13. Jahrgang | Nummer 14 | 19. Juli 2010

Ein ehrenwerter Mann

von Bruno Overbeck

Nikolaus Schneider, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland und derzeit Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland, ist ein ehrenwerter Mann. Er ist freundlich. Er ist sympathisch. Er sorgt sich um soziale Gerechtigkeit. Er hat ein schweres Lebensschicksal: Seine Tochter ist an Krebs gestorben. Er könnte den Ratsvorsitz, den er kommissarisch ausübt, auf Dauer übernehmen.

Nun hat Nikolaus Schneider in einer kircheninternen Zeitschrift (EKiR.info 3 vom Juni 2010) den Leitartikel geschrieben. Das Verfassen eines Leitartikels setzt bekanntlich stilistisches Gespür, vor allem aber gedankliche Klarheit voraus. Das sieht dann so aus: „Immer wieder bricht die Frage auf, ob Symbole des christlichen Glaubens im öffentlichen Raum in Erscheinung treten dürfen: Kreuze in Klassenzimmern, in Gerichtssälen? Und grundsätzlicher wird gefragt, ob christlich-jüdische Prägungen des öffentlichen Lebens wie der Rhythmus von Arbeitstagen und Sonntagen nicht eine unzulässige Einengung des Lebens von Menschen in einer pluralen Gesellschaft darstellen.“ Aha: des Lebens von Menschen also, nicht von Hunden, Mikroben oder Delphinen; das scheint wichtig zu sein. Bisher kannte ich nur jüdisch-christliche Prägungen; das Judentum ist schließlich älter und dem Christentum vorausgegangen. Christlich-jüdische Traditionen sind wohl etwas anderes. Was nur? Das Gegenstück vielleicht zu buddhistisch-jüdischen oder muslimisch-jüdischen? Immerhin gehört der Sonntag dazu. Der wird ja von Juden auch so intensiv gefeiert. Wenigstens eines ist aber klar: das Kreuz ist Symbol des christlichen Glaubens. Das sollten wir uns merken.

„Bei der Beantwortung dieser Fragen ringen wir darum, wie wir die Trennung von Staat und Kirche verstehen sollen, die unser Grundgesetz vorschreibt.“ Wer ist wir? Die Kirche etwa? Für die Interpretation des Grundgesetzes ist das Bundesverfassungsgericht zuständig, und das hat in dieser Sache schon eindeutige Urteile gefällt. Es braucht nicht mehr zu ringen. Wie denn überhaupt die Fragen anonym gestellt werden oder aufbrechen, hingegen wir für die Antworten zuständig sein sollen. Nein, umgekehrt ist es: Menschen haben die Frage gestellt, die Antwort ist vom Gericht gegeben. Jede weitere Antwort, die die Entscheidung des Gerichts ignorieren zu können meint, ist unverschämt.

„Staat und Kirche sind einerseits deutlich getrennt, andererseits aber einander zugeordnet und in vielfältigen Kooperationen miteinander verbunden. Damit wird zum Ausgleich gebracht, daß die Kirche keine staatliche Gewalt ausübt und der Staat keine totalitären Ansprüche auf das Denken und den Glauben der Menschen hat.“ Inwiefern da zum Ausgleich gebracht wird und nicht zum Ausdruck, entzieht sich meinem beschränkten Verstande. Wie auch immer: Es scheint ein großer Fortschritt zu sein, daß die Kirche keine staatliche Gewalt ausübt. In der Tat – gemessen an Innozenz III., der die weltlichen Herrscher als Lehensträger des Papstes betrachtete, ist es das. Vielleicht sollten wir auch in einer pluralen Gesellschaft Schneider für seinen Verzicht auf staatliche Gewaltausübung die Füße küssen.

Richtig zur Hochform läuft der Präses mit seinem Beispiel auf: „Das Kreuz im Gerichtssaal … erinnert die Vertreterinnen und Vertreter der Staatsgewalt daran, daß sie zwischen den Menschen und ihren noch so schlimmen Taten unterscheiden müssen. Täter sind für ihre Taten verantwortlich, aber sie sind immer mehr als ihr Tun, sie verlieren durch ihre Tat ihr ‚Menschsein‘ nicht.“ Oh, welche Neuigkeit! Folgt das nicht schon aus dem ersten Artikel des Grundgesetzes? Immerhin: die politisch korrekte, inklusive Sprache hat Schneider gelernt …

„Deshalb dürfen keine endgültigen Urteile gefällt werden, die Todesstrafe verbietet sich“ – sagt mir der Anblick eines Kreuzes! Richtig: daß die Todesstrafe sich verbietet, lehrt mich jedes Hinrichtungs-Instrument – der Galgen, der Richtblock, der elektrische Stuhl. Man sollte Bilder davon in jedem Gerichtssaal anbringen, damit sich Richter, Staatsanwälte und Angeklagte richtig wohl fühlen. Wie nennt man solche Pädagogik?

„Den vor Gericht Gestellten sagt das Kreuz, daß sie jenseits allen menschlichen Beurteilens eine Zukunft als von Gott geliebte Menschen haben.“ Ich stelle mir den Muslim vor, des Ehrenmordes beschuldigt, bei dem der Anblick des Kreuzes diesen Gedanken ganz selbstverständlich auslöst. Ich stelle mir Atheisten vor, die nichts lieber tun möchten, als sich im Gerichtssaal über die Liebe Gottes aufklären zu lassen (Wie und warum Gott seine Menschenliebe eigentlich gerade durch eine Kreuzigung beweisen mußte, darüber gibt es in der rheinischen Kirche zur Zeit eine heftige Diskussion, an der auch Schneider beteiligt ist.) Ich stelle mir Gelegenheitsdiebe vor, Betrüger, Unfallfahrer, wie sie sämtlich vor Rührung weinen angesichts dieses An- und Ausblicks. Ich stelle mir Nikolaus Schneider vor, freudig erregt über den Fund eines Beispiels, das sich so unmittelbar anbietet, das so unbezwingbar logisch ist und das die Lebenswirklichkeit so vollendet abbildet.

„Das Kreuz als Erinnerungszeichen an die bei Gott bewahrte Menschenwürde aller Frauen und Männer ist heilsam für unser Leben als Einzelne und als Gesellschaft – über die Zugehörigkeit zu Konfessionen und Religionen hinaus. Deshalb braucht eine plurale Gesellschaft wertbesetzte Symbole wie das Kreuz – auch in öffentlichen Räumen.“ Eben noch Symbol des christlichen Glaubens – nun Zeichen der Menschenwürde: Schneider weiß offenbar selber nicht, was das Kreuz eigentlich ist. Ein Symbol ist etwas, in dem Wahrnehmbares und Nicht-Wahrnehmbares zusammenfallen; ein Zeichen ist ein wahrnehmbarer Hinweis; ein Zeichen ist kein Symbol und ein Symbol kein Zeichen. Das Wort wertbeständig gibt es, wertbesetzt nicht; denn besetzt werden Plätze oder Länder, aber nicht Symbole. Und welcher Wert es ist, der da besetzt haben soll: die Menschenwürde oder der christliche Glaube? Aber ist der ein Wert? Oder nicht viel mehr? … Das alles verstehe, wer will oder kann. Ich kann es nicht.

Nikolaus Schneider aber ist ein ehrenwerter Mann. Die Brillanz seines Stils verzaubert, der Schwung seiner Rhetorik reißt mit, die Klarheit seiner Gedanken überwältigt. Unter Nikolaus Schneider geht der deutsche Protestantismus herrlichen Zeiten entgegen.