Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 26. Mai 2008, Heft 11

Grete Minde und kein Ende

von Wolfgang Brauer

Weißt du, Grete, wir haben ein Nest in unserm Garten, und ganz niedrig, und zwei Junge drin.« »Das wäre! Wo denn? Ist es ein Fink oder eine Nachtigall?«
So idyllisch mit einem kindlichen Flirt über die Himbeerhecke hinweg beginnt die bis heute wohl umstrittenste Erzählung Theodor Fontanes und endet in einer Katastrophe: Grete läßt die Stadt in einem wahren Höllenfeuer untergehen und findet selbst den Tod in den Flammen ihrer Rache. Die kleine Erzählung entstand 1879. Vom Sujet her bewegt sich Fontane in der Nachfolge Kleists Michael Kohlhaas – Grete ist ein wahrlich in die Irre gehender »Selbsthelfertyp«, und erzählerisch ist er so dicht in der Nähe seines Freundes Theodor Storm, wie er es wohl nur mit der Kriminalnovelle Unterm Birnbaum wieder sein wird.
Für die Liebhaber der großen Gesellschaftsromane muß Grete Minde allerdings ein Graus sein – obwohl in ihr all die Fäden, die sich zu den starken Saiten entwickeln werden, die Effi Briest oder Stechlin zu ihrem berührenden Klange bringen, bereits angelegt sind. Gerade seine von Kennern des Fontaneschen Werkes kritisierte »Unfertigkeit« macht die Beschäftigung mit dem Text zu einer andauernden, aber lohnenden Sache. Der Autor offenbart sich gleichsam als zu spät gekommener Romantiker.
Die historische Grete Minde starb am 22. März 1619 auf dem Scheiterhaufen, nachdem der Henker sie vorher noch mit glühenden Zangen auf dem Richtplatz quälen mußte. In einem Schauprozeß war ihr vorgeworfen worden, am 13. September 1617 den großen Tangermünder Stadtbrand aus Rache über das ihr vom Rat vorenthaltene Erbe – sie war Tochter eines wohlhabenden Tangermünder Patriziers – gelegt zu haben. Dieser Untat bezichtigt wurde sie von ihrem Ehemann, einem zum Straßenräuber heruntergekommenen Landsknecht, dem Anfang 1619 vom Tangermünder Rat das Handwerk gelegt wurde.
Was Tonnies Meilahn bewog, seine Frau mit in den Tod zu ziehen, muß wohl für immer unklar bleiben. Vielleicht spekulierte er auf Strafminderung. Die »Anzeiger« gingen seinerzeit selten leer aus. Grete Mindes vermeintliche Brandlegung und ihr tatsächliches schreckliches Ende jedenfalls brannten sich im wahrsten Sinne des Wortes so tief in das historische Bewußtsein Tangermündes ein, daß sie selbst die Greuel des Dreißigjährigen Krieges und alle nachfolgenden Stadtbrände überdeckten. Fontane ging dieser Fama voll auf den Leim.
Eine Umkehr in der Wertung der Grete-Minde-Geschichte ist einem Juristen zu danken. Nachdem der Amtsrichter Ludolf Parisius 1883 die noch heute vorhandenen Gerichtsakten auswertete, schrieb er eine »Ehrenrettung« Grete Mindes, deren Fazit lautet, daß es sich beim Todesurteil des Jahres 1619 um einen eindeutigen Justizmord gehandelt habe.
Fontane kannte Richter Parisius’ Forschungen noch nicht. Allerdings war auch dieser nicht in der Lage, Nachweise über den wirklichen Täter zu finden. Und der kluge Psychologe Theodor Fontane lieferte zumindest für seine literarische Figur eine überzeugende Motivation.
Auch wenn die Frage nach Schuld oder Nichtschuld der Grete Minde wohl nie mehr endgültig zu klären sein wird, Fontanes Erzählung hielt die Erinnerung an Grete über die Grenzen Tangermündes hin wach und machte damit auch die Stadt selbst weithin bekannt. Heute kann man sich in Tangermünde von einer Stadtführerin in Grete-Minde-Tracht – die eine geschäftstüchtige Schneiderin für Interessentinnen auch nach Maß anfertigt – an die Orte der Erzählung beziehungsweise der »wahren Geschichte« führen lassen.
In der Langen Straße gibt es als Ort gehobener Gastronomie den Grete-Minde-Keller und eine Grete-Minde-Cocktailbar. In der Grete-Minde-Straße – welche Stadt hat schon eine Straße nach ihrer berüchtigtsten Kriminellen benannt? – befindet sich das Shalom-Haus/Grete-Minde-Haus. Und der Gemeindesaal von St. Stephan, der wichtigsten und berühmtesten Kirche der Stadt, heißt Grete-Minde-Saal. Auch St. Stephan hatte im 1617er Stadtbrand schwer gelitten, und Theodor Fontane läßt seine Heldin in den zusammenbrechenden Trümmern der Kirche umkommen. Schwer zu entscheiden, ob dies alles nur geschicktes Stadtmarketing ist oder ob da nicht noch nach fast vierhundert Jahren das schlechte Gewissen der Stadt nach Erlösung schreit … Letzteres würde jedenfalls Fontane vermuten.
Er war nicht der einzige, aber der erste Künstler, den der Stoff gepackt hatte. 1933 wurde »anläßlich der 1000-Jahrfeier« (ein schwieriges Jubiläum, Tangermünde wird erst 1009 durch Thietmar von Merseburg erstmals erwähnt) mit großem Aufwand ein »Grete-Minde-Schauspiel« aufgeführt. 1977 dreht Heidi Genèe mit Katerina Jacob in der Titelrolle Grete Minde – »Der Wald ist voller Wölfe« in einer hochkarätigen Besetzung. Der Film erhält im selben Jahr den Bundesfilmpreis, trägt das Prädikat »besonders wertvoll« und ist dennoch in den Archiven versenkt worden. Anders der unter dem melodramatischen Titel Die Schuld der Grete Minde 1993 erschienene Roman von Barbara Bartos-Höppner. Der kam 1996 in einem großen Verlag zu Taschenbuch-Ehren.
Nicht an das Ohr des geneigten Konzertpublikums gelangte hingegen das Grete-Minde-Requiem des Autors Thomas Höft (1998): »Grete Minde als Tragödie einer Terroristin. Biographisches Material über Gudrun Ensslin kombiniert mit den Texten der lutherischen Exequien zeichnen ein beklemmendes Bild der Psyche einer Frau, die aus moralischem Antrieb zur Mörderin wird« (so der Autor auf seiner Internet-Seite). Das Auftragswerk des Freundeskreises der Brandenburger Sinfoniker wurde – so die Auskunft Höfts – aus finanziellen Gründen nicht aufgeführt. Dafür wurde der Text zum Anlaß eines Musicals über die Ignoranz der Welt. Aber auch das liegt noch in der Schublade.
Besser ergeht es scheinbar dem Stück des Altmärker Autors Werner Brückner Die Sehnsucht nach dem schönen Augenblick – trotz des Titels ein Grete-Minde-Stück. Brückner führt darin (so seine Selbstauskunft) die »Gier nach Besitz, die vor nichts zurückschreckt. Als die ›leider‹ Invariable menschlichen Strebens bis heute« vor. Und der Künstler Lutz Gaede aus dem niedersächsischen Uchtspringe fertigt derzeit im Auftrage des Museumsvereins Tangermünde eine Bronzefigur der gefesselten Grete, die am 22. März 2009, dem 390. Jahrestag ihrer Hinrichtung, am Rathaus aufgestellt werden soll.
Ich bin mir aber sicher: Weder für Tangermünde noch für die Kunst wird dies das letzte Wort zu Grete Minde sein. Und irgendwann wird sich auch jemand finden, der den Mut und die gestalterische Kraft hat, sich von den übergroßen Fußstapfen Fontanes zu lösen. Auch der bewußteste Gegenentwurf läßt noch das Original spüren.