14. Jahrgang | Nummer 9 | 2. Mai 2011

Wirklichkeit beschreiben – Ein Gespräch mit Landolf Scherzer

von Kai Agthe

Am 14. April feierte Landolf Scherzer seinen 70. Geburtstag. Wir sprachen aus diesem Anlass mit dem Schriftsteller, dessen Anspruch es seit gut 50 Jahren ist, mit seinen literarischen Reportagen Wirklichkeit beschreiben zu wollen. Im vorliegenden Interview erinnert sich der Autor an seine Studienzeit in Leipzig und seine Arbeit an Bord eines Fischfangschiffes auf dem Atlantik, spricht über die Parallelen bei der Recherche zu den Büchern „Der Erste“ und „Der Zweite“, über das Funktionieren von innerer und äußerer Zensur in der DDR und heute sowie über Weggefährten und Freunde wie Jean Villain, Klaus Schlesinger und Günter Wallraff.

Herr Scherzer, wie fühlen Sie sich mit 70 Jahren?

Im Alter, stelle ich fest, nimmt man sich zurück in seinen absoluten Urteilen. Ich möchte mich nicht mehr so festlegen. Nicht aus Feigheit, sondern weil das jugendliche Temperament fehlt zu sagen: So ist es und nicht anders. Man kann zwar – das weiß ich inzwischen – nichts beeinflussen, weder die ökonomischen noch die politischen Prozesse; als Autor kann ich nur versuchen, die Menschen beim Lesen dazu zu bringen zu erkennen: Ja, so ist die Welt auch. Und meine Lust auf die Ferne ist geringer geworden. Aber die Lust auf Lebensgeschichten ist geblieben.

Wie erinnern Sie sich an die Anfänge Ihres Schreibens an der Fakultät für Journalistik der Leipziger Universität, die im Volksmund das „rote Kloster“ genannt wurde?

„Rot“ war es schon, das stimmt, aber kein Kloster. Der Vorzug der Fakultät war, dass man dort ein gutes journalistisches Handwerk lernte. Natürlich hatten wir auch Unterricht in Marxismus-Leninismus. Aber wichtiger war, dass ich die Kunst, wie man eine Nachricht und einen Bericht, eine Glosse und einen Kommentar schreibt, dort ebenso gelernt habe wie das Verfassen einer literarischen Reportage. Ich belegte zusammen mit Klaus Schlesinger, Axel Kaspar und drei anderen Nachwuchsreportern bei Jean Villain in Berlin einen Sonderkurs zur Reportage. Wir wollten zurück zu Egon Erwin Kisch. Das heißt, wir haben vor Ort recherchiert und daraus eine Gliederung entwickelt und nicht aus den Beschlüssen der letzten Sitzung des ZK der SED. Wir haben damals, in den sechziger Jahren, versucht, Klartext zu reden und zu schreiben. Viele Details waren aber zu wirklich, zu wahrhaftig. Dazu kam das 11. Plenum des ZK der SED, das „Kulturplenum“, im Dezember 1965. Da suchte man auch an der Fakultät für Journalismus in Leipzig nach Gründen, um Exempel zu statuieren. Das war die Zeit, in der ich in meiner Diplomarbeit auch über Personenkult in der DDR geschrieben hatte. Die wurde, obwohl schon angenommen und mit „sehr gut“ bewertet, nachträglich als ideologisch abgewiesen, ich exmatrikuliert und nach Suhl zum „Freien Wort“ „strafversetzt“.

Haben Sie es je bedauert, dass Sie von Leipzig nach Suhl gehen mussten und nicht nach Berlin wechseln konnten?

Dass ich mit Klaus Schlesinger und Axel Kaspar nicht zur „Neuen Berliner Illustrierten“ (NBI) gehen konnte, sondern in die „autonome Gebirgsrepublik“, also nach Suhl, geschickt wurde, dass sehe ich heute, obwohl ich kein grenzenloser Optimist bin, positiv. Bei der NBI wäre ich nur einer von vielen gewesen, die vernünftige literarische Reportagen verfassen konnten. In Suhl jedoch war ich einer der wenigen Autoren, die Beiträge in der Art Kischs schrieben, in denen die Wirklichkeit so dargestellt wurde, dass man sie schmecken, riechen, hören und sehen konnte. In diesen Jahren, genau 1971, habe ich beim Greifen-Verlag auch mein erstes Buch veröffentlicht: „Südthüringen-Panorama – Merkwürdiges zwischen Rennsteig und Rhön“.

Im Jahr 1975 legten Sie dann auch Reportagen aus der Sowjetunion vor. Wie kam es dazu?

Ich habe Anfang der siebziger Jahre die Sowjetunion bereist. Daraus entstand das im Greifen-Verlag Rudolstadt erschienene Buch „Nahaufnahmen – Aus Sibirien und dem sowjetischen Orient“. Das sollte zunächst den Titel tragen „Ergänzung zu einem Wunder“. Es gab einen zweiteiligen Dokumentarfilm über die Sowjetunion von Andrew und Annelie Thorndike, der 1963 uraufgeführt und damals überall gesendet und wiederholt wurde, der hieß „Das russische Wunder“. Und ich wollte mit meinen Reportagen eben kleine Ergänzungen zu diesem Wunder liefern. Ich habe auch geschrieben, dass in Kaluga Betrunkene an den Straßenrändern lagen und es dort keine ordentliche Kanalisation gab. Das war einmal mehr der Versuch, realistisch zu beschreiben. Aber eben nicht zum Zweck der Verleumdung der Sowjetunion, wie man mir später vorhielt, sondern der Darstellung des Unterschieds als Garant der Gemeinsamkeit der sozialistischen Staaten. Dennoch gab es beim „Freien Wort“ für diese Sichtweise eine Parteistrafe.
Dazu kam damals die Geschichte mit dem „Bauernhotel“ auf dem Suhler Ringberg. Das hatte Erich Honecker 1973 versprochen und der Ministerrat hatte dessen Realisierung im März 1974 beschlossen. Aber der Berg war Landschaftsschutzgebiet. Und die für einen Hotelbau nötige Infrastruktur fehlte. Die Folge waren enorme Kosten für das Prestigeobjekt. Es durfte aber im „Freien Wort“ darüber nichts geschrieben werden. Sonst haben wir über jede Grundsteinlegung informiert, aber über den Bau dieses Hotels wurde kein Wort verloren. Ich habe trotzdem darüber geschrieben. Nicht in der Zeitung, sondern im Jahreskalender des Greifen-Verlags. Nach der Parteistrafe bin ich halb gegangen und halb gegangen worden und begann 1975, als freier Autor Bücher zu schreiben, immer in dem Bestreben, die literarische Reportage, wie ich sie bei Jean Villain gelernt habe, umzusetzen.

In der Folge haben Sie Bücher mit Reportagen aus fernen Regionen der Welt vorgelegt. Ich denke da vor allem an Ihr 1987 erstmals erschienenes Buch „Fänger & Gefangene“ über die DDR-Hochseefischer. Was machte den journalistischen Reiz aus, sich auf einem Fangschiff zu verdingen?

Das Wesentliche für mich – und hier bin ich wieder bei dem Versuch soziale Wirklichkeit zu erfassen – war, erleben zu wollen, wie sich Menschen in Extremsituationen beispielsweise an Bord eines Fischfangschiffes verhalten; natürlich verhalten sie sich extrem. Das wollte ich erleben und beschreiben. Ein Schiff, auf dem bei eisiger Kälte in Zwölf-Stunden-Schichten gearbeitet wird, 80 Männer und zwei Frauen an Bord sind, die ihre Aggressionen nirgends austoben können. Es gab auf einem Abstand von nur zehn bis 20 Metern die Kajüte, die Messe für die Mahlzeiten und den Arbeitsbereich. Man konnte nicht nach der Arbeit nach Hause gehen und den Frust an der Frau oder im Sportverein auslassen. Und es herrschte auf dem Schiff dasselbe Prinzip wie in allen volkseigenen Betrieben: sozialistischer Wettbewerb, Veranstaltungen der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft und Wandzeitung der Best-Arbeiter etc. Die Frage, die mich umtrieb, lautete also: Wie funktioniert dieser sozialistische Betrieb und wie verhalten sich die Menschen unter den skizzierten Extrembedingungen? Es zeigte sich, dass der Anachronismus zwischen verordneter Propaganda und gelebter Wirklichkeit hier so deutlich zu Tage trat wie nirgends sonst auf dem Hoheitsgebiet der DDR. Hier ließ sich zeigen, wie idiotisch vieles war, wie Schein und Sein auseinandergingen. Und außerdem konnte ich beschreiben, wie wenig glanzvoll die viel gepriesene sozialistische Arbeit war. Zuvor hatte ich monatelang vergeblich versucht auf einem Schiff zu arbeiten, das heißt, ich erhielt keinen Pass für das Ausland. Bis ich einen Brief an Kurt Hager schrieb und fragte, ob die Parteioberen Angst haben, dass ich über die Eisschollen nach Grönland flüchten würde. Richtig ist, dass wir in der Zeit, in der ich auf dem Schiff arbeitete, wegen einer Havarie einmal einen Tag Landgang im kanadischen St. John‘s hatten, und dass am Ende dieses Tages alle 82 Crewmitglieder wieder an Bord erschienen waren. Man hätte problemlos in Kanada bleiben können … Vor einiger Zeit bin ich von einem Filmteam zu dieser Episode meines Lebens befragt worden. Und der Interviewer wollte immer wieder aufs Neue wissen, wer und warum in St. John‘s abgehauen ist. Ich konnte nur sagen: Es tut mir leid, aber von dem Schiff, auf dem ich gefahren bin, ist keiner geflüchtet. Aber das wollten sie partout nicht hören, dass keiner mit dem Schiff auch das Land verlassen hat. Auch das ist ein Fall von Einseitigkeit bei der Beschreibung von Wirklichkeit, und das ist eine ideologisch verbrämte Einseitigkeit. Wir sind heute teilweise wieder so weit.

Umso wichtiger die Aufgabe von Reportage?

Ja, indem sie Wirklichkeit beschreibt. Aber ohne ein vorgefasstes Klischee zu bemühen, in das die Wirklichkeit hineingepuzzelt wird wie zu DDR-Zeiten. Und das hat man heute sehr oft im Journalismus: Dass da ein Autor mit seiner vorgefertigten Meinung daherkommt und er für diese dann bestätigende Beispiele sucht. Das kann es aber nicht sein. Wenn ich anfange Beispiele zu suchen, um allein meine These bestätigt zu sehen, wird es ideologisch einseitig. Das gilt für die DDR-Vergangenheit genauso wie für unsere Gegenwart.
Das möge man nicht verwechseln mit dem Umstand, dass jeder Autor bei der Darstellung eines Themas andere Akzente setzt, andere Details auswählt. Auch die Reportage ist subjektiv, natürlich. Ich laufe los und befrage Menschen. Im Fall des Buches „Grenz-Gänger“ waren das gut 800 Personen. Ich bin nicht mit dem Vorsatz losgewandert zeigen zu wollen, wie wenig Deutschland zusammengewachsen ist. Wenn ich das gewollt hätte, hätte ich meine Gesprächspartner gezielt ausgewählt und dann das gewünschte Fazit gezogen. So habe ich von 800 Befragten 100 Stimmen ausgewählt. Wäre ein anderer losgezogen und hätte die selben 800 Menschen befragt und daraus 100 Meinungen ausgewählt, wären das 100 andere Menschen und Meinungen gewesen, also wäre das ein anderes Buch geworden. Durch die Auswahl der Details entsteht die Subjektivität, die dem Genre eigen ist.
Westdeutsche Redakteure wollten mir nach der Wende, als ich unter anderem literarische Reportagen für „Die Woche“ und „Die Zeit“ schrieb, immer erklären, dass ich jetzt endlich anfangen müsse, anstelle „subjektiver“ Reportagen „objektive“ Reportagen zu schreiben. Auf meine Frage, wie das funktionieren solle, antwortete man mir: Herr Scherzer, sie schreiben noch immer „ich“: Ich höre, ich gehe, ich sehe. Das sei, so war die Antwort der Redaktionen, subjektiv. Sie wollten lesen: Man hört, man geht, man sieht. Dadurch, so der gedankliche Kurzschluss, erreiche man in der Reportage die gewünschte Objektivität. Ich habe mich an den Kopf gefasst und gefragt, ob sie nicht begreifen, dass es keine „objektive“ Reportage gibt. Egal, ob ich „ich“ oder „er“ oder „man“ schreibe, die Reportage ist durch die subjektive Detailauswahl immer subjektiv.
Das gilt auch für eine Reportage wie „Der Erste“ von 1988. Nur hätte schon damals beim Addieren aller dort erwähnten Details bei mir als Summe das Wissen stehen müssen, dass der Sozialismus so nicht funktioniert. Weil ich aber ein schlechter Rechner bin, kam ich seinerzeit zu dem Ergebnis: Wir müssen den Sozialismus nur besser machen. Das ist so ein Punkt, wo ich mir heute sage: Na Scherzer, du warst in manchen Dingen doch recht gläubig. Ich habe daran geglaubt, dass man eine Alternative zum Kapitalismus entwickeln müsse und könne. Dies auch vor dem Hintergrund meines Geburtsjahres 1941 und meiner Sozialisation. Ich habe Krieg und Nachkrieg erlebt, bin Pionier gewesen und war Teilnehmer des ersten Jugendweihe-Jahrgangs. Ich hatte zwar als Jugendlicher meine Revoluzzerphasen, aber ich habe immer daran geglaubt – es ist das schlichte Wort „glauben“ und deshalb möchte ich nicht mehr glauben –, dass der Sozialismus eine alternative Gesellschaftsordnung sein kann. Wir müssen ihn nur richtig gestalten, gegen all diese Betonköpfe. Das ist meins gewesen.

Als Sie auf dem Fangschiff tätig waren, haben Sie von Anfang an gesagt, dass Sie darüber schreiben wollten oder haben Sie sich erst einmal bedeckt gehalten?

Ich habe mich anfangs bedeckt gehalten. Aber als ich einer von ihnen war, weil ich auch zwölf Stunden am Tag mit aufgequollenen Händen am Band stand, da habe ich es den Kollegen gesagt. Da war das Vertrauensverhältnis bereits so groß, dass zwischen uns keine Differenz mehr entstanden ist. Da war ich aufgenommen in dem Kreis. Und ich habe mich auch nie wieder so gut aufgehoben gefühlt, weil ich nie wieder eine solche Solidarität gespürt habe, nie wieder das Gefühl hatte, dass wir buchstäblich in einem Boot sitzen. Wenn wir untergehen, dann gehen wir alle zusammen unter. Das war für mich die beste Zeit meines Lebens, obwohl es die undankbarste Arbeit war und letztlich das größte Gefängnis, in dem ich gelebt habe.

Und wie waren die Reaktionen nach der Veröffentlichung des Buches?

Die waren sehr unterschiedlich. Während nicht nur die Hochseefischer, sondern viele andere Leser sagten: „Ja, so ist es!“, ließen die Parteichefs vom Fischkombinat Rostock tausende Exemplare von „Fänger & Gefangene“ aufkaufen und einlagern. Der „Fang“ wurde erst nach der Wende bekannt. Mir verbot man nach Erscheinen des Buches, das Fischkombinat zu betreten. Aber ich hatte in „Fänger & Gefangene“ trotzdem schreiben können, wie beschissen die Arbeit auf dem Fischfänger und ich konnte auch schreiben, wie unsinnig der „Linksaußen“, der Politoffizier an Bord, und wie unzureichend oft die Ersatzteilvorräte auf dem Schiff waren. Ich konnte ungeschminkt über die Arbeit auf diesem Schiff, das sich als volkseigener Betrieb verstand, schreiben. Eine schöne Marginalie verbindet sich aber auch mit diesem Buch. Denn die Funker der Hochseeflotte haben damals das Manuskript abgetippt und dann untereinander ausgetauscht und vervielfältigt.

Was bedeutete die politische Wende von 1989 für Sie?

Sie bedeutete für mich das Ende eines Versuchs mitzuhelfen, eine andere Gesellschaftsordnung aufzubauen. Und das späte Eingeständnis, dass man nicht klug genug war, viele Dinge zu durchschauen. Aber nach langem Nachdenken auch die Gewissheit zu sagen: jedes meiner Bücher gehört zu mir. Sie sind alle meine Kinder. Und ich stehe zu dem, was ich geschrieben habe – mit all dem, was ich dabei versäumt habe.
Das Zweite ist der Aspekt der gewandelten Öffentlichkeit. Einerseits brachte der „Spiegel“ etwa in Heft 44/1989 einen Auszug aus dem „Ersten“. Dort und bei anderen Printmedien waren vor der Wende DDR-Autoren, die die Wirklichkeit wahrhaftig beschrieben, gern gesehen und gut im Geschäft. Nicht finanziell, sondern von der Wertigkeit her. Andererseits brauchte uns, die DDR-Schriftsteller, nach der Wende niemand mehr. Die Geschichte war gelaufen. Die Deutungshoheit lag in der alten Bundesrepublik. Die DDR-Schriftsteller wurden nur mehr als Konkurrenten auf dem Markt betrachtet. Das war eine weitere Erkenntnis der Wende.

Und wie gestaltet sich die Arbeit eines literarischen Reporters heute?

Für die Porträtsammlung „Letzte Helden“ über Träger des DDR-Ordens „Held der Arbeit“, haben einige derer, die zu den Ausgezeichneten gehörten, heute nicht mehr mit mir darüber reden wollen. Es gab auch eine Reihe, die, zum Teil noch im Berufsleben stehend, bezüglich ihrer Vergangenheit und Gegenwart sehr auskunftsbereit waren, aber am Ende dann sagten: Tun sie mir einen Gefallen und schreiben sie das nicht, was ich ihnen erzählt habe. Schreiben sie nicht, was ich über die Arbeit gesagt habe, denn dann bin ich vielleicht morgen schon entlassen. Innere und äußere Zensur haben sich verschoben. Dahin gehend, dass ich als Mensch und Reporter zwar meine politische Meinung überall artikulieren kann. Aber ich kann etwa den Arbeitsbereich einzelner Menschen nicht konkret und mit Namen und Adresse beschreiben, weil die darunter leiden würden. Auch deshalb arbeitet ja Günter Wallraff verdeckt. Es gibt, will ich damit sagen, Ähnlichkeiten zwischen den Schwierigkeiten in der DDR und heute Reportage zu machen. Ich möchte über die Probleme der Menschen bei ihrer Arbeit schreiben, weil das ja der entscheidende Lebensbereich eines Menschen ist. In der Kneipe sagen zu dürfen, die Merkel ist blöd, ist nicht entscheidend. Denn die Hälfte der Lebenszeit eines Menschen macht seine Arbeit aus. Über die kann man aber nicht oder nur sehr bedingt schreiben, weil die beschriebene Betriebswirklichkeit als Kritik verstanden wird und für den Einzelnen, der sich darüber äußert, mit Konsequenzen verbunden wäre.

Und wie erinnern Sie sich an die Schwierigkeiten, die die Kulturbürokratie mit Ihren in der DDR erschienenen Büchern hatte?

Im Buch „Spreewald-Fahrten“ von 1975 habe ich etwa über die Umweltverschmutzung durch das Lübbenauer Kraftwerk und die schrecklichen Arbeitsbedingungen dort geschrieben. Ein Protestbrief der Parteiorganisation des Betriebs war die Folge, u.a. mit der Forderung, dass man mein Buch im Bezirk Cottbus nicht ausliefern sollte. Auch das hat es gegeben.

Wie war die Recherche zum Buch „Der Erste“, über den Ersten Bezirkssekretär der SED im Kreis Bad Salzungen, im Vergleich zum Band „Der Zweite“, über den Landrat des inzwischen im Wartburgkreis aufgegangenen Landkreises Bad Salzungen?

Ich habe in beiden Büchern fast alles aufgeschrieben, was ich erlebt habe. Ich war mit dem „Ersten“ nicht auf der Toilette, und ich war in den vier Wochen, in denen ich 1986 Hans-Dieter Fritschler, so hieß der Erste Sekretär der SED-Kreisleitung Bad Salzungen, begleitet habe, nur bei einem Termin nicht zugegen: als er an der Grenze war. Da durfte ich nicht mit. Ich wüsste aber nicht, dass ich beim Schreiben des „Ersten“ etwas weggelassen hätte, weil ich dachte, das dürfe ich nicht schreiben. Alle Erlebnisse, alle wichtigen Details dieser vier Wochen habe ich aufgeschrieben. Ich habe in „Der Erste“ auch festgehalten, weshalb der 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Hans Albrecht, das Manuskript am liebsten als Buch verhindert hätte. Weil er nämlich, wie ich auch schrieb, diktatorisch durchsetzte, dass im Kalikumpeldorf Merkers Häuser gebaut werden und nicht in Bad Salzungen, wo sie viel nötiger gewesen wären. Selbst das steht drin. Das Manuskript war durch die Hauptverwaltung Literatur im Kulturministerium der SED-Bezirksleitung zugeleitet worden. Und daraufhin passierte etwas, was ich heute noch toll finde: Der 1. SED-Bezirkssekretär Albrecht bestellte Kreissekretär Fritschler ein und sagte ihm: Genosse Fritschler, dieses und jenes, was Du in „Der Erste“ gesagt haben sollst, das hast Du nicht gesagt, sondern das hat der Schriftsteller Scherzer erfunden! Hätte Fritschler wider besseren Wissens bestätigt, dass er dieses und jenes nicht gesagt habe, sondern dass es sich Scherzer ausgedacht habe, dann wäre das Buch niemals erschienen. Aber Fritschler hat seinem Vorgesetzten geantwortet, dass alles, was bei Scherzer steht, von ihm, Fritschler, so gesagt worden ist. Zum Beispiel sagte Fritschler, dass ich, Scherzer, als Schriftsteller zweifeln dürfe, niemals aber er als Parteisekretär. Für diese Offenheit und die Courage gegenüber Albrecht bin ich Fritschler heute noch dankbar. Und danach gab es auch keinen Grund mehr, dieses Buch nicht zu veröffentlichen. Erleichternd kam vielleicht hinzu, dass „Der Erste“, 1988 erschienen, in die Zeit von Gorbatschows Glasnost und Perestroika fiel, die Zeit des Aufbruchs. Eine Entwicklung, die ja auch im SED-Politbüro teilweise zum Nach- und Umdenken führte. Deshalb ist es wohl auch durch alle Instanzen gewunken worden. Ich sollte freilich ergänzen, dass es geschlagene acht Jahre dauerte, ehe ich eine Genehmigung erhielt, den Ersten zu begleiten und diese Erlebnisse aufzuzeichnen.

Wie war es Jahre später bei „Der Zweite“, dem Porträt des Landrates Stefan Baldus?

Beim „Zweiten“ war es ganz einfach: Da gab es keine acht Jahre Wartezeit, sondern nur acht Wochen. Und in den acht Wochen des Wartens wurde dem Landrat zwar immer wieder gesagt, dass der Scherzer ein Roter sei und alles in ein schlechtes Licht rücken würde. Der CDU-Landrat Stefan Baldus, der als Offizier aus dem Westerwald nach Bad Salzungen gekommen war, hat jedoch meinem Ansinnen zugestimmt. Auch bei ihm habe ich nur an einem Gespräch nicht teilgenommen. Das war ein Mittagessen mit dem damaligen Kultusminister Dieter Althaus, der anschließend auf einer großen Lehrerkonferenz in Bad Salzungen sprechen sollte. Der Landrat hatte mir am Tag vor dem Besuch gesagt, dass er und seine Frau Minister Althaus zum Mittagessen nach Hause eingeladen hatten und dass es Geflügelbraten und Rotwein geben würde. Zu Beginn der Lehrerkonferenz warteten alle Beteiligten auf das Erscheinen des Ministers und des Landrats. Nach einer halben Stunde kam Althaus in den Saal gehetzt und entschuldigte sich gegenüber dem Auditorium für seine Verspätung mit dem Hinweis, dass die Verkehrsverbindung zwischen Erfurt und Bad Salzungen noch immer so schlecht sei. Das habe ich aufgeschrieben. Und seitdem war ich für Herrn Althaus ein rotes Tuch. Aber der Landrat Baldus selbst war sehr offen und die Recherche an seiner Seite war auch nicht schwierig. Ein Phänomen, das später eben nicht mehr so zu erleben war. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass sowohl die Zeit um 1988 als auch die Zeit um 1992 Umbruchphasen waren. Die Strukturen und die Zensur waren kurz vor der Wende schon geschwächt und nach der deutschen Einheit noch nicht so intakt wie jetzt. Und deshalb gab es die Möglichkeit, in beiden Büchern alles Erlebte detailliert zu beschreiben.

Was verbindet Sie mit Günter Wallraff, dem verdeckten Ermittler der deutschen Literatur?

Günter Wallraff habe ich schon zu DDR-Zeiten kennengelernt, als er zu einer Lesung nach Suhl kam. Ich kannte seine Texte aus dem Kurs von Jean Villain. Nach der Lesung in Suhl stand ein Zuhörer auf und sagte: Herr Wallraff, wir haben hier auch einen der Reportagen schreibt. Kennen sie nicht Landolf Scherzer? Den kannte er natürlich nicht. Danach haben wir dann unsere Bücher ausgetauscht und später etliche Dinge gemeinsam gemacht. Beim „Grenz-Gänger“ ist er die letzten vierzig Kilometer mitgelaufen und hat darüber in meinem Buch geschrieben. Und ich habe vor kurzem eine Laudatio auf ihn halten dürfen. Wir sind von der Mentalität her sehr unterschiedlich, aber uns verbindet in unseren Texten, bei ganz verschiedenen Ansätzen, der Versuch, Wirklichkeit darstellen zu wollen. Undercover zu recherchieren, das könnte ich nicht. Denn ich möchte mit all den Menschen, über die ich schreibe, anschließend noch ein Bier trinken können.

Blieben Sie nach Ihrem Weggang aus Leipzig mit Klaus Schlesinger (1937-2001) und Jean Villain (1928-2006) in Kontakt?

Klaus Schlesinger ging ja in die Bundesrepublik. Wir haben uns aber nach der Wende oft gesehen. Es gab, obwohl er weggegangen ist, auch nach 1990 bei uns einen Gleichklang in der Wahrnehmung der Wirklichkeit. Und Jean Villain ist bis zu seinem Tod mein bester Freund geblieben. Ich sollte, als er schon auf dem Sterbebett lag, seine Autobiografie „Reise ohne Rückfahrkarte – Ein Reporterleben“ (2007) zu Ende schreiben. Ich habe es nicht tun müssen, er schaffte es noch selbst. Er ist für mich einer der politisch und intellektuell weitsichtigsten Menschen gewesen. Es war immer ein Lehrer-Schüler- und ein Vater-Sohn-Verhältnis und eine schöne Freundschaft. Ich wünsche mir oft, dass ich ihn zu dieser und jener Sache fragen könnte. Ich würde mit ihm auch gern über mein jüngstes Projekt, ein Buch über China, sprechen. Da fehlt mir sein Rat. Er hat mir geholfen, viele Dinge anders zu sehen.

Apropos, was sind Ihre nächsten Vorhaben?

Wie gesagt, ein Buch über meine Erlebnisse in China möchte ich schreiben. Unser Medienbild von China ist ja dieses: Einerseits seine Rolle als tragende Säule der Weltwirtschaft; andererseits das Problem der Menschenrechte im Land (Tibet, Friedensnobelpreis). Ich habe mir überlegt, dass es noch etwas dazwischen geben muss: Die Menschen, die in China ihren Alltag leben. In China herrscht weniger Diktatur als es in Tunesien oder Ägypten der Fall war. Menschenrechtsverletzungen in China haben die deutschen Regierungen immer wieder thematisiert, aber kein deutscher Politiker hat je die Menschenrechte in Tunesien oder Ägypten öffentlich angesprochen. So sitzt Scherzer also und versucht ein Buch über China zu schreiben, entgegen dem Mainstream. Wenn ich das Buch beendet habe, dann bin ich, denk ich, beruhigt und zufrieden. Ja und im Aufbau-Verlag erscheint im März ein Band mit Reportagen, die ich kurz nach der Wende geschrieben habe. „Urlaub für rote Engel“ heißt er.
Auch bei Lesungen werde ich, wie jetzt von Ihnen, oft gefragt, was das nächste Projekt sei. Ich sage dann immer: Wenn wir uns jetzt hier alle einschließen würden und genug Proviant und Rotwein hätten, dann würde ich die Geschichte eines jeden von Ihnen aufschreiben. Alle sind interessant. Ich brauche nicht zwingend in die Ferne zu reisen, weil die Lebensgeschichte eines jeden Einzelnen mindestens so spannend ist wie eine Reportage über Feuerland.

Herr Scherzer, wir danken für das Gespräch und wünschen Ihnen alles Gute!

Erstveröffentlichung in Heft 1/2011 der Literaturzeitschrift Palmbaum. Übernahme mit freundlicher Genehmigung des quartus-Verlages und des Autors.