Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 7. Juli 2008, Heft 14

Die Historiographie des Stalinismus

von Wladislaw Hedeler

Der Moskauer Rosspen-Verlag legte jüngst ein Buch vor, das den Anspruch erhebt, die erste umfassende Bestandsaufnahme der Historiographie des Stalinschen Systems vorzustellen. Es enthält fünfzehn, von vierzehn Autoren verfaßte, chronologisch angeordnete Beiträge über die soziokulturellen Wurzeln des Stalinismus, die Herausbildung der Selbstherrschaft, die Wirtschafts- und Agrarpolitik, die Jahre des Großen Terrors, die Vorgeschichte und den Verlauf des Vaterländischen Krieges, Stalins Rolle in den Nachkriegsjahren und die Frage nach der Alternative zum Stalinismus. Ausgewertet wurden ausschließlich in der UdSSR beziehungsweise Rußland veröffentlichte Arbeiten.
Die erste These lautet, daß vom Stalinismus als System, bezogen auf den Zeitraum Ende der 1920er Jahre bis zu Stalins Tod im Jahre 1953 gesprochen werden kann. Eine zweite, gegen die personalisierte Sicht auf Stalin oder Lenin als Quellen des Totalitarismus gerichtete These wird von M. I. Smirnova und I. A. Dmitrieva mehr aufgegriffen als ausgeführt, wobei eine Einschätzung des Erkenntnisfortschritts der russischen gegenüber der ausländischen Historiographie gar nicht erst in Angriff genommen wird. Das von Stalin und seinem Umfeld durchgesetzte System sei ein Mix aus Mutationen und Keimformen der postkapitalistischen Gesellschaft. Der Stalinismus als System habe sich als lebensfähig und dem soziokulturellen Genotypus der Mehrheit der russischen Gesellschaft adäquat erwiesen. Kontinuitäten, Brüche und Widersprüche zwischen Lenin und Stalin spielen keine Rolle.
Alle Autoren beklagen das Fehlen verallgemeinernder Abhandlungen über den Führungszirkel um Stalin und polemisieren gegen die auf meist politisch gefärbte Wertungen abzielenden und die wissenschaftliche Analyse vernachlässigenden Arbeiten. Letztere Kritik trifft leider auch auf viele in diesem Band versammelte und entgegen dem formulierten Anspruch eher referierende als analysierende Beiträge zu. An S. V. Devjatovs Beitrag über die Herausbildung von Stalins Alleinherrschaft fällt auf, daß der Verfasser Begriffe aus den Fraktionskämpfen innerhalb der SDAPR, der KPR(B) und der KPdSU(B) unreflektiert übernimmt, die Editionsprinzipien der heute in Rußland zugänglichen Quelleneditionen ebensowenig kommentiert wie die Archivsituation, Lenin oft in tradierter Weise zum alleinigen Maßstab erhebt, die Funktionsweise des stalinhörigen Apparates nicht beleuchtet. Das Schicksal von Autoren einiger vor dem Kurzen Lehrgang in der UdSSR veröffentlichten Darstellungen der Geschichte der KPdSU(B) wird zwar erwähnt, ohne jedoch auf ihre theoretische Leistung als Parteihistoriker einzugehen.
In den Beiträgen über die Industrialisierung und Kollektivierung wird die Rolle und der Stellenwert der Zwangsarbeit völlig ausgeblendet. Der die Geschichte des Gulag widerspiegelnden Literatur ist im vorliegenden Sammelband kein eigener Beitrag gewidmet, die Deportationen werden im Zusammenhang mit der Kollaboration behandelt. V. E. Bagdasarjan, der für den Sammelband die Beiträge über die Ermordung von Kirov, das rätselhafte Jahr 1937 und den Terror gegen die Armeeführung verfaßte, referiert die diesbezüglichen Passagen aus Chruschtschows Rede in der geschlossenen Sitzung des 20. Parteitages und fügt die Palette der Auslegungen an. Im Falle des Terrors reichen sie von Stalins Paranoia bis zum Modell der asiatischen Despotie, im Hinblick auf die »Militärverschwörung« werden sechs Verschwörungstheorien vorgestellt. Stalin und der Stalinismus werden als eine Anomalie in der Geschichte des Landes verstanden. Das Resümee lautet: Selbstverständlich darf man die Repressalien nicht moralisch rechtfertigen, aber ebensowenig darf man die historische Erfahrungen des großen Landes ad absurdum führen.
Daran schließt sich der Beitrag von M. I. Mel’tjuchov über die Vorgeschichte des Vaterländischen Krieges an. Es ist einer der wenigen gelungenen Aufsätze. Mel’tjuchov wendet sich der Ausarbeitung von vier Themenkreisen zu: der Genesis des Nichtangriffspaktes, den Beziehungen zu den Großmächten, der Politik der sowjetischen Führung gegenüber Osteuropa und militärischen Aspekten der Vorbereitung auf einen Krieg. Hinter der letzten Formulierung verbirgt sich auch die Diskussion der Frage, ob die Armeeführung im Falle eines Krieges gegen Deutschland aktive Angriffsoperationen plante sowie vorbereitete und der Hauptstoß dabei in Südpolen geführt werden sollte. Angesprochen werden Themen wie das Baltikum, der sowjetisch-finnische Krieg, Katyn und die Repressalien gegen die Militärführung. Aufgrund der nach wie vor für die Forschung gesperrten Archivbestände werden viele Fragen offen bleiben müssen. Daß viele von Militärhistorikern revidierte, korrigierte und präzisierte Feststellungen nach wie vor ignoriert werden und keine Verbreitung finden, hängt im Regelfall mit den weltanschaulichen Positionen einiger einflußreicher Herausgeber zusammen.
A. E. Larionov strukturiert seinen Beitrag wie eine Materialsammlung für eine Anklageschrift gegen Stalin. Er legt neun Punkte vor: Inkompetenz, autoritärer Führungsstil, Befehl Nr. 227 vom 28. Juli 1942, Mißachtung der Berichte der Militärabwehr, Hilflosigkeit in den ersten Kriegstagen, Feigheit, Mißtrauen gegenüber den Westalliierten, sein Agieren beim Warschauer Aufstand, Versklavung Osteuropas. Auf die letzten acht Lebensjahre Stalins, die Krankengeschichte und die Spekulationen um die Todesursache geht A. A. Danilov in seinem Beitrag ein. Die den Band abschließenden Beiträge haben ausgewählte Fragen der Nationalitätenpolitik und Ethnopolitik zum Inhalt. N. A. Simonija wirft schließlich die Frage auf, ob es eine Alternative zur Diktatur Stalins (einem Synonym für administrativ-bürokratisches System der Wirtschaftsführung) gegeben hat.. Seine Antwort läuft darauf hinaus, daß es die von Stalin verhinderte Neue Ökonomische Politik gewesen ist.