13. Jahrgang | Nummer 14 | 19. Juli 2010

Die Ortskrankenkasse

von Theobald Tiger

Ich komme in eine fremde Stadt
– Kasolz oder Ober-Crammin –
und nehme im Hotel ein Bad,
dann tu ich den Mantel anziehn
und gehe durch den fremden Ort
an Läden und Kirchen vorbei
und gucke hier und da und dort
und seh eine Metzgerei,
das Postamt … eine Bilderschau …
und immer, in jeder Stadt,
steht ein großer, prächtiger, neuer Bau,
den man grade errichtet hat.
Und dann frag ich. Und in jeder Stadt,
die einen turnenden Schutzmann hat,
sagt er auf, wie das brave Kind in der Klasse:
„Das? ist die neue Ortskrankenkasse.“

So ein großes Haus …! Sieh mal einer an …!
Ein riesiger Kasten. Ja, wer so kann!
Das tut jede Verwaltung, die auf sich hält;
die Herren haben wohl sehr viel Geld.
Wenn zwei Deutsche im Hof nämlich Holz zerspalten,
stehn drei andere herum, die das verwalten.
Und ich seh an dem feuchten Neubau hinauf,
und dies steigt vor meinem Auge auf:
Korridore mit vielen Türen,
die alle in kleine Bürozimmer führen.
In den Zimmern ist nichts Besondres los …
Und es gibt zweierlei Sorten von Büros:
Solche, in denen die Buchhaltungsfritzen,
die gewöhnlichen Schreiber sitzen;
die bebrüten Akten und führen Listen.
Das sind die gemeinen Papier-Infanteristen.
Kino, Kollegenklatsch, etwas Sport …
wie schnell das Klassenbewußtsein verdorrt!
Für eine Handlungsvollmacht, für einen Posten
tun sie alles, wobei sie die Chefs nichts kosten.
Und es haben die Mädels in den Buchhalterein einen Wunsch:
Hier raus und geheiratet sein!
Und alle schreiben und schreiben und schreiben
und müssen ewig hinter den Pulten bleiben.
Die schuften ihr ganzes Dasein vergebens.

Doch in den andern Büros
hockt dick und groß
das Ideal des Wirtschaftslebens:

Da sitzt der Mann an der Arbeitsstatt,
der ein Sekretariat und ein Vorzimmer hat,
(über jenen, die an ihren Arbeitsstätten
gern ein Sekretariat und ein Vorzimmer hätten).
Hier wird der Deutsche erst richtig heiter:
kein Mensch mehr – nur noch Abteilungsleiter.
Hier regiert er und wirkt und macht und tut …
Das Telefon klirrt, die Gehirntätigkeit ruht –
denn zwischen Arbeiten und Promenieren
gibts noch ein Drittes: Organisieren.

Hier steigen auf die kolossalen
Ressort-Stunks und die Büro-Kabalen
zwischen wildgewordenen Angestellten,
denn jeder will mehr als der andre gelten.
Hier sägt eine Lokomobile Holz,
mit dem sie geheizt wird.
Und wieviel Stolz,
wieviel Eitelkeit steckt in diesen Puppen!
Sie meinen sich, und sie sprechen von Gruppen,
von Verbandsinteressen und Gemeinschaftsideen
und können nicht bis zur Türe sehn.
Hör zu, mein Kind:
Diese Leute sind
in geschäftiger Faulheit und wackrer Routine
der Leerlauf der deutschen Verwaltungsmaschine.

Es ist ein schwerer Krankheitsfall.
Und das ist über-, überall:
Ob Ortskrankenkasse, ob Filzfabrik;
ob Finanzamt, ob Hochschule für Musik;
ob Stadttheater, ob Magazin,
ob Eisenhütte oder Farbindustrien:
Stets sitzt auf jedem Unternehmen
– neben jenen, die andern das Brot wegnehmen –
ein Ballon der Verwaltung, dick und breit,
eine Allegorie der Nutzlosigkeit.
Denn dieser ganze Verwaltungstrara
ist nur um seiner selbst willen da.
Sie glauben, dass sie in USA sind,
und haben vergessen, wozu sie da sind.
Kranke Proleten und deren Interessen …?
Vor lauter Verwaltung total vergessen.
Noch eine neue Kartothek,
noch eine Quittung und noch ein Beleg –
Ingenieure? ein Kumpel? ein Prolet?
Ein Kerl, der an seinem Schraubstock steht?
Muß sein. Das ist ja alles ganz richtig.
Aber wichtig?
Verwaltung ist wichtig.

Für die ist Geld da. Für die die neuen
Kästen, die wie die Festungen dräuen.
Forts des Leerlaufs und Depots der Papiere.
Drinnen Juristen … alte Offiziere …
Steh am Schraubstock, du Ochse – laß deine Maschinen
laufen, du Tor – du wirst nichts verdienen.
Verdienen tut der, der verwalten kann:
der ist für die Wirtschaft der richtige Mann.

Und so vegetieren die betrogenen Massen
als Zwangsabonnenten von Ortskrankenkassen.

Die Weltbühne, 03.06.1930, Nr. 23