14. Jahrgang | Nummer 2 | 24. Januar 2011

Gift im Essen – nein Danke!

von Werner Jurga

„Hunger. Wenn ich das schon höre!“ Nun ja, so etwas passierte hin und wieder, wenn einer der Kerle miese Laune hatte. Dann brüllte er uns Jungs an: „Hunger. Ihr wisst doch gar nicht, was das ist: Hunger. Wir damals – wir hatten Hunger!“ Und wir wussten auch schon, wie die Platte weiterläuft. Egal. Offenbar war die Gattin gerade nicht da. Einkaufen oder so. Kein Problem: Wir gingen einfach ein paar Häuser weiter. Wir hatten nämlich Kohldampf. Kein Wunder: Wenn man ein paar Stunden auf dem Bolzplatz Fußball gespielt hatte, dann musste man auch mal etwas zwischen die Rippen bekommen. Genau genommen war das schon ziemlich praktisch. Unser Bolzplatz lag mitten in der Stahlarbeitersiedlung, in der wir alle wohnten. In diesen kleinen Häuschen mit diesen kleinen Vorgärten; und bei einigen war man, wenn man reinkam, direkt in der Küche. Oder die jeweilige Mutter war bei dem gutem Wetter, das wir zum Fußballspielen nutzten, ohnehin im Vorgarten oder Hof – Wäsche aufhängen oder so. Ziemlich praktisch insofern, als dass es galt, nicht allzu viel Zeit zu verlieren. Also riefen wir schon in einer Entfernung, ab der es die von uns auserlesene Mutter hätte hören können, was jetzt an hausfraulichen Pflichten anstand. Wir riefen – wegen der besagten knappen Zeit – einfach „Hunger“, und schon konnte es losgehen mit dem Stullenschmieren.
Mitunter hatte man halt Pech, und Neider hatte man sowieso. Wenn also statt der Stullenschmiererin einer dieser missgünstigen Biertrinker bei seinen nachmittäglichen Reflexionen gestört wurde, fing mit hoher Wahrscheinlichkeit die Dudelei dieser offenbar in allen Haushalten vorrätigen Schallplatte an: „Hunger – dass ich nicht lache! Soll ich Euch mal erzählen, was wirklich Hunger ist?! Aus Kartoffelschalen hatten die Weiber Suppe gekocht. So war das damals! Am schlimmsten war es ja gar nicht im Krieg, sondern nach dem Krieg. Winter 46/47. Ach, was rede ich?! Der Hungerwinter 47/48, der war schlimm, kann ich Euch sagen. Die Hühner hatten wir ja im Winter davor schon alle geschlachtet; da war jetzt natürlich Essig. Und jetzt kommt Ihr an und schreit Hunger. Ich will Euch mal was sagen: Euch geht es allen viel zu gut!“ Ja ja. Wie das so ist: Auch die schärfste Schallplatte wird, wenn man sie zu oft gehört hat, irgendwann einmal langweilig. Und außerdem hatten wir meistens echt keine Zeit für diesen Scheiß. Wir hatten doch nur eine kurze Fußballpause.
Dennoch: Wenn man etwas nur oft genug hört, bleibt eine Menge davon hängen. Unsere Kindheit war deshalb nicht nur ziemlich praktisch, sondern auch sehr lehrreich. Wir lernten, dass das Wort „Hunger“ offenbar zwei zwar irgendwie zusammenhängende, aber doch nicht ganz deckungsgleiche Phänomene beschreiben kann. Einmal das sich mehrmals täglich meldende Primärbedürfnis, etwas zu essen. Ein anderes Mal das vermutlich extrem unangenehme Gefühl, das sich einstellt, wenn man über einen längeren Zeitraum nicht oder nicht hinreichend in der Lage ist, Nahrungsmittel zu akquirieren. Die Ursache des Phänomens Nummer Eins ist ganz natürlich: Rennst Du ein paar Stunden über den Bolzplatz, hast Du Hunger. Fertig. Mit der Ursache für das Phänomen Nummer Zwei scheint es sich offenbar wesentlich komplizierter zu verhalten. Klar war – das lernten wir auch aus ganz anderen Zusammenhängen: Krieg taugt nix. Man konnte zum Beispiel auch ziemlich satt sein. Wenn man es aber nicht rechtzeitig in den Bunker geschafft hatte, …
Sie müssen wissen, dass zufälligerweise direkt neben unserer Stahlarbeitersiedlung eine Stahlfabrik stand (und steht). Und weil die während des Krieges naheliegenderweise Rohre für die Panzer herstellte, wurden wir damals ständig angegriffen. Logisch. Dass der Hunger, also der etwas dauerhaftere, kausal auch durchaus etwas mit dem Krieg zu tun haben könnte, leuchtete mir ebenfalls unmittelbar ein. Entweder Kanonen oder Butter, klar. Dass es aber nach dem Krieg mit dem Hunger schlimmer gewesen sein sollte als im Krieg, fand ich dagegen etwas befremdlich. Nur: so hatten es alle Kriegsberichterstatter in unserer Siedlung erzählt. Als ich das dann später noch in der Schule unterrichtet bekam, verflog mein Verdacht, dass es sich bei dieser Story einfach nur um dummes Zeug handeln würde. Bis ich dahinter kam, dass sich die Alternative Kanonen oder Butter gar nicht so drängend stellt, so lange man andere Leute für sich schuften lassen kann, hat es eine Weile gedauert. Da habe ich wohl etwas auf der Leitung gestanden. Es hätte mir aber auch mal irgendjemand sagen können. Hatte aber keiner. Komisch eigentlich.
Bei Wikipedia ist unter dem Stichwort „Nachkriegszeit“ zu lesen: „Für später Geborene ist es kaum nachvollziehbar, worüber man alles nicht sprach, nicht einmal in den Familien. Statt dessen gab es – freilich nicht wenig – realen Stoff für Klagen (Kriegsgefallene und nicht heimkehrende Kriegsgefangene, Bombenterror, Flucht und dann Vertreibung, Hunger und Kälte), jedoch mit einem den Besatzungsmächten sofort auffallenden ausufernden Selbstmitleid und großem Unwillen, dasjenige Leid und Elend ins Auge zu fassen, das zuvor das nationalsozialistische Deutschland ringsum und in der eigenen Mitte anderen zugefügt hatte.“ Selbstmitleid hin oder her: Das mit dem Hunger (Definition zwei) war blöd. Außerdem traf die während meiner Kindheit übliche Formulierung „schlimmer als im Krieg“ den Nagel nicht so ganz auf den Kopf. Im Krieg hatten die alten Herrschaften nämlich überhaupt keinen Hunger.
Sie hatten auch eigentlich nie etwas Anderes behauptet; sie hatten bloß einen irreführenden Eindruck erweckt. Bestimmt, damit keiner von uns verwöhnten Fußballspielern einen Verdacht schöpfte oder sich gar noch genauer erkundigte. Es durfte nämlich auf keinen Fall rauskommen, dass in all den Kriegsjahren Gift im Essen gewesen war. Im reichhaltigen Essen der Kriegsjahre steckte die Arbeit der von den Deutschen besetzten Völker, die für ihre nicht bestellte Beglückung horrende „Besatzungsgebühren“ zahlen mussten. Im Essen steckte die Maloche der unzähligen Zwangsarbeiter, die nicht für einen Appel und ein Ei, sondern hungernd für die deutschen Herrenmenschen schuften mussten. Im Essen steckte das Blut der Juden, die vor ihrer Vergasung noch der Vernichtungsarbeit ausgesetzt waren. Jeder hatte – nach dem Krieg – die Bilder dieser ausgemergelten Gerippe gesehen.
So mussten sich unsere Vorfahren schon vor siebzig Jahren mit Gift im Essen herumschlagen. Aber: Es hat damals nichts geschadet. Es scheint auch heute nicht wirklich zu schaden. Und Sie wissen ja: Es hört nicht auf. Ständig dieses Gift im Essen. Dieses Jahr soll es besonders schlimm werden. Vermutlich werden diesmal so viele Menschen verhungern wie noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Die Nahrungsmittelpreise sind förmlich explodiert. 2009 hat – wegen der Weltfinanzkrise – die Zahl der Hungertoten auch schon kräftig zugelegt. Dieses Jahr scheint es dicker zu kommen, wenn man das so sagen darf. Es kommen so viele Faktoren zusammen, nicht nur Kriege. Und auch nicht nur die EU-Agrarpolitik – das muss mal gesagt werden!
Zugegeben, die Nahrungsmittel sind bei uns so billig, weil sie in Afrika so teuer sind. Na sicher: Wenn die EU ihre Lebensmittelsubventionen einstellen würde, gäbe es hier einen Rabatz, dagegen wäre der Knatsch jetzt in Tunesien einfach nur Kindergarten. Aber in Tunesien verhungert kein Mensch; und was weiter südlich so läuft, wie gesagt: Da kommen viele Faktoren zusammen. Außerdem: So billig sind die Nahrungsmittel bei uns nun auch wieder nicht. Und wenn die jetzt gar noch teurer werden … Man weiß doch ohnehin schon nicht mehr, was man überhaupt noch essen soll. Essen kann, essen darf. Wenn ich an diese Dioxine denke, die können doch überall drin sein. Ständig dieses Gift im Essen, das hält doch auf die Dauer kein Mensch aus! Sie müssen bedenken, dass wir ja alle ständig älter werden. Da können sich diese Gifte im Körper ganz schön akkumulieren. So kann es jedenfalls nicht weitergehen. Es müsste mal einer kommen und mit diesen ganzen Ganoven ein für allemal aufräumen.
Einmal gab uns eine Mutter, als wir uns über ihren Alten wegen seiner Hunger-Litanei beschwert hatten, den brandheißen Tipp, wir sollten doch statt Hunger demnächst einfach Appetit sagen. Das sei ohnehin gepflegter. Spätestens zu dem Zeitpunkt war mir der Appetit aber vergangen. Das brachte immerhin den Vorteil, dass ich alsbald diese Nachkriegshunger-Schallplatte nicht mehr aufgelegt bekam. Da jedoch in den 1960er Jahren jeder, der nicht mindestens 20 Prozent Übergewicht auf die Waage brachte, als unterernährt galt, bekam ich fortan etwas ganz Anderes zu hören: „Du muss mehr essen, Junge! Du siehst ja aus, wie ein Biafra-Neger.“