13. Jahrgang | Nummer 19 | 27. September 2010

Der Verfolgte, die Musikvereine und die Normalität

Eine gesamtdeutsche Geschichte

von Eckhard Mieder

Im Juli 2006 stirbt in Kassel ein Mann, der sich auf seiner Visitenkarte als Verfolgter des Stalinismus und als Leiter der Presse und Öffentlichkeitsarbeit und als 2. Vorsitzender der Bezirksgruppe Eisenach im Landesverband Thüringen der Vereinigung der Opfer des Stalinismus e. V. auswies, an Krebs. Zwei Jahre zuvor hatte er den Musikverein von E. angerufen und mit sterbensmüder Stimme darum gebeten, die Blasmusiker mögen an seinem Grab spielen. Er, der Mann, stamme aus A., einem Nachbarort von E., und es würde ihm viel bedeuten, in der Heimat des Osterzgebirges und bei den Klängen einer Bergmannsmelodie beerdigt zu werden. Der Wunsch konnte ihm nicht erfüllt werden, es gab da Unstimmigkeiten.

Ich lernte den Mann 1998 kennen. Er trug einen Schnauzbart, flaggte, wenn er seinen Kleingarten in Kassel betrat, die hessische Landesflagge und war der Initiator eines deutsch-deutschen Kulturversuches. Nämlich wollte er, daß es zwischen einem Musikverein aus dem Baunatal und einem bergmännischen Musikverein aus dem Osterzgebirge zu Begegnungen komme, aus denen eine Freundschaft erwüchse.

Der Mann, ich nennen ihn Herr Sch., war euphorisch. Auch ging die Rede von Fördergeldern für derlei Vorhaben. Herr Sch. meinte, es sei an der Zeit, nicht nur von einer gesamtdeutschen Identität zu sprechen, sie zu erhoffen, sondern an ihr zu arbeiten, sie zu erzeugen. Er wisse, wie es zugegangen sei in der Diktatur. Er verzeihe auch den Folterknechten nicht, aber schließlich seien nicht alle Menschen in der DDR Verbrecher gewesen. Und die Westdeutschen wüssten zu wenig über sie. Auch wenn im Osten im Grunde alles Stasi war, ganz war es doch nicht so. Ein bißchen schien Herr Sch. stets Schaum vorm Munde zu haben, wenn er einerseits seine Erfahrungen in der DDR berichtete und andererseits um sein Freundschafts-Projekt warb. Das Sächsische, wenn es hysterisch wird, neigt zu einem schrill-hohen Ton.

Es gelang Herrn Sch., möglicherweise setzte er seinen Status als Verfolgter des Stalinismus ein, den Mitteldeutschen Rundfunk zu interessieren, über den die Frage an mich kam, ob ich mir eine längere filmische Beobachtung des Projekts vorstellen könnte. Konnte ich, ich machte mich auf den Weg. Am Ende würde ein Film herauskommen, den ich „Einer blase des anderen Marsch“ nannte. Der Titel gehört nicht zu den schlechtesten meiner Headlines, den Film habe ich lange nicht angeschaut.

Nun hat einer, der Filme fürs Fernsehen macht, nicht die besten Karten in der Hand, wenn er über anderthalb Jahre nur dann und wann hinzukommt. In einem Spiel, das viele Akteure kennt, deren Karten nicht immer offen auf den Tisch gelegt werden und deren Motive und Haltungen so viele sind wie ein Musikverein Mitglieder hat, ist es nicht leicht, eindeutige Protagonisten sowie einen Handlungsfaden zu erkennen und die Übersicht zu behalten. Jedenfalls kam es zunächst zum Zusammentreffen von Delegationen im Osterzgebirge.

Herr Sch. hatte das Herz einer Dame gewonnen, deren Mann zu den Gründern des bergmännischen Musikvereins gehörte. Ich nenne sie Frau T. Frau T., selbst keine Musikerin, meinte ob der Verdienste ihres Mannes (der den Verein lange Jahre führte, bis er starb) ein entscheidendes Mitspracherecht in Sachen des Vereins zu haben. Ihr gewissermaßen natürlicher Gegenspieler war ein alter Bergmann, Trompeter und Guide durch das Schaubergwerk von E., Herr W. Zwischen Frau T. und Herrn W. gab es Spannungen, die in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zu den Sympathien zwischen Frau T. und Herrn Sch. standen.

Dann gab es noch Herrn W., einen tüchtigen Malermeister und Vereinsführer der Nordhessen. Auch er verstand sich mit Frau T. aufs Beste, der wiederum ihre Leute (die Ossis aus den Bergen) nachsagten, sie nutze diese angestrebte Freundschaft dafür, ihres Lebens Leere mit den gegenseitigen Besuchen und den dazugehörigen feucht-fröhlichen Abenden zu füllen.

Wie dem auch gewesen sei: Das Ansinnen, sich gegenseitig zu besuchen, miteinander zu musizieren, war ein löbliches. Daß die Westler den Ostlern Partituren zukommen lassen wollten, jetzt, wo sie endlich Zugang zu Liedern hatten, die sie vorher nicht spielen konnten oder durften – das war eine hübsche Geschenkidee des Herrn Sch., der offenbar nicht recht wußte, wie traditionell und professionell der erzgebirgische Musikverein seit Jahrzehnten auftrat. Die Idee starb unbeweint, auch, weil die in ihren eher schlichten Rot-Weiß-Uniformen auftretenden Nordhessen gewissermaßen verblaßten neben den in Handarbeit gefertigten Bergmannstrachten der Bergbewohner. Die Musiker aus E. brauchten keine Partituren, keine abgelegten Instrumente und auch keinen musikalischen Input.

Die Absicht ist das eine, ihre Umsetzung das andere. Wenn ein Musikverein auf Reisen geht, braucht er mindestens einen Bus, Quartiere, die Mitglieder müssen sich auf ein Wochenende einigen und auch darauf, es wirklich miteinander verbringen zu wollen. Ein beträchtlicher Aufwand, der tatsächlich zweimal betrieben wurde. Einmal gab es großes Hallo und ein gesamtdeutsches Musizieren in einer jener Stadthallen, über die jeder dritte etwas größere Ort im Westen Deutschlands verfügt. Einmal musizierten die nordhessischen Musikanten in Rot-Weiß im Kulturraum des Schaubergwerkes. Ich erinnere mich noch, daß ich das erste Mal in meinem Leben bei dem Versuch, einen Kreis aus leer getrunkenen Jägermeister-Flaschen zu bilden – ihre rhombische Gestalt ermöglicht solches –, bald nur noch grün sah.

Es gab dann eine Krisensitzung. Sie fand in eben dem Kulturraum statt, wo die Jägermeister zum Halali geblasen hatten. Es war offenbar geworden, daß sich Freundschaft nicht „organisieren“ ließ. Eine Erfahrung, die den Ostdeutschen eher gegeben war als den Westdeutschen. Denn die hatten einige Anstrengungen etwa der deutsch-sowjetischen Freundschaft in all ihren ernüchternden Facetten hinter sich. Da klappte es eher mit den Tschechen, die über dem Berg in der Nachbarschaft wohnten.

Bei jener Krisensitzung fehlten sowohl Frau T. wie auch Herr Sch. Während Herr W. und Herr N. sich durchaus verstanden. Beide waren Geschäftsmänner, gewissermaßen, und Realisten. Herr W. würde später sagen, daß man sich zwar die Familie nicht aussuchen könne, Freunde aber wohl. Herr N. würde später sagen, daß es aufwendig sei, sich zu besuchen, und daß es mitunter schon schwer genug für die Lebenspartner sei, auf ihren Posaunen-Mann oder ihre Tuba-Frau zu verzichten. Probetermine und Auftritte verschlängen, wenn auch lustvoll, doch etliches an Zeit.

Die Krisensitzung nahm ich noch mit. Dann mußte der Film hergestellt werden, denn eine Dokumentation für das Fernsehen hat in aller Regel eine bestimmte Zahl an Dreh- und Schnitttagen. Der Film wurde fast eine Stunde lang und im Jahre 2000 kurz vor dem „Tag der Einheit“ gesendet.

Zehn Jahre später wollte ich wissen, was aus dem Freundschafts-Versuch geworden war.

Es waren nicht mehr die gleichen Mannschaften. Die Vereinsführungen hatten gewechselt, aber es gab noch Herrn W. und Herrn N., undbeide teilten mir nüchtern mit, daß sich die Freundschaft nicht ergeben habe – so sei halt das Leben, so sei die Normalität. Und Frau T.? Sie sei ein Krebs gestorben, teilte mir Herr W. mit.

Und Herr Sch.? Tja, meinte Herr W., bei dem hätten sie immer so ein komisches Gefühl gehabt. Sie hätten sich erkundigt, im Nachbardorf A., woher Herr Sch. stammte. Er sei zu DDR-Zeiten in den Knast gekommen, weil er ein großes Maul gehabt und es ihm gefallen habe, mit „Heil-Hitler-Rufen“ durch Wald und Heide und durch das Dorf zu ziehen, und mit der Arbeit habe er es nicht so gehabt. Im Gefängnis schließlich sei er, seiner Großmäuligkeit wegen, mehrfach tüchtig verdroschen worden.