13. Jahrgang | Nummer 8 | 26. April 2010

Aufstieg und Fall eines Diktators

von Klaus Hammer

Seit November vergangenen Jahres gehen nun schon die Richard-Wagner-Festwochen der Deutschen Oper Berlin und sie sind noch nicht zu Ende. Als Auftakt kam letztmalig „Tristan und Isolde“ in der bewährten Inszenierung von Götz Friedrich auf die Bühne, bevor im nächsten Jahr eine Neuinszenierung folgen wird. In diesem Kammerspiel der Leidenschaften, das eine Balance zwischen prägender äußerlicher Konvention und brodelnder Obsession darstellt, gab der englische Heldentenor Ian Storey einen erschütternd ehrlichen Tristan zwischen Manie und Depression, während Evelyn Herlitzius mit leuchtendem Sopran und furioser Darstellung eine mitreißende, fesselnde Isolde gestaltete. „Lohengrin“, „Tannhäuser“, „Der Fliegende Holländer“, „Die Meistersinger von Nürnberg“, ebenfalls in der Inszenierung von Götz Friedrich, doch mit neuer hochkarätiger Besetzung standen weiterhin auf dem Programm. Das selten aufgeführte Jugendwerk Wagners, „Rienzi, der letzte der Tribunen“, ist eine Neuproduktion von Philipp Stölzl und kommt erstmals auf diese Opernbühne. Und nun folgt noch der zeitlose „Ring des Nibelungen“ von Götz Friedrich und Peter Sykora, den es in der Tat zu bewahren gilt, denn hier ist mit einer aussagekräftigen Botschaft zu Wagners Weltuntergangsepos Stellung bezogen worden. Das gerade angesichts manch szenisch und musikalisch beliebiger Deutung von Wagners „Ring“ in jüngster Zeit.

Regietheater heißt, daß der Regisseur dem zu inszenierenden Werk seine Ideen und Welterklärungen unterlegt, und unter diesem Aspekt ist auch Stölzls vieldiskutierte „Rienzi“-Fassung zu betrachten. Wagner hatte an ein musikdramatisches Plädoyer für die radikale Änderung aller politischen und gesellschaftlich-moralischen Verhältnisse gedacht. Doch diese Änderung blieb aus, weil Rienzi, schon bei Wagner eine historisch zwielichtige Figur, an den Umständen, an seinen politischen Gegnern, am Volk und vor allem an sich selbst scheiterte. Aus dem Möchtegern-Cäsar wurde ein „hochbegeisterter Schwärmer, der wie ein blitzender Lichtstrahl unter einem tiefgesunkenen, entarteten Volk erschien, welches zu erleuchten und emporzuheben er sich berufen fühlt“, so Wagner über seine Rienzi-Figur, mit der er auch die verheerenden Auswüchse mißbrauchter Freiheit darstellen wollte. Stölzl hat die Oper auf die Hälfte zusammengestrichen und mit Videoprojektionen, groß angelegten Tableaus, Versatzstücken, Quer- und Längsschnitten ausgestattet, die seine Interpretation einer „Hitler-Oper“ unterstützen sollen. Das beginnt mit einem filmischen Zusammenschnitt von Hitlers Hochsitz auf dem Berghof und der riesigen Staatskanzlei mit dem Blick auf die Alpen durch das „größte versenkbare Fenster aller Zeiten“, wo ein Rienzi-Double (Gernot Frischling) zur Ouvertüre, die einst die Eröffnungsmusik der NSDAP-Reichstage war, vor einem Trichter-Grammophon einen Tanz wie Chaplins großer Diktator mit dem Erdball aufführt, der dann irgendwohin ins Fenster fällt. Und es endet im Führerbunker, wo der Diktator, über Landkarten gebeugt, vor Modellen den Architekturtraum von Speers „Germania“ träumt und die letzten Durchhalteparolen seinem Volk übermittelt, das eine Etage höher verblutet. Stölzl greift das Rienzi-Klischee Hitlers und der Nationalsozialisten auf – das hatte auch schon David Pountney 1998 in Wien und Katharina Wagner 2008 in Bremen getan – und verzerrt die in den Spuren Giacomo Meyerbeers wandelnde Grand opéra zu einem schauerlichen Monsterstück über Aufstieg und Fall eines größenwahnsinnigen Diktators. Doch verkörpert Torsten Kerl als Rienzi nun keineswegs einen demagogisch-fanatischen Bösewicht, er ist ebenso ein strahlkräftiger und eloquenter Tenor wie ein perfekt die Magie der Demagogie beherrschender Spieler, ein Brechtscher Arturo Ui auf der Wagnerbühne. Auch Kate Aldrich als Colonna-Sproß Adriano überzeugt, ihr Mezzo schließt lyrische Stimmung wie dramatische Eruption ein.

Ganz anders „Die Meistersinger“, Wagners heiterstes Werk, auftrumpfend in monumentalen Massenszenen und zart gewoben in kammermusikalischer Manier. Götz Friedrich, der das Werk 1993 inszeniert hat, sah darin eine Parabel für Wagners Utopie, das demokratische Modell einer Kunstpraxis, die sich aus elitärer Eingrenzung befreit und für immer mehr Menschen öffnet. Dabei zeige Wagner dieses Nürnberg als „Menetekel der Fehlentwicklungen auf, vor denen kein noch so einleuchtender gesellschaftlicher Entwurf gefeit ist“. Wagners deutscher Alptraum über das Aufeinanderprallen von Mittelalter und Neuzeit, das Schicksal des Künstlers als Individuum und vielleicht Wagners wunderbarster Exkurs über den Selbstbetrug, daß es so etwas wie einen Liebesverzicht nicht aus reinem Herzen geben könnte – das alles kommt hier ausgesprochen frisch, zügig, farbreich und vor allem äußerst unterhaltend daher. Auf der Festwiese tummeln sich Gaukler, Jongleure und Akrobaten zu einem turbulenten Volksleben, während die Prügelszene zu einer Massenschlägerei ausartet, in der die Aggressionen einer scheinbar friedlichen Stadt zum Ausbruch kommen. Hier wird jede Wagner angelastete Deutschtümelei sinnfällig hinterfragt. James Johnson gibt einen persönlichkeitsstarken Hans Sachs mit einem farbenreich kräftigen Heldenbariton. Klaus Florian Vogt verleiht dem Neutöner Stolzing eine jugendliche Empfindsamkeit ohne jede Anspruchsgebärde. Hervorragend aber auch Markus Brück als würdevoll, tragisch-komischer Beckmesser. Der neue Generalmusikdirektor Donald Runnicles, der im „Tannhäuser“ erstmals ans Pult der Deutschen Oper trat, dirigiert das Orchester bei gemächlichem Grundtempo, aber mit einem ausgesprochenen Sinn für große dramatische Spannungsbögen und weiß gekonnt auf ein Finale von strahlender Kraft hinzusteuern. Der Chor der Deutschen Oper, im vergangenen Jahr bereits zum zweitenmal in Folge zum „Chor des Jahres“ gewählt, übertraf sich an allen Abenden. Ob der Pilgerchor in „Tannhäuser“ oder das „Wach auf!“ in den „Meistersingern“ – das waren bleibende Erlebnisse.

Die Berliner Wagner-Wochen hatten einen ausgesprochenen Werkstatt-Charakter – bewährte Inszenierungen wurden neu geprüft wie Neuinszenierungen – in diesem Falle allerdings nur eine – einer höchst streitbaren Begutachtung unterzogen. In der Auseinandersetzung mit dem Werk des Bayreuther Meisters ist hier ein wesentliches Stück Arbeit geleistet worden.