von Judith Dellheim
Die Medien in Deutschland – ausgenommen die „üblich verdächtigen“ linken – wollten nicht so recht über das globale Treffen berichten, zu dem mehr als 80.000 zivilgesellschaftlich Engagierte auf sehr verschiedene Art und Weise und über sehr unterschiedlich lange Distanzen kamen. Und wenn sie über die weit mehr als 700 Workshops, Aktionen, Feiern, Groß- und Kleinveranstaltungen informierten, die vom 6. bis 11. Februar 2011 die senegalesische Hauptstadt und das Leben ihrer Gäste verschönten, ging es meist um Politpromis und Chaos. Politpromis, weil Mainstream-Medien immer „Köpfe“ brauchen, wenn sie etwas ernst nehmen wollen oder müssen. Chaos vor allem deshalb, weil kurz vor dem Forum der linke Rektor der gastgebenden Universität abgelöst und durch einen Mann ersetzt wurde, der nicht links und der dem Weltsozialforum (WSF) nicht freundlich gesonnen ist. Da standen dann Studierende und Lehrende einerseits und WSF-Teilnehmer/innen andererseits vor denselben Räumen und debattierten lachend oder leicht verdrossen, wer denn hier nun wozu rein dürfe. „Na und?“, bemerkte treffend Brandenburgs Finanzminister Dr. Helmuth Markov und verwies auf funktionierende Selbsthilfe, Selbstorganisation und sonnigen Humor. Als erfahrener und begeisterter Sozialforum-Fan verbrachte er Urlaubstage auf dem WSF-Gelände und genoss es, dass er lernen, diskutieren, feiern, Freundinnen und Freunde treffen konnte. „Wisst Ihr, wie ich das Forum fand? Superaffengeil!“ Die Formulierung brachte zahlreiche „Babels“ zum Grübeln, die wiederum hoch engagiert ihre Sprachkenntnisse mobilisierten, um anderen den Austausch und so neue Einsichten und Fragen zu ermöglichen. Was wäre ein Weltsozialforum ohne seine Ehrenamtlichen? Das trifft insbesondere für die seine Medienleute zu, die unter anderem dabei halfen, dass 77 WSF-Workshops in 20 Ländern von Daheimgebliebenen miterlebt werden konnten. Unter diesen sind sehr viele, die gearbeitet und gespendet haben, damit jemand von ihnen in Dakar Kontakte knüpfen kann. Das gilt nicht zuletzt für die Organisatoren von insgesamt zwölf Karawanen, die aus armen Dörfern und Städten Afrikas das WSF erreichten. Darunter war die Karawane der Flüchtlinge von Bamako nach Dakar, die die menschenverachtenden Praktiken von Frontex skandalisierte. Sie warb für das „Recht zu bleiben und das Recht zu gehen“ und wurde gemeinsam mit Aktiven aus Europa realisiert. Sie haben Anteil daran, dass die Themen „Flucht“ und „Migration“ nicht mehr von den Agenden linker Politik verschwinden können.
Das jüngste WSF hat wiederum die Frage aufgeworfen, worin sich der Erfolg eines Sozialforums zeigt. Daran schließen weitere Fragen an wie: Was ist das Fazit von zehn Weltsozialforen? Warum gibt es in Deutschland und Europa keine beziehungsweise kaum lebendige Sozialforumsprozesse, warum sind ihre ermutigenden Anfänge versandet? Versuche, Antwort zu geben, müssen immer wieder an die Geschichte der Sozialforen erinnern. Das erste Weltsozialforum vom Januar 2001 geht auf starke kollektive Akteure zurück, die vor allem in Lateinamerika für emanzipative politische „Aufbruchstimmung“ sorgten. Es war aus sozialen und politischen Kämpfen hervorgegangen und hatte bewiesen, dass linke Politik lebendig, ideenreich und attraktiv sein kann. So konnte es dem Weltwirtschaftsforum der globalen Eliten als Gegenteil und Gegenmacht gegenübergestellt werden. Deshalb entwickelte sich das WSF zum Ort erlebbarer Gemeinsamkeit, wo im Alltag und in Kämpfen gesammelte individuelle und kollektive Erfahrungen ausgetauscht und analysiert werden und in gemeinsame Schlussfolgerungen münden. Zur Geschichte der Sozialforen gehört die Einsicht in die eigenen Defizite und in bisherige Grenzen der Linken. Schließlich musste gefragt und diskutiert werden, warum die neoliberalen Gegner so stark werden konnten; warum der „Staatssozialismus“ gescheitet ist; warum sich alle „klassischen“ Organisationsformen wie „die Arbeiterpartei“ und „die herkömmliche Gewerkschaft“ als untauglich erwiesen haben, die gesellschaftliche Entwicklung nachhaltig zu beeinflussen; warum aber gerade in Lateinamerika Bäuerinnen und Bauern, Landlose, Arme und Indigene – also soziale Gruppen außerhalb der „klassischen linken Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung“ – zu wirksamen sozialen Kämpfen mobilisieren und breite gesellschaftliche Solidarisierung erfahren konnten.
Sozialforen sind also auch Kritik an überkommenen politischen Praktiken und Organisationsformen, an „linker“ Politik, die es nicht verstand, die Würde der/des Einzelnen, ihr/sein Engagement, ihr solidarisches Miteinander, ihre Achtung vor der Natur zu ihrem Ausgangspunkt zu machen. Sie sind Kritik an linker Selbstüberschätzung, arrogantem Wahrheitsanspruch und angemaßter Führungsrolle im Kampf gegen ein „kapitalistisches System“. Sie setzen vermeintlichen „Herausforderungen der Globalisierung“ globale Solidarität von unten entgegen, dem auf „die eigene Region“ oder „den eigenen Nationalstaat“ fixierten Denken und Handeln lokal und regional verankerte globale Bewegungen für eine lebenswerte und daher „andere Welt“. Die „Erfinder/innen“ und Anhänger/innen der Sozialforumsidee orientieren auf souveräne lernwillige, politisch aktive Individuen und Kollektive, vorrangig außerhalb des Parlamentarismus, der Verwaltung und der bewaffneten Kräfte. Da die WSF-Weltpremiere als Gegenpart zum Weltwirtschaftsforum inszeniert wurde, provozierte sie die Mainstream-Medien. Das WSF hat einen großen Anteil daran, dass das Weltwirtschaftsforum seinen Glanz für viele Spitzen in Wirtschaft und Politik verlor. Wenn aber etwas Neues „normal“ wird und der Gegenpart Strahlkraft einbüßt, schwindet Medieninteresse. So scheinen auf dem ersten Blick Weltsozialforen auf dem „absteigenden Ast“ zu verharren. Das ist eine Schattenseite des eigenen Erfolges: Die Sozialforumsprozesse haben viel dafür getan, die Dominanz neoliberalen Denkens und neoliberaler Politik anzugreifen. Sie haben dafür gesorgt, dass sehr unterschiedliche sozial Engagierte und politisch Interessierte zusammengekommen sind. In den Foren sind internationale Netzwerke entstanden, die nunmehr eigenständig intensiv arbeiten. Menschen wurden ermutigt, sich erstmals oder neu politisch zu engagieren. Linke politische (Streit-) Kultur wurde auf ein höheres Niveau gehoben. Die Prinzipien des Forums haben Eingang in viele linke Spektren gefunden. Es hat Diskussionen in mehr oder weniger „klassischen“ Organisationen über Strategien, neue politische Allianzen und neue Kooperationsformen befördert. So entstanden zum Beispiel in Deutschland die Kontaktstellen zur Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen bei der IG Metall und der GEW. Das Kopenhagener Klimaforum 2009 und die Versammlung der Völker zum Klimawandel im bolivianischen Cochabamba 2010 sind nicht erklärbar ohne Sozialforen. Wenn aber so Vieles stattfindet, bedarf es wachsender Anstrengungen, ein Sozialforum als zentralen Treffpunkt zu erhalten und weiterzuentwickeln. Der aber wird gebraucht.
Das Weltsozialforum von Nairobi im Jahre 2009 war das erste in Afrika, dem nunmehr das von Dakar folgte. In Nairobi waren 10.000 Frauen und Männer versammelt und es gab politisch-kulturelle Probleme – vor allem durch die anfangs für Arme unbezahlbaren Eintrittspreise –, die es in Dakar nicht mehr gab. Vor und zwischen beiden Treffen fanden allein in Afrika weit über hundert lokale und regionale sowie mehrere überregionale Sozialforen statt. Neue kollektive Bewegungen sind entstanden. Das sehen „die Medien“ nicht. Aber hier entsteht gesellschaftspolitisch Nachhaltiges. In manchen arabischen Staaten, die plötzlich die Welt überraschten, haben jahrelang immer breiter werdende Sozialforen stattgefunden. In Europa und Deutschland aber denken die Linken noch viel zu sehr in den Kategorien offizieller Politik mit Wahlen, Verwaltungen und Parteien. Das erklärt zum großen Teil ihre anhaltende Schwäche.
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