Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 27. Oktober 2008, Heft 22

Schweigen im Walde

von Uwe Stelbrink

Nachrichten zur Krise der Finanzmärkte verfolgen uns zuverlässig zu allen Tageszeiten wie der Wetterbericht, die Verkehrsmeldungen und, ach ja, die Börsennachrichten. Nach dem 500-Milliarden-Geschenk der Bundesregierung »durchschlug der DAX die 5000er Marke«. Von unten.
Zwar hält uns die Bundesregierung nicht der Erklärung für würdig, weshalb sie eigentlich einen Risikofonds in halber Billionenhöhe bereitstellt, obwohl doch nur die Hypo Real Estate zeitweilig ein wenig kränkelte: Aber alles müssen wir ja auch nicht wissen.
Zwei Wochen öffentliche Katharsis: Der Markt könne es wohl doch nicht alleine, die starke regelnde Hand des Staates müsse her, die Banken bedürften öffentlicher Kontrolle, die soziale Marktwirtschaft sei immer von einer staatlichen Lenkung der blinden Märkte ausgegangen. Und: Der Kapitalismus müssen neu erfunden werden.
Man ist geneigt zu fragen: Warum muß diese sich jeden Tag und nun auf höchstem Niveau blamierende Form der Vergesellschaftung eigentlich neu erfunden werden? Wäre es nicht beste Zeit, über ihre Überwindung, ihre Abschaffung zu reden?
Von links – und was sich dafür hält – sollte man erwarten, daß angesichts allgemeiner und angebrachter Verunsicherung die wertbasierte Vergesellschaftung, die wie eine Matrix in allen Köpfen sitzt und alles Denken, jede Realitätswahrnehmung »vorformatiert«, ins Visier der Kritik genommen wird. Es ist zwar eine über Jahrhunderte angeeignete Denkform, alles »in Wert zu setzen«; aber dabei handelt es sich nicht um eine überhistorische Naturnotwendigkeit. Über ihre Sinnhaftigkeit sagt diese lange Tradition schon gar nichts. Man könne auch dreißig Jahre lang etwas falsch machen, wußte schon Tucholsky. »Vorher« konnten Menschen schon miteinander leben und in Austausch treten, ohne alles in Wertkategorien zu denken und zu sehen – und »danach« wird es die Menschheit müssen, wenn sie denn – zumindest menschenwürdig – überleben will.
Es wäre höchste Zeit, daß sich die politische Linke einer grundlegenden Kritik dieses gerade mit Billionen von Steuergeldern vorm vorläufig letzten Kollaps geretteten Systems zuwendet. Sie müßte dabei nicht einmal allein und von vorn beginnen. Seit Mitte der achtziger Jahre ist mit der Wertkritik eine Theorie im Entstehen, die radikal im Wortsinne ist – weil sie den Wert selbst und die ihn stets wieder ins Recht setzenden Denkformen ins Zentrum der Kritik rückt.
Die politische Linke hat sich diesem theoretischen Neuanfang gegenüber bisher abstinent gehalten. Das hat Gründe. Theoretische und allzu menschliche. Folgt man der Wertkritik, ist auch Politik eine vom Wert abgeleitete Kategorie – stellt man also den Wert grundsätzlich in Frage, dann auch das bisherige Verständnis von Politik; sie wird zu einer Binnenkategorie des Wertverhältnisses. Mit anderen Worten: Mit bekannten Formen von Politik – also mit Vertretungsmechanismen in systemkonformen Strukturen – läßt sich das System nicht überwinden. Will man am Bekannten festhalten, muß man sich auch eingestehen, daß man »nur« an einer Widerspruchsbearbeitung innerhalb des Systems teilhaben kann. Die Apostrophe beim NUR sind notwendig, um allfälliger Kritik zuvorzukommen, ich redete hier das Wort einer sofortigen Systemüberwindung, für die alle Voraussetzungen fehlen. Ich sehe die Notwendigkeit der aktuellen Gegenwehr zum gerade jetzt wieder stattfindenden Abwälzen der Folgen dieser angeblich so erfolgreichen und effizienten Wirtschaftsweise auf die Schultern der Allgemeinheit – und die Rechnungen der jüngsten Erfolge werden uns ja erst so nach und nach präsentiert werden. Da sollte die politische Linke an der Spitze stehen, auch und gerade die LINKE. Ich sehe aber auch die Notwendigkeit und die Möglichkeit – das ist das einzig Gute an der Krise der Finanzmärkte – endlich zu grundlegender Kritik dieser Form der Vergesellschaftung zu gelangen, und zwar in einer vor kurzem noch für nicht möglich gehaltenen öffentlichen Breite. Dazu muß man allerdings reden, öffentlich, unter Nutzung aller, auch der vielen Wählerstimmen zu dankenden Möglichkeiten.
Aber da ist Schweigen im Walde. Nein, nicht ganz. Die LINKE fordert, daß die Bewältigung der Krise der Finanzmärkte nicht auf den Schultern der »kleinen Leute« stattfinden möge. Zugleich begrüßt man, daß die Bundesregierung endlich systematisch der Krise zu Leibe rücke. Nun, auf wessen Rücken wird diese aktuelle Krise nun »systematisch« bewältigt werden? Zu wessen Lasten werden die Staatsbürgschaften und Direktzahlungen an weitere Wackelkandidaten unter den Banken gehen? Dreimal dürfen wir raten.
Die eigentliche Frage hätte anderen Wortlaut: Weshalb unter weiterer Verschwendung menschlicher und natürlicher Ressourcen Menschheit und Natur zu Grunde richten statt zu einer Vergesellschaftung zu finden, die die Lebensbedürfnisse aller Menschen ins Recht setzt – als alleiniges Kriterium menschlichen Zusammenlebens.
Nicht zuletzt mit Blick auf anstehende Wahlen wird sich die LINKE solcher Fragestellung enthalten. LINKE und Linke werden die Versuche der Krisenbewältigung »kritisch begleiten«, mit allerlei sozialen Ratschlägen schmücken und sich also den Kopf der herrschenden Politik zerbrechen.
Die gewichtigste Ursache des betretenen Schweigens auf linker Seite liegt aber tiefer: Man hat zwar die sozialen Folgen der Spekulationen auf den Finanzmärkten kritisiert und deren Regulierung (oder wie in der jüngsten Pressemitteilung der LINKEN deren »Re-Regulierung«) verlangt und von Systemtranszendenz geredet und in diversen Programmen geschrieben – daß das System aber tatsächlich krachen gehen könnte, hatte man gar nicht mehr im Blickwinkel. Und für die persönliche Lebensplanung einiger linker Berufspolitiker wäre das in der Tat eine Katastrophe. Da verschlägts manchem halt den Atem. Warten wir, bis sie wieder Luft geholt haben. Ich gehe jede Wette ein, daß dann alle Realisten zu Utopisten gemacht werden – und die Blinden zu Realisten.