13. Jahrgang | Nummer 3 | 15. Februar 2010

Mutters Plan

von Henryk Goldberg

Schuld muß wohl Florian gewesen sein. Florian, falls das jemand nicht weiß, ist der Freund von Mira, die wiederum die Tochter meiner Schwester ist. Und unsere Mutter wurde 85, so fuhren wir mit einer großen Delegation nach Singen, ihre Heimatstadt. Das alte Haus in der Burgstraße sehen, wo die Eltern Kolonialwaren verkauften und die alte Freundin Emma, die Damen kennen einander seit die jungen Mädchen dem Hause Maggi die Bücher führten. Und außerdem würden Florians Eltern, die auch in Singen leben, nun endlich die Eltern der Freundin ihres Sohnes kennenlernen. Was als eine nicht gänzlich unkomplizierte Angelegenheit zu gelten hatte, denn Miras Mutter hat eine Frau. Also, das war der Plan, am Freitag geht unsere Mutter zu Emma, die anderen gehen essen und am Sonntag Kaffeetrinken bei Florians Eltern. Nur, daß an dem Tag, als wir ankamen auch Florians Vater Geburtstag hatte und der arme Junge mithin zwei Verpflichtungen, zum Italiener mit der Familie seiner Freundin und zum Geburtstag seiner Familie. Zwar, Florian versteht beruflich einiges von Schizophrenie, aber wirklich lösen kann er so etwas auch nicht. Also tat er, was Männer zu tun pflegen, wenn sie ein Problem haben: nichts. Was ungefähr bedeutete, daß Mira fünf Minuten vor der Familie erfuhr, daß ihr Freund an diesem Abend noch andere Verpflichtungen hatte. Meine kleines Fräulein Doktor Nichte sagte, wir könnten ruhig schon mal zum Italiener gehen, sie hätten noch etwas zu besprechen.

Im weiteren Verlauf des Abends wirkte Florian etwas gedämpft. Unsere Mutter aber, ein herzensguter Mensch, saß derweil bei der guten alten Emma und litt wohl bei dem Gedanken, es ginge ihrer Familie nicht gut: Mira sauer, Florian betrübt, Esther und Birgit ein wenig aufgeregt, die Eltern warteten. Und also beschloß unsere gute alte Mami wohl, da müsse man etwas unternehmen und sah sich nachdenklich in der Wohnung ihrer alten Freundin um . . . Und so klingelte eine halbe Stunde später, neun Menschen saßen beim Italiener, das Handy. Es war die Emma. So und so, die Anni sei gestürzt, über eine kleine Schwelle und sie wäre nun im Krankenhaus. Ja, so muß es gewesen sein. So etwas kann nur eine Mutter. Sie konnte das Leid ihrer Familie nicht ertragen und stürzte sich selbstverstümmelnd über die klitzekleine Schwelle in Emmas Wohnung. So würde, ging wohl ihre Überlegung, Miras Konzentration auf Florian aufgeweicht, und auch die Erstbegegnung von Esther und Birgit mit dem gastgebenden Ehepaar würde sich etwas entspannter gestalten. Schließlich, man würde ja ein Gesprächsthema haben. Anders ist dieser Sturz nicht erklärbar. Nicht bei einer älteren Dame, die vor einigen Jahren genau dann einkaufen ging, als das Glatteis am glattesten war, es waren wohl die Rippen. Nicht bei einer älteren Dame, die vor etwa einem Jahr die abgestellte Tasche eines Handwerkers in ihrer Wohnung übersah, da war es der Oberschenkelhals. Nicht bei einer älteren Dame, die, vom Oberschenkelhals her noch mit einer Krücke versehen, eine Trittleiter bestieg. Da war es, niemand weiß warum, nichts. Eine Frau mit diesem Erlebnishorizont kann doch nicht einfach über eine klitzekleine Schwelle stolpern. Aber vielleicht war es ja auch die Liebe zur Heimat, so konnte sie länger in Singen bleiben und vielleicht noch Leute treffen.

Als meine Mutter im Krankenzimmer ihre Brille aufsetzte entdeckte sie eine frühere Klassenkameradin, die lag im Bett gegenüber. Später an diesem Abend überbrachte Florian die Einladung seines Vaters zum Geburtstag, an alle. Unsteifer sind sich Eltern wohl kaum je erstbegegnet, und auch Florian hatte es wieder besser. Und unsere Mutter kann schon wieder Rollstuhl fahren.