Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 9. Juni 2008, Heft 12

Gysis Steilvorlage

von Sibylle Sechtem

Sie haben bis heute nicht begriffen, daß die SED in der DDR die führende Rolle spielte.« Es war ein fast schon beschwörender Gestus, mit dem LINKE-Fraktionschef Gregor Gysi dies jüngst in einer Parlamentsrede den anderen Fraktionen im Deutschen Bundestag, die sich gerade mal wieder an Vorwürfen der Birthler-Behörde, er sei IM der DDR-Staatssicherheit gewesen, delektierten, vorhielt. Aber außer »Lachen bei der CDU/CSU und der SPD« und dem Zwischenruf des SPD-Abgeordneten Carl-Christian Dressel »Wir wissen schon, daß das Ihre Partei war!«, vermerkt das Protokoll dieser Aktuellen Stunde vom 28. Mai 2008 nichts, was darauf hindeuten könnte, daß sich an diesem Befund des Redners etwas geändert hätte. Dabei hatte er doch gerade eine Steilvorlage par excellence geliefert!
Aber was schert das die Stiere, wenn es gegen die roten Tücher geht. Da gilt es, mit Blick stur geradeaus Kampfkurs zu halten, und der heißt: Die Stasi war und ist der Oberfeind und soll es ewig bleiben, und ehe wir den Gysi nicht am IM-Pranger haben, werden wir nicht Ruhe geben immerdar. Und so haben sie also alle wieder eingestimmt, die Abgeordneten von CDU/CSU und SPD und FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, in den seit achtzehn Jahren unveränderten Singsang vom IM Gysi, der »es« doch endlich »zugeben« soll. Und sein Mandat niederlegen und aus seiner »sogenannten Linksfraktion diejenigen gleich mitnehmen, für die erwiesenermaßen dasselbe gilt« (Dressel), soll er außerdem. Das ist wacker gefordert, und man beklatschte sich gegenseitig, und die Presse sprach am Tag darauf von »ungewöhnlicher Emotionalität« der Debatte – aber was, bitte, soll Gesine Schwan damit anfangen, wenn sie Bundespräsidentin werden will?
Das und anderes mehr in Sachen Dynamik politischer Konstellationen muß wohl auch den Lenkerinnen und Lenkern der vier bei diesem Thema fest vereinten Fraktionen durch den Kopf gegangen sein, denn siehe: Niemand aus deren Führungsgremien sah Veranlassung, sich auf den Weg zum Rednerpult zu machen. Chefsache – nein, so weit hat es die Stasi-Frage nun doch nicht mehr gebracht. Wohl auch, weil sich an Gysis Steilvorlage das ganze Dilemma dieser »Oberfeind-Stasi«-Kampagne offenbart. Es ist praktisch, die Stasi zu stigmatisieren, denn 150 000 lassen sich leichter ausgrenzen als 2,3 Millionen, und wenn man alles Feuer auf die SED statt auf deren Hilfstrupp MfS lenken würde, sorgt das nicht nur für mehr allgemeinen Unmut. Nein, auch die CDU mit frag- und klaglos übernommener DDR-CDU und Demokratischer Bauernpartei samt Parteifinanzen und die FDP mit dito behandelter LDPD und NDPD gerieten ganz heftig in Schieflage. Und die SPD, in deren Wende-Tagebuch eine solche »friedliche Übernahme« nicht verzeichnet ist, sähe sich gedrängt, über das SED-SPD-Papier von 1987 Rechenschaft abzulegen und über die Gespräche, die ihre Parteiführer Willy Brandt und Herbert Wehner und Helmut Schmidt mit Erich Honecker geführt haben, wie auch CDU/ CSU, SPD, FDP und DIE GRÜNEN noch einmal nachlesen müßten, was sie Erich Honecker bei dessen hochoffiziellem Besuch in Bonn im September 1987 an Verständnis und dem Wunsch nach hoffnungsvollem Miteinander mit auf den Weg gegeben hatten. Kurz: Sie müßten sich endlich der eigenen Geschichte bewußt werden.
Solches, meinen sie, haben sie aber in der Stasi-Frage nicht nötig, und deshalb strapazieren sie sie Gysi gegenüber selbst dann unverdrossen weiter, wenn der ihnen sagt, daß er »Gespräche mit dem Zentralkomitee, der führenden Kraft der DDR«, hatte und deshalb »keine Kontakte zur Staatssicherheit brauchte«. Sie wollen, sagen sie, endlich »die ganze Wahrheit«, und tun doch alles, um gerade diese zu verschleiern.
Gregor Gysi gehörte – sein Biograph Jens König hat es beschrieben und Christoph Dieckmann in der Zeit gerade wieder darauf Bezug genommen – in der DDR zum »roten Adel«. Wer dessen Wirken erklären will, muß ernsthaft Forschung betreiben. Und zwar nicht zur DDR-Geschichte allein, sondern zur unauflöslich miteinander verwobenen Geschichte der von 1949 bis 1990 existierenden beiden deutschen Staaten überhaupt. Was freilich voraussetzt, endlich vom hohen Roß der »einzig wahren und guten« Geschichte, als die man die der BRD so gern begreifen will, herabzusteigen und sich von einer Reduzierung der DDR auf Stasi und Mauer zu trennen.
Nun soll hier keineswegs verschwiegen bleiben, daß es auch heute nicht so leicht ist mit diesem »roten Adel«. Denn: Sich die Stasi als Hilfstrupp gehalten zu haben und dann stolz darauf zu sein, daß – so wieder Gysi – für ihn »Kontakte zur Staatssicherheit (…) gar nicht nötig« waren und »weder meinem Stil noch meiner Würde« entsprachen, ist eine recht eigenwillige Sicht auf die Dinge. Aber um solcherart Feinheiten ist es dem Bundestag selbstverständlich nicht zu tun.
Den schert in seiner Aufregung nicht einmal, daß sich die Söhne der beiden laut Bundestagsmehrheit von Gysi verratenen DDR-Dissidenten Robert Havemann und Rudolf Bahro – Florian Havemann und Andrej Bahro – ausdrücklich hinter Gysi und dessen Interpretation seines Einsatzes nicht gegen, sondern für die beiden Gemeinten stellen. Man wollte ein »Tribunal« (Andrej Bahro) gegen Gysi und sonst gar nichts. Vielleicht hätte man ein Zitat des von den Rednern so vehement verteidigten Robert Havemann im Plenarsaal ausrollen sollen. Zum Beispiel dieses aus dem Deutschland Archiv von 1974: »Die ›Herrschaft des Volkes‹ besteht in der bürgerlichen Demokratie nur rein formal. (…) In Wirklichkeit aber herrschen Leute, die von niemandem gewählt wurden, die Industrie- und Bankherren, die Manager und Konzerndirektoren, denen die Wirtschaft gehört und damit auch die Macht.« Und um aus solchen Verhältnissen heraus zu kommen, »müßte sich die SPD allerdings von ihrem im Grunde antidemokratischen Antikommunismus lossagen.«
Gysis Steilvorlage hätte bei letzterem wirklich helfen können.