13. Jahrgang | Nummer 20 | 11. Oktober 2010

Die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Großbritannien in Zentralasien zwischen 1917 und 1933

von David Noack

1. Die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Großbritannien waren in den Jahren von 1917 bis 1933 sehr wechselhaft und teils sogar äußerst widersprüchlich. Nach der Sozialistischen Oktoberrevolution im November 1917 unterzeichnete Lenin das „Dekret über den Frieden“, welches die Einstellung der Kämpfe an der Ostfront des Ersten Weltkrieges zur Folge hatte. Durch den Friedensvertrag von Brest-Litowsk zwischen Sowjetrussland und den Mittelmächten am 3. März 1918 schied Moskaus Reich aus dem Großen Krieg aus. Doch das bedeutete für Russland keinen Frieden: Ein Bürgerkrieg zwischen den „Weißen“ und den „Roten“ brach aus. „Weiß“ waren verschiedenste Kräfte, welche sich den „roten“ Bolschewisten in den Weg stellten – unter anderem um das Zarentum wiederzuerrichten oder eine Republik nach westlichem Muster aufzubauen. Im Juni 1918 begann daraufhin eine Intervention der Ententemächte in den russischen Bürgerkrieg. Zehntausende alliierte Soldaten besetzten den Kaukasus, das Gebiet um Archangelsk, das Baltikum, Zentralasien und den Fernen Osten Russlands. Unter ihnen waren rund 40.000 Briten – in allen besetzen Regionen. Die Mission der britischen Soldaten im Baltikum war es unter anderem Sankt Petersburg für die Weißen zu sichern, was jedoch misslang. 1920 zogen sich die meisten Alliierten aus fast dem gesamten Sowjetrussland zurück – jedoch blieb das Land weiterhin isoliert. 1922 verlegte das Kaiserreich Japan auch seine letzten Truppen von Sibirien ins Mutterlande Tokios.

Trotz weitgehender Isolation blieb Sowjetrussland ein wichtiger Faktor in der internationalen Politik. Der britische Premierminister Lloyd George plädierte im Jahr 1920 für eine „Rettung Russlands durch Handel“ – eine Art frühe Version des „Wandels durch Annäherung.“ Aufgrund dieser Absichten wurde am 16. März 1921 ein Handelsabkommen zwischen Moskau und London geschlossen. Sowjetrussland dürfte dem Vertrag zugestimmt haben, da es eine De-facto-Anerkennung darstellte. In Moskau wurde eine britische Handelsmission etabliert. Tatsächlich führte das Handelsabkommen zu einer Stabilisierung des sowjetischen Regimes. Drei Jahre später – am 1. Februar 1924 – nahmen die aus Sowjetrussland und anderen Sowjetrepubliken hervorgegangene Sowjetunion und Großbritannien diplomatische Beziehungen auf. Das Jahr 1924 wurde zum Jahr der Anerkennungen: Auf die Aufnahme diplomatischer Beziehungen durch das Vereinigte Königreich folgten Italien, Norwegen, Österreich, Griechenland, Schweiz, China, Dänemark und Frankreich. Die britische Anerkennung brachte auch noch einmal Fortschritte im Handel: Moskau konnte fortan dringend benötigte Maschinen einführen.

Die sowjetische Außenpolitik war damals zweistufig. Einerseits kooperierte die Sowjetführung mit den Regierungen, andererseits gab es aber auch die Außenpolitik durch die Kommunistische Internationale (Komintern). Die Komintern war ein weltweiter Zusammenschluss aller kommunistischen Parteien. Die Unterstützung der kommunistischen Parteien führte durchaus zu Destabilisierungen der verschiedensten Länder, zum Beispiel den Deutschen Oktober in der Weimarer Republik im Jahr 1923. Die zweite Ebene der Außenpolitik der Sowjetunion war für London vor allem in Britisch-Indien und Irland besorgniserregend. In den 1920er Jahren konzentrierte sich die sowjetische Außenpolitik vor allem auf Deutschland, China und Großbritannien.

In dieser Zeit stieg der britisch-sowjetische Handel stark an. Im gleichen Maße erhöhte sich der Druck in London, pragmatischer mit der Sowjetunion umzugehen. Doch gegensätzliche Interessen in den Gebieten Britisch-Indiens und Zentralasiens sowie diplomatische Affären wirkten dem entgegen. Die Sowjetunion mischte sich – neben der Einflussnahme auf die Kommunistische Partei Großbritanniens – auch in die Tätigkeit der britischen Gewerkschaften ein – so unter anderem im Generalstreik 1926. Die öffentliche Meinung im Vereinigten Königreich kippte schnell. Als Folge der sowjetischen Einmischung griff 1926 die Londoner Polizei die Handelsvertretung der UdSSR in London an. Moskau brach die Beziehungen ab und es gab von 1927 bis 1929 keinen Botschafteraustausch zwischen der Sowjetunion und dem Vereinigten Königreich mehr.

2. Sinkiang ist ein Gebiet im Westen Chinas, nördlich von Tibet und südlich der Mongolei. Relativ lose hatte Sinkiang bereits seit Zarenzeiten gute Beziehungen mit Russland. Im Bürgerkrieg flohen einige „weiße“ Truppen nach Sinkiang, um dem Zugriff der Roten Armee zu entgehen. 1924 etablierte die Sowjetunion diplomatische Beziehungen mit China. Moskau begann daraufhin Konsulate in Nord-Sinkiang zu eröffnen. Insgesamt fünf Konsulate wurden errichtet – unter anderem in Urumqi, der Hauptstadt Sinkiangs. Mittels dieser Konsulate baute die UdSSR ihren Einfluss in Nordsinkiang aus. Zugute kam dieser politischen Offensive, dass der Handel Sinkiangs hauptsächlich nach Moskau ausgerichtet war. In die Sowjetunion gingen 80 Prozent der Exporte der westchinesischen Region, nach Britisch-Indien lediglich 15 Prozent und nach Rest-China fünf Prozent. 1932 führte der Sinkiang-Warlord Jin gemeinsame Operationen mit der Roten Armee gegen kirgisische islamistische Aufständische durch. Die Harmonie in den „bilateralen“ Beziehungen endete, als sich im April 1933 „weiße“ Russen in Sinkiang an die Macht putschen. Daraufhin marschierte die Rote Armee im Januar 1934 in die Region ein.

Sinkiang-in-der-Zwischenkriegszeit

In Sinkiang etablierte sich nach dem Einmarsch eine lokale Warlord-Regierung, die sich auf Druck Moskaus zum „Antiimperialismus“ bekannte. Es wurden sowjetische Berater und Militärs in das Gebiet entsandt, um die lokale Industrie und Armee des Warlords aufzubauen. Russisch wurde zur ersten Fremdsprache in Sinkiang. Doch der Einfluss Moskaus war begrenzt: Er kam vor allem im Norden zur Geltung – gegen Süden Sinkiangs hatte die Sowjetunion und ihre Verbündeten weniger zu sagen. Als Höhepunkt der Beziehungen zwischen Sinkiang und der UdSSR wurde ein Geheimvertrag abgeschlossen, in dem die Sowjetunion versicherte, Sinkiang bei einem Angriff von außen zu verteidigen. Solch ein Angriff hätte von der Zentralregierung Chinas kommen können, von Japan oder dem Vereinigten Königreich. In der Stadt Kumul wurde sogar eine sowjetische Militärbasis eingerichtet.

In den Jahren 1933/34 kam es zu einem islamistischen Aufstand in Kumul. Die Anführer dieser Insurrektion wollten ein unabhängiges Emirat in Sinkiang etablieren und den sowjetischen Einfluss zurückdrängen. Der britische Konsul in Kaxgar wusste um diese Bewegung und schätze ein, dass die Islamisten freundschaftliche Beziehungen zu Großbritannien suchten. Der Aufstand schlug fehl und die Anführer flohen nach Britisch-Indien.

Die sowjetische Präsenz in Sinkiang wurde von Großbritannien sehr kritisch beobachtet. Dem Territorium räumte London eine wichtige Rolle ein, da es zwischen der Sowjetunion und der „Perle des Britischen Imperiums“ – Britisch-Indien – lag. Das Vereinigte Königreich unterhielt in Kaxgar in Süd-Sinkiang damals ein Konsulat und beobachtete die sowjetischen Bemühungen in der Region sehr genau. Auch konnte durch das britische Konsulat in Kaxgar der Einfluss des Nordens Sinkiangs auf den Süden minimiert werden und man verhinderte, dass „Sowjetisch-Sinkiang“ direkt an Indien grenzte. Britische Agenten operierten von Kaxgar aus, um die sowjetische Unterstützung für Aufständische in Indien zu bekämpfen.

3. Bis zum Ersten Weltkrieg war Afghanistan ein Protektorat Londons. Aufgrund nicht eingehaltender Versprechen der Mittelmächte an paschtunische Stämme im Süden des Landes kam es zu einem Aufstand im Grenzgebiet zwischen Afghanistan und Britisch-Indien. Diese führten zum Dritten Anglo-Afghanischen Krieg vom 6. Mai bis zum 8. August 1919. Nach dem Ende des Krieges gewährte Sowjetrussland Afghanistan die diplomatische Anerkennung der Unabhängigkeit. Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern entwickelten sich gut. So half die afghanische Armee, „anti-bolschewistische Elemente“ in Zentralasien zu bekämpfen. Im Mai 1921 unterzeichneten Moskau und Kabul einen Freundschaftsvertrag. Dieser befreite Kabul vom Außenhandelsmonopol Großbritanniens, denn nun konnten Handelsgeschäfte auch über die Nordgrenze Afghanistans abgewickelt werden. Wie Akten beweisen, war Londons Vertreter in Kabul bemüht „alles zu tun“, um eine Annäherung Sowjetrusslands und Afghanistans zu torpedieren. Der damalige Außenminister in London, Lord Curzon, bezichtigte zu dieser Zeit sogar Moskau der anti-britischen Propaganda in Afghanistan, Persien und Indien.

Eine der ersten Maßnahmen, die Großbritannien nach der Etablierung von Beziehungen zwischen Sowjetrussland und Afghanistan durchführte, war die Aufforderung an die Regierung in Kabul, der Sowjetunion die Einrichtung von Konsulaten in der Nähe der Grenze zu Britisch-Indien zu untersagen. Ab 1923 verfolgte Britisch-Indien gegenüber dem sowjetischen Zentralasien eine „Politik der geschlossenen Tür“ – man versuchte, so wenig sowjetische Bürger und Flüchtlinge wie möglich ins Land zu lassen. Außerdem drohte Delhi der Regierung in Kabul damit, Afghanistan von britischen Basen in den Stammesgebieten aus zu bombardieren, nachdem die afghanische Regierung bekannt gab, Waffen aus Italien über die Sowjetunion importieren zu wollen.

Besonderes sowjetisches Misstrauen hatte die Anwesenheit von Thomas Edward Lawrence in Britisch-Indien hervorgerufen. Von 1926 bis 1928 diente der als „Lawrence von Arabien“ berühmt gewordene britische Soldat in der Nordwestlichen Grenzprovinz (NWFP) Britisch-Indiens. Im Ersten Weltkrieg hatte Lawrence Stämme auf der arabischen Halbinsel auf seine Seite gebracht und war mit ihnen gegen die Mittelmächte ins Feld gezogen. Nun befürchtete Moskau, dass Lawrence in der Nordwestlichen Grenzprovinz stationiert war, um den sowjetischen Einfluss im südlichen Zentralasien zu minimieren und den afghanischen König Amanullah zu stürzen. Als bekannt wurde, dass Lawrence sich in der NWFP aufhält, ging ein Aufschrei durch die sowjetische Presse und Moskau legte formalen Protest ein. Die Briten zogen Lawrence aus Britisch-Indien ab. Amanullah war in den Fokus britischer Umsturzbewegungen geraten, da unter ihm Afghanistan zur Heimat für indische Nationalisten wurde. Das war ein klarer Affront gegenüber London.

Im afghanischen Bürgerkrieg seit 1929 unterstützte Moskau sogar Aufständische, die sowjetischerseits als die „natürlichen Feinde Englands“ bezeichnet wurden. Im selben Jahr dankte König Amanullah ab, da aufständische Stämme Kabul bedrohten. Die britisch-sowjetischen Beziehungen in Afghanistan waren durch die gegensätzlichen Interessen der Großmächte in Indien geprägt.

4. Bereits im April 1919 begannen die kolonialen Autoritäten in Indien mit Maßnahmen, um den Einfluss der Oktoberrevolution auf dem südasiatischen Subkontinent zu minimieren. Viele Inder fühlten sich durch den revolutionären Umsturz in Russland und anti-kolonialen Aufständen von Syrien bis China motiviert, für die indische Unabhängigkeit zu kämpfen. Schnell begannen die britischen Geheimdienste, den Einfluss der Bolschewiki zu bekämpfen. Sie starteten anti-sowjetische Propaganda mit dem Ziel, Indiens Streben nach Unabhängigkeit zu unterbinden.

Britisch-Indien galt als das „Kronjuwel des Britischen Empire.“ Viele der Aktivitäten in Afghanistan, Sinkiang, aber auch Persien und Zentralchina hingen mit Britisch-Indien zusammen. 1920 wurde im usbekischen Taschkent – der Hauptstadt der damaligen sowjetischen „Autonomen Sozialistische Sowjetrepublik Turkestan“ – die Kommunistische Partei Indiens (KPI) gegründet. Indien wurde von Lenin als essentiell betrachtet, um „den Osten in Feuer zu setzen.“ Ins selbe Jahr wie die Gründung der KPI fiel der Beginn der sowjetischen Ausbildung einer „Indischen Freiheitsarmee.“ Hierfür wurde eine „Indische Militärtrainingsschule in Taschkent“ eingerichtet – jedoch 1921 wieder aufgelöst. Ab dem Jahr 1922 begannen in Taschkent ausgebildete Revolutionäre über Afghanistan illegal nach Britisch-Indien einzusickern.

Die Kommunistische Partei Indiens war anfangs ziemlich schlecht organisiert. Ihre prominentesten Mitglieder M.N. Roy und R.C. Sharma arbeiteten vor allem im Exil und schmuggelten von dort Propagandamaterial nach Indien. Roy operierte von Deutschland aus und Sharma hielt sich in der französischen Exklave Pondicherry im Südosten Indiens auf. Die Regierung in Britisch-Indien reagierte auf die kommunistische Propaganda, indem sie die Zensur auf dem Subkontinent und die geheimdienstliche Überwachung der Komintern verschärfte. Von 1922 bis 1927 kam es in Peschawar zu fünf weltweit bekannt gewordenen Gerichtsverfahren (den so genannten „Peshawar Conspiracy Cases“), in denen aus Sowjetrussland illegal eingereiste Revolutionäre verurteilt wurden. Nicht immer wurden konkrete Tatbestände gefunden, sondern die Verdächtigen eher präventiv hinter Gitter gebracht. Ein weiteres Verfahren, der sogenannte „Kanpur Case“, führte zu Protesten in Indien und Großbritannien.

1929 – als die Sowjetunion und das Vereinigte Königreich keine diplomatischen Beziehungen miteinander hatten – kam es zum „Meerut Conspiracy Case“. Nach dieser Affäre musste die Führung der Kommunistischen Partei Indiens für bis zu vier Jahre ins Gefängnis. Den KPI-Frontmännern wurde Spionage für die Sowjetunion und die Vorbereitung eines großen Streikes vorgeworfen. Großbritannien hatte die Chance der zu dieser Zeit nicht bestehenden britisch-sowjetischen Beziehungen genutzt und schwächte die Kommunistische Partei Indiens nachhaltig.

5. 1930 endete nach 16 Jahren die Basmachi-Rebellion. Die Basmachi bestanden aus verschiedensten Fraktionen, von Islamisten bis hin zu Kosaken. Der britische Geheimdienst hat wahrscheinlich die Basmachi mit Ausbildern und Waffen unterstützt – die Rolle ist umstritten. Klar ist jedoch, dass der britische Geheimdienst immer sehr gut über die Aktivitäten der Basmachi informiert war. Enver Pascha – bekannt als Jungtürke und im Ersten Weltkrieg Kriegsminister des Osmanischen Reiches – ist 1921 über Britisch-Indien zu den Basmachi gestoßen und unterstützte sie bis zu seinem Tod im Jahr 1922.

1932 warf die Moskauer Zeitung „Iswestija“ dem britischen Geheimdienst vor, die sowjetischen Beziehungen zu verschiedenen Staaten der Welt stören zu wollen. Angestellte der „British Metropolitan-Vickers Electrical Company“wurden 1933 in Moskau wegen Spionage für Großbritannien angeklagt. Die Regierung in London verhängte kurzzeitig ein Embargo über die Sowjetunion. Die Angestellten der Firma wurden verurteilt, jedoch nach Verhandlungen zwischen dem britischen und sowjetischen Außenminister zwei Monate später wieder freigelassen. Das Embargo wurde wieder aufgehoben. Die britisch-sowjetischen Beziehungen befanden sich trotzdem weiterhin in einem Tal.

1933 wurde die „Politik der geschlossenen Tür“ in Britisch-Indien weiter verschärft: Ab diesem Jahr verwehrte die britische Regierung allen sowjetischen Bürgern die Einreise nach Britisch-Indien – ein deutlicher Versuch, die Komintern-Unterstützung für die Unabhängigkeitsbewegungen im Land zu minimieren.

6. Zusammengefasst: Das Verhältnis zwischen Moskau und London war in der Zeit von 1917 bis 1934 zwiespältig – einerseits gewährte man sich gegenseitige Anerkennung, aber andererseits handelten die beiden Großmächte oft auch als Rivalen. Die Sowjetunion sah in Großbritannien seinen Hauptgegner in Asien und bekämpfte das Vereinigte Königreich entsprechend. In London präferierte man eine „Rettung Russlands (vor den Kommunisten – Anm. d. Autors) durch den Handel“, jedoch wurde Großbritannien auch um so pragmatischer, je intensiver der Handel wurde. Besonders besorgt waren die britischen Behörden um Indien, der „Perle des Britischen Imperiums“. Moskau hatte Indien als Hauptziel seiner Politik auserkoren, da man glaubte, durch dessen Souveränität könnten sich alle Unabhängigkeitsbewegungen der Welt motiviert sehen. London wollte eben dies verhindern.