Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 13. Oktober 2008, Heft 21

Das 41. Jahr

von Wolfram Adolphi

Da ist einer Ossi und hat in Wien eine gute Arbeit. Professor ist er, an der Universität, am Institut für Politikwissenschaft, und sein Arbeitsfeld sind Transformationsprozesse in Mittel-, Ost und Südosteuropa. Der Weg dorthin ist von Erfolg bestimmt. In Moskau macht er 1978 seinen Doktor, in Berlin (DDR) beruft man ihn im September 1989 in eine Professur; 1992 belegt er eine Gastdozentur im südenglischen Bath; 1993 gehört er zur Handvoll derjenigen Gesellschaftswissenschaftler aus der DDR, die auch im vereinigten Deutschland auf eine Professur berufen werden. Bis 1998 bleibt er an der Humboldt-Universität, dann folgen Vorlesungen an der Karls-Universität Prag und der Viadrina Frankfurt/Oder sowie drei Jahre Mitarbeiterschaft bei der Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn. Und seit Februar 2005 also Wien.
Der Name des Ossis ist Dieter Segert. Seine Biographie ist alles andere als die eines »Wende-Verlierers«, und dennoch ist das Buch, das er gerade vorgelegt und dem er den Titel Das 41. Jahr. Eine andere Geschichte der DDR gegeben hat, von, wie er schreibt, »Trauer erfüllt«. Trauer über die »Geburtsfehler der deutschen Einheit«, die er darauf zurückführt, daß Art. 23 des Grundgesetzes mit seiner simplen Beitrittsregulierung den Vorzug erhalten hat vor Art. 146, in dessen Verwirklichung sich das ganze deutsche Volk eine neue Verfassung hätte geben sollen; Trauer über den hohen Preis, der für unzweifelhaft positive Veränderungen zu zahlen war: »Millionen Ostdeutsche verloren ihre Arbeit, die in der Arbeitsgesellschaft DDR in vieler Hinsicht für das Leben der Menschen zentral gewesen war. Ihr Selbstbewußtsein wurde durch die Art der DDR-Geschichtsdarstellung ernsthaft beschädigt«; und Trauer schließlich auch darüber, »daß der Veränderungsbedarf der alten Bundesrepublik auf Eis gelegt wurde«.
Aber keine Angst: Es ist kein Trauerbuch. Es ist ein Buch voller vielschichtiger Erinnerung – Bundespräsident Richard v. Weizsäcker wird zum Beispiel mit dem schönen Weihnachtswort von 1989 »Wir haben allen Grund, den Deutschen in der DDR mit wahrer Achtung zu begegnen« zitiert –, und es ist ein Buch voller kluger Vorschläge: Jetzt, im Jahre 2008, sei »ein Programm ›Aufbau Ost, Teil III‹« wichtig, aber es könne »nur ein Teil einer umfassenderen Lösung sein. Die deutsche Problemsituation ist nämlich Teil einer Politik auf europäischer Ebene. (…) Die verfehlte deutsche Einheit würde aus dieser Perspektive nicht allein mehr als ein Problem der ost- oder der westdeutschen Verlierer erscheinen. Die Überwindung ihrer negativen Folgen wäre als Teil des Kampfes um Entwicklungschancen und politische Teilhabe für jeden europäischen Bürger sowie gegen die Entsolidarisierung in Europa zu sehen.« Vorschläge gemacht hat Dieter Segert auch 1989/90 – im seither vom Meinungshauptstrom gezielt dem Vergessen anheim gegebenen 41. Jahr der DDR. Mit Michael Brie und Rainer Land bildete er den Kern einer Unternehmung, die sich – vom Prorektor für Gesellschaftswissenschaften Dieter Klein befördert und umhegt – seit 1987 als »Sozialismusprojekt an der Humboldt-Universität« zunächst ganz behutsam und auch ein wenig geheimnisvoll, im Herbst 1989 aber mit erheblicher Öffentlichkeit einen Namen machte.
Die Geschichte dieses Projekts bildet den umfassenden ersten Teil des Buches, und wer der seinerzeitigen (Ost-)Berliner Wissenschaftslandschaft angehörte, wird darin viel eigenes wiederfinden. Segert zeichnet am Berliner Beispiel das Bild einer »jüngeren Generation von Reformern aus der SED«, und es ist von feiner Art, daß er diese »auf den Schultern einer ersten Reformergeneration« stehen sieht, der er als unmittelbare Partner des Projektes Uwe-Jens Heuer, Gerd Irrlitz, Peter Ruben und Hans Wagner zuordnet. Er schildert die Entstehung erster, noch zaghafter Papiere, mit denen über eine vorsichtige Veränderung des DDR-Sozialismus nachgedacht wurde, und kommt dann in den Sommer und Herbst 1989, in dem den Wissenschaftlern klar wurde, daß sie endlich heraus müssen aus den Studierzimmern und hinein in eine Öffentlichkeit, die ihnen aber nun ihrerseits mit ihrem Protest, ihren Unzufriedenheiten und ihren Vorstellungen von dem, was auf das Zusammenbrechende folgen soll, immer schon um etliches voraus war. Die Kapitelüberschriften Kaleidoskop vom »Aufstand der SED-Basis«, Mit Künstlern unterwegs in eine kritische Öffentlichkeit und Zwischen Anarchie und Erschöpfung sind gut gewählt, weil sie beides in sich führen: die über ein paar spannende, alle Kraft und Sinne fordernde Wochen tragende, durch vielerlei Begegnungen, Kundgebungen, Zusammenkünfte, Rundfunk- und Fernsehsendungen genährte Hoffnung, man sei mit seinen Konzepten für eine andere, bessere DDR jetzt wirklich an der richtigen Stelle, werde mit ihnen gebraucht und gewollt – und zugleich die Ahnung von Hilflosigkeit, Isoliertheit und Zuspätkommen, die schon kurz darauf nicht mehr nur Ahnung, sondern Erfahrung ist.
In der Mitte des Buches dann Die Humboldt-Universität im 41. Jahr. Segert erzählt hier so persönlich wie im ersten Teil, und das macht die Schilderung der Dramatik zwischen Emanzipation und Abwicklung ebenso lesenswert wie die seiner eigenen Zerrissenheiten.
Im dritten Teil seines Buches sprengt Segert den Berliner Rahmen. Jetzt geht es ihm – noch immer im 41. Jahr – um die vom Runden Tisch der DDR erarbeitete Verfassung, die zur »Verfassung für die Abstellkammer« wurde, dann mit Bezug auf den Einigungsvertrag um »Verhandlung der bundesdeutschen Eliten mit sich selbst« und schließlich darum, wie mit der Verteufelung der Staatssicherheit eine »zweifelhafte Mitgift für das neue Deutschland« geschaffen wurde.. Das letzte Kapitel enthält erhellende Überlegungen zur »Geburt Ostdeutschlands« mit Abschnitten wie Seelischer Ausnahmezustand und erzwungene Identitätsverleugnung oder Tradition und Identität. Letzterer ist der Abdruck einer Reflexion, die 1992 in Bath entstanden ist.
»Wer nicht mit seiner Vergangenheit klar kommt«, schließt Segert sein Buch, »dem fehlt auch das Selbstvertrauen, das nötig ist, um an die Veränderbarkeit seiner Gegenwart zuerst zu glauben und dann gemeinsam mit anderen dafür zu streiten.« Solchem »Ruf aus Wien« ist nichts hinzuzufügen.

Dieter Segert: Das 41. Jahr. Eine andere Geschichte der DDR, Böhlau Verlag Wien – Köln – Weimar, 284 Seiten, 24,90 Euro