13. Jahrgang | Nummer 20 | 11. Oktober 2010

Wissenschaftlich erwiesen!

von Martin Nicklaus

Rückblickend schenkt uns die Geschichte der Wissenschaft einen bunten Strauß skurrilster Ideen, die trotz ihrer  aus heutiger Sicht Schrulligkeit doch einst eine bedeutende Rolle spielten. Beispielsweise stand die Erde nach den im „Almagest“ festgehaltenen und durch die Kirche als der damals höchsten ideologischen Instanz abgesegneten Überlegungen von Ptolemäus runde tausend Jahre im Mittelpunkt unseres Sonnensystems, was damals zugleich den Mittelpunkt der Welt bedeutete. Columbus widerlegte zwar die Theorie von der Scheibenerde, dachte jedoch bis an sein Lebensende, Indien besucht zu haben. Diesem Irrtum setzt noch heute die Bezeichnung der Ureinwohner Amerikas ein Denkmal. Umberto Eco beschreibt in seinem Roman „Die Insel des vorigen Tages“ die Grille vom sympathetischen Pulver, welches aufgebracht auf eine Hiebwaffe die Wunde heilen ließ, die jene verursacht hatte. Eine ähnlich wirkungsvolle Behandlung stellte der oft verordnete Aderlass dar. Schlussendlich geschah in allen Fällen, was Sir Karl Raimund Popper „Falsifizierung“ taufte: Neue Ideen, die die Dinge besser und umfangreicher erklärten, traten an die Stelle der alten.

In unseren aufgeklärten modernen Zeiten unterliegen wissenschaftliche Aussagen einer derart komplexen Analytik, dass Irrtümer, schon aufgrund der historischen Empirie, weitestgehend ausschließt und wir aus den einzelnen Untersuchungen fast so etwas wie abgrundtiefe Wahrheit, wenn nicht gar Weisheit, schöpfen (eigentlich sollte Ironie ja immer kursiv gedruckt werden, empfiehlt Tucholsky). Beispielsweise schrieben Craig Venter sowie das „Human Genom Projekt“ Computerprogramme, welche seitenweise Buchstabenkombinationen auswarfen, von denen wir heute andächtig als das menschliche Genom sprechen, kein bisschen irritiert, dass es zwei verschiedene sind. Genauso galt in der DDR die Weltanschauung vom Marxismus-Leninismus als wahr, weil sie nach Ansicht der Protagonisten und Staatsbürgerkundelehrer wissenschaftlich war.

Womit wir ins  heute anders benannte  Beobachtungsgebiet umsiedeln, in dem den Wirtschaftswissenschaftlern Marcel Tyrell und Marcus Jacob von der „Zeppelin University Friedrichshafen“ mit einer jüngst veröffentlichen Studie ein, sagen wir mal, ptolemäischer Wurf gelang. Die entsprechende Titelzeile von „Fokus online“ komprimierte die Botschaft: „Stasi bremst Wachstum“. Da macht sich deutlich das Fehlen eines Lehrstuhls für Zeitgeschichte in Friedrichshafen bemerkbar, sonst hätte jemand die beiden Wissenschaftler darauf hingewiesen, dass die Stasi vor zwanzig Jahren ihre Tätigkeit  nicht ganz freiwillig  einstellte. Hielte ihre die wirtschaftliche Entwicklung hemmende Wirkung bis heute an, zählte sie zu den machtvollsten Einrichtungen der Menschheit. Das darf bezweifelt werden darf, scheiterte sie doch 1989 so glorios gerade an ihrer Primäraufgabe, der Aufrechterhaltung der Macht der SED, der sie „Schild und Schwert“ war, und stellte sie genau genommen eine Hauptursachen der damaligen Umbrüche dar.

Bei allen Gestaltern und Lenkern, die ihre Hände beim sozial, ökonomisch und kulturpolitisch reichlich vermasselten Anschluss der DDR an das Bundesgebiet im Spiel hatten, fällt diese These dagegen sicher auf fruchtbaren Boden und lenkt von ihrer Unfähigkeit beziehungsweise ihrem Unwillen, von allgemeiner Schlamperei und krimineller Energie ab. Demnach spielen die überstürzte Währungs- und Wirtschaftsunion, die gesamte Planlosigkeit, der Wahn, den Anschluss aus der Portokasse zahlen zu können und die damit verbundene Überlastung der Sozialsysteme, die Deindustrialisierung und grandiose Enteignung der DDR-Bevölkerung durch die Treuhand, die lähmende Regelung „Rückgabe vor Entschädigung“, die sogenannten „Altschulden“ – eingeführt, um den westdeutschen Banken ihre Schnäppchen zu sichern, auf die sie per Übernahme der ostdeutschen Banken Anrecht zu haben glaubten –, der ganze Aufbau Ost, der im Wesentlichen eine Subvention West war und der sich zum Schluss in ein riesiges Abrissprogramm rettete, keine Rolle.

Wie man sieht, nicht jede wissenschaftliche Arbeit bedarf der Falsifizierung, manche sind von Anfang an Unsinn und von Wert nur für Heizzwecke. Aber was soll man von einer Einrichtung erwarten, die der altehrwürdigen Bezeichnung Universität einen Anglizismus vorzieht und im Übrigen über kein einziges Institut verfügt, welches unser menschliches Dasein in irgendeiner Form bereichern könnte, sondern lediglich künftige Eliten in die Esoterik der gerade gängigen Ideologie einführt. So gesehen liegt der Vergleich mit einem DDR-Institut für Marxismus-Leninismus nahe und könnte man sagen: „Alles kommt irgendwie wieder.“