkt der Verhandlungen nur noch jeder Fünfte am Leben war, reduzierte sich der nicht verhandelte Betrag um achtzig Prozent.
Drittens erhielten die außerhalb der Industrie „eingesetzten“ Zwangsarbeitskräfte nur ausnahmsweise eine Entschädigung. Ich nenne als Fallbeispiel die polnischen Zwangsarbeitskräfte in der deutschen Landwirtschaft, denn zu dieser Fallgruppe hatte sich der Vertreter der Bundesregierung in besonders infamer Weise geäußert: Nach Auffassung des Grafen Lambsdorff sei es seit Jahrzehnten üblich gewesen, polnische Wanderarbeiter in der ostdeutschen Landwirtschaft zu beschäftigen, so dass von Zwang gar keine Rede sein könne. Das Merkwürdige ist nur: Während 1938 keine 70.000 Polen in der deutschen Wirtschaft arbeiteten, darunter auch im Bergbau, in der Bauwirtschaft und anderen Wirtschaftsbereichen, waren Ende September 1940 allein in der Landwirtschaft rund 470.000 „Zivilpolen aus dem Generalgouvernement und den neuen Ostgebieten“ eingesetzt. In den Folgejahren stieg die Zahl von über 650.000 auf knapp 1,2 Millionen. Diese etwa Verzwanzigfachung hielt der Graf für etwas „Übliches“, ihre Gründe schienen ihm und seinen Beratern – darunter ehemals honorige und heute beamtete Historiker – nicht hinterfragenswert.
Dasselbe traf auf die halbe Million Mädchen und Frauen zu, die nach einem Wort der unvergessenen Annekatrein Mendel Zwangsarbeit im Kinderzimmer zu leisten hatten, und auf viele andere Bereiche von Wirtschaft und Gesellschaft. Da die Hälfte der ehemaligen Zwangsarbeitskräfte damals außerhalb der Industrie „eingesetzt“ waren, reduzierte sich der nicht verhandelte Betrag um weitere fünfzig Prozent.
Viertens blieben die völkerrechtswidrig in der Rüstungsindustrie „eingesetzten“ Kriegsgefangenen von jeglicher Entschädigung ausgeschlossen.
Fünftens ließen sich die Vertreter der Opfer auseinanderdividieren. Einer Studie über Zwangsarbeit in Baden ist zu entnehmen, dass die Einführung der „Leistungsernährung“ für indische Gefangene bei der Emmendinger Firma Ramie daran scheiterte, dass die Männer eine Brotzulage mit der Bemerkung ablehnten: alle oder keiner. Das geschah allerdings während des Krieges, als Solidarität das wichtigste Überlebensmittel war, weitaus wichtiger als Brot und andere Lebensmittel. In den Verhandlungen erhielten die deutschen Vertreter von Staat und Wirtschaft nicht diese ihnen gebührende Antwort. Stattdessen stritten die auf der Opferseite Beteiligten über Abstufungen zwischen verschiedenen Kategorien und beteiligten sich auf diese Weise an einem unwürdigen Kuhhandel. Es waren keine Helden, die am Verhandlungstisch saßen, sondern kühl rechnende Juristen und Politiker. Ein Überlebender hat die Entschädigungen, die sie erhalten sollten, zu Recht als „das Letzte an Beleidigung“ bezeichnet (The Final Insult), und viele andere haben sie genau als das empfunden.
Sechstens, und das ist ein besonders bedrückendes Kapitel in dieser Geschichte, das Verhalten der Masse der deutschen Bevölkerung. Die deutschen Konzerne und ihre Regierung hätten niemals mit einer solchen Unverfrorenheit vorgehen können, wenn eine Bevölkerungsmehrheit dieses Landes erklärt hätte: Schluss jetzt mit diesem würdelosen Gezerre auf Kosten der Opfer, die verdammte Industrie soll endlich zahlen. Aber es war eine verschwindende Minderheit, die so dachte und es auch sagte. Die ganz überwiegende Mehrheit wollte endlich einen „Schlussstrich unter die Vergangenheit“ und erklärte: Was kann ich für das, was meine Eltern oder Großeltern getan haben…
So gern sie das vom Großvater gebaute Haus erbten – sofern es schuldenfrei war –, so ungern erinnerten sie sich jenes historischen Erbes, das ihnen ihre Eltern und Großeltern in Gestalt unbezahlter Rechnungen, darunter nicht gezahlter Entschädigungen, hinterlassen hatten. Diese nahezu vollständige Abwesenheit antifaschistischen Bewusstseins in der deutschen Bevölkerung war es, die den deutschen Konzernen und ihrer Regierung ein derartiges Vorgehen ermöglichte.
Daran änderten auch die in den Jahren 1998 bis 2001 geführten Auseinandersetzungen nichts, obwohl der Tenor in den Medien ein partiell durchaus anderer gewesen war, insbesondere in Teilen der lokalen Presse. Woche für Woche berichteten sie über kleine und große Firmen, über kommunale wie private, über Sozial- und Pflegedienste, kirchliche wie kommunale, Lehr- und Forschungseinrichtungen und so weiter und so fort, die noch heute existieren und zu deren „Personal“ damals regelmäßig Zwangsarbeitskräfte zählten. Wenn der Historiker Ulrich Herbert meinte: „Wir suchen noch immer nach einer einzigen Firma, die damals keine Zwangsarbeiter beschäftigt hat“, so hatte er zwar recht, aber auch das ließ einen Großteil der Bevölkerung kalt.
In Anspielung auf Wilhelm Hauffs Märchen Das kalte Herz und eher zu- als überspitzend, schrieb die aus dem mexikanischen Exil zurückgekehrte Schriftstellerin Anna Seghers im Juni 1947, sie lebe „hier im Volk ‚der kalten Herzen‘“. Von diesen kalten Herzen wurde im Geiste des gewöhnlichen Faschismus oder auch des Extremismus aus der Mitte der Gesellschaft in den an Stammtischen geführten Entschädigungsdebatten entweder gemeint, dass die meisten der ehemaligen Zwangsarbeitskräfte aus Osteuropa stammten, also „sowieso bloß Russen und Polacken“ seien, oder aber es wurde einfach behauptet, dass das „alles Juden“ seien.
Einzelne, übrigens aus allen im Bundestag vertretenen Parteien, sprachen gegen die Stammtischparolen des gewöhnlichen Faschismus und für eine anständige Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeitskräfte, organisierten antifaschistische Aktionen auch auf diesem Feld und so weiter. Sie waren übrigens nicht nur im Parlament aktiv, sondern auch und vor allem in Redaktionsstuben und Betriebsräten, in örtlichen Initiativen und Antifa-Gruppen – leider mit sehr geringem Erfolg, denn das Gros der deutschen Bevölkerung strebte keine Entschädigungszahlung an, sondern einen Schlussstrich.
Gerade weil sich diese Mehrheit damals faktisch durchgesetzt hatte, sind solche Einrichtungen wie die Gedenkstätte Ahrensbök und die vielen anderen in diesem Lande von enormer Bedeutung. Sie sind es nicht nur im Sinne einer mahnenden und erinnernden Gedenkkultur, sondern auch und vor allem, um aus dieser Arbeit heraus einen aktiven Einfluss auf das politische Denken und Handeln in der Gegenwart zu nehmen.