13. Jahrgang | Nummer 14 | 19. Juli 2010

Freiheit?

von Heerke Hummel

Seitdem das Bundesarbeitsgericht (BAG) am 23. Juni mit einem Urteilsspruch die bisher bestehende Tarifeinheit aufgehoben hat, wonach in einem Betrieb entsprechend dem Prinzip „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“ nur ein mit der Gewerkschaft ausgehandelter Tarif gültig sein kann, wird nun, wie Kommentatoren meinen, der Fall eintreten können, daß in ein und demselben Betrieb ein Mitglied, sagen wir, einer DGB-Gewerkschaft beispielsweise 7,60 Euro pro Stunde erhält, während sich ein Mitglied zum Beispiel einer christlichen Gewerkschaft mit vielleicht 7,40 Euro zufrieden geben muß. Und der Arbeitsbeginn des Ersteren könnte möglicherweise auf 8.00 Uhr festgelegt sein, der des Letzteren auf 7.30 Uhr. Ein wesentlicher Grund solcher Wende in der Rechtsprechung: „Man hat letztendlich sich dazu entschlossen, daß die Koalitionsfreiheit an dieser Stelle der entscheidende Maßstab ist und daß man durchaus eine Konkurrenz zwischen den verschiedenen Gewerkschaften auch im Betrieb haben kann“, vermutet man in IG Metall-Vorstandskreisen.

Da ist es wieder einmal, das magische Wort „Freiheit“. Freiheit um jeden Preis! Richtig? Nein! Denn immer gibt es auch eine Notwendigkeit, die der Freiheit Grenzen setzt. Und letztlich sind es dann die Interessen der Akteure, die Recht fordern oder setzen. Wessen und was für Interessen also sind hier am Wirken? Klasseninteressen? Gruppeninteressen? Unternehmerinteressen? Solche von „Arbeitnehmern“?

Gewerkschaften sollten einst die Koalition der Arbeiterschaft zur wirksameren Wahrnehmung ihrer Interessen in der Auseinandersetzung mit den Unternehmern organisieren. Die Freiheit, sich zu koalieren, um durch Einigkeit stark zu sein, war – bei sinnvoller Nutzung – eine wichtige rechtliche Errungenschaft. Wird sie nun aber zur Zersplitterung gewerkschaftlicher Kampfkraft mißbraucht, ob mit Absicht oder nicht und von wem auch immer, so gerät die positive Bedeutung des Begriffs Freiheit ins Zwielicht. Vielleicht wäre es besser, vom „Recht auf …“ zu sprechen, um nicht von vornherein jede Einschränkung als Freiheitsberaubung zu diffamieren.

Brachte etwa die Befreiung vom Faschismus den Deutschen 1945 die Freiheit? Es war die Befreiung von einer bestimmten, furchtbaren Geißel auf einem Irrweg. Wie frei und unfrei zugleich die Deutschen in Ost und West dann 40 und nun insgesamt 60 Jahre lang waren – je nach ihrer sozialen Herkunft und Stellung in der Gesellschaft, nach ihrer politischen Ausrichtung, dem konkreten Betrachtungsfeld undsoweiter – wissen wir aus eigener, mehr oder weniger langer Lebenserfahrung. Und 1989/90, als sich 17 Millionen Ostdeutsche selbst von der Bevormundung durch eine Parteiobrigkeit befreiten, um sich dann ins „Reich der Freiheit“ zu begeben, sich ihm anzuschließen? Es waren wieder bestimmte Rechte, die gewonnen wurden, aber auch verloren gingen – je nachdem, von wem und wovon die Rede ist. Manch einer kam vom Regen in die Traufe.

Freiheit? Gar mehr Freiheit? Kann man das gewonnene Recht auf ungehinderte Ausreise mit dem verlorenen Rechtsanspruch auf Arbeit und auf Erwerb des Lebensunterhalts durch Arbeit vergleichen? Sind die freien, zügellosen Spekulationen und Finanztransaktionen von Bank- und Konzernmanagern weniger desaströs als es die Gängelei von Betriebs- und Kombinatsdirektoren durch eine zentrale Parteiadministration war? War es ein Freiheitsgewinn, daß nach dem „Beitritt“ der DDR in den nun ostdeutschen Ländern Kinder plötzlich im Umfeld der Schule zum Kiffen animiert, drogenabhängig gemacht und in ihrer geistigen Reifung behindert werden konnten? Wer von solchen und anderen Problemen nicht betroffen wurde, sieht das alles gewiss weniger dramatisch als jemand, dem sie Existenzängste bereiteten.

Nicht wenige Bürgerrechtler der DDR sind heute enttäuscht davon, was aus ihrem Sieg vor 20 Jahren geworden ist. Manche engagieren sich wieder, zum Beispiel bei der „Akademie auf Zeit Solidarische Ökonomie“ für eine neue „Wende“ (siehe „Das Blättchen“, Nr. 25/2008). Andere, die es durch Anpassung „geschafft“ haben, obenauf sind, lassen sich nun nachträglich ganz allgemein zu Freiheitskämpfern stilisieren, geschehen im jüngsten Wahlkampf um das Amt des Bundespräsidenten. Von „Freiheit und Verantwortung“ war da die Rede. Eine neue Freiheit? Zu Kampfeinsätzen mit unzähligen zivilen Opfern in aller Welt, wo es angeblich um „unsere Interessen“ geht, wo Andersdenkende Widerstand leisten gegen Ausbeutung und das Eindringen unserer Glaubens- und Lebensweise – von Herrn Gauck als ehemaligem Rostocker Pfarrer und Bürgerrechtler für notwendig gehalten? Freiheit, Langzeitarbeitslosen ihren Lebenssinn zu nehmen und sie menschenunwürdig durchzufüttern – von dem ehemaligen Bürgerrechtler ebenfalls toleriert?

Und was hat das alles mit Verantwortung zu tun? Ich sehe überall nur von Egoismus getriebene Verantwortungslosigkeit, bestenfalls Appelle zu „verantwortlichem“ Handeln. Aber diesen zu folgen soll natürlich immer der freien Entscheidung der Akteure überlassen sein, deren Freiheit nicht durch Gesetze zu beschränken ist. Wie lange noch?

Freiheit, so wurde uns im Osten einmal gelehrt, sei Einsicht in die Notwendigkeit – eine nicht selten belachte Meinung. Ich halte sie auch heute für richtig. Allerdings erfordert sie Mut zur Ehrlichkeit, sich selbst und anderen gegenüber. Die Bürgerrechtler hatten ihn mit ihrer lauten Forderung nach Freiheit für die Andersdenkenden. Bei vielen ist er leider nicht mehr zu erkennen.