Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 3. März 2008, Heft 5

‘68 und Sozialismus

von Erhard Crome

»Die 68er« sind im Westen zur Chiffre eines bis heute anhaltenden Kulturkampfes gemacht worden – von denen, die sich dazurechnen, wie seitens derer, die sie für alle Probleme der heutigen Gesellschaft in diesem Lande verantwortlich machen wollen. Insofern bedingen sich die Selbst-Mythologisierung der einstmals Beteiligten und die Dämonisierung durch ihre konservativen und neoliberalen Gegner von gestern und heute gegenseitig. Das haben wir 2008, im vierzigsten Jahr, wieder vor uns. Und das Ossi schaut zu und ist nicht beteiligt?

Im Osten gab es auch ein »68«, allerdings ein anderes, von dessen historischem Ort viele nichts mehr wissen wollen. Die heute transportierten Bilder sind die der sowjetischen Panzer nach dem Einmarsch in Prag im August 1968, nicht die aus den Monaten davor. Es war der Versuch, einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« zu schaffen. Und genau darüber soll heute nicht mehr geredet werden. Walter Ulbricht, der damals mächtigste Mann der DDR, hat der sowjetischen Führung nicht zugeredet, in die Tschechoslowakei einzumarschieren, weil er Angst hatte, daß Alexander Dubcek, der erste Mann der dortigen Kommunistischen Partei, freie Wahlen in seinem Lande verlieren könnte, sondern weil er Angst hatte, dann ebenfalls welche veranstalten zu müssen.

Das hat jedenfalls Michal Reiman Anfang der neunziger Jahre gesagt. Reiman, 1930 in einer kommunistischen Familie geboren, die 1939 bis 1945 in sowjetischer Emigration war, im »Prager Frühling« Berater von Reformern. Nach dem Einmarsch Verlust des Arbeitsplatzes, Publikationsverbot und 1977 Aberkennung der Staatsbürgerschaft sowie Ausweisung in die BRD. In Berlin arbeitete er dann als Professor für Politikwissenschaft; seit seiner Emeritierung 1995 lehrt er bis heute an der Karls-Universität in Prag.

Mit diesem Michal Reiman hat Dieter Segert lange Gespräche geführt, die jetzt in Buchform erscheinen: über den Prager Frühling als »eine europäische Erfahrung«. Dieter Segert, 1952 in der DDR geboren, wurde 1989 – noch vor der »Wende« – Professor an der Berliner Humboldt-Universität. Er war einer derjenigen, die damals in Berlin über einen reformierten Sozialismus nachdachten. Nach der deutschen Einheit kamen Abwicklung und Neuberufung auf eine befristete Professur an der Humboldt-Universität. Er war zu jener Zeit der einzige »Ossi« auf einer solchen politikwissenschaftlichen Professur. Der damalige, CDU-geführte Berliner Senat wollte die Stelle 1998 dann nicht entfristen. So ist Segert jetzt Professor an der Universität Wien und beschäftigt sich dort weiter mit Mittel- und Osteuropa. Zwischendurch war er Gastprofessor an der Prager Karls-Universität. Diese Biographien stehen in gewissem Sinne im Hintergrund des Buches. Dieter Segert hat es kürzlich in Berlin vorgestellt.

War der »Prager Frühling« nun eine historische Chance oder eine Chimäre? Die Reformer um Dubcek waren alles »gläubige Kommunisten«, die nach einem neuen Typ Sozialismus suchten, der einem »entwickelten Land« wie der Tschechoslowakei angemessen war. Sie redeten allerdings nicht nur, sondern hatten im Laufe der Monate von Januar bis August 1968 auch praktische Veränderungen eingeleitet: Abschaffung der Zensur, Schritte zur Schaffung von Rechtsstaatlichkeit, Beschneidung der Rolle der »Staatssicherheit«, Befreiung der Wirtschaft von engen »administrativ-bürokratischen« Fesseln, Schaffung einer föderativen Staatsstruktur zwischen Tschechen und Slowaken.

Daß das osteuropäische »68« nicht erinnert wird, hängt mit der heutigen Situation zusammen, die wiederum auf spezifische Weise auf das Jahr 1989 bezogen ist. Nach dem sowjetischen Einmarsch verlor die KP durch Austritt oder Parteiausschluß ein Drittel ihrer Mitglieder; das war etwa eine halbe Million Menschen. Die Parteinomenklatura der »Normalisierungsperiode« bis 1989 war zynisch, dachte in der Regel anders, als sie redete und handelte. Sie wollte ein neuerliches Hochkommen der sozialistischen Opposition nicht zulassen. Die Opposition in jenen zwanzig Jahren war ihrerseits zweigeteilt; die bürgerliche, deren markanteste Gestalt Vaclav Havel war, wollte ihrerseits die sozialistische Opposition nicht gestärkt sehen. So wurde Dubcek im Umbruch 1989 zwar wieder begeistert begrüßt, von Havel aber rasch in den Hintergrund gedrängt.

Der »Prager Frühling« war die letzte, vielleicht aber auch die einzige Chance, aus dem Staatssozialismus heraus demokratischen Sozialismus zu verwirklichen, der vom Volk mehrheitlich unterstützt wird. Der Sieg des sowjetischen kommunistischen Systems war ein Schein-Sieg, weil er diese Chance zerstörte. Die »68er« in Prag waren aufgebrochen mit der Vorstellung, daß »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« möglich sei. Insofern sind sie gleichsam zweimal gescheitert: 1968 und 1989. Daß man sie heute nicht erinnern will, hängt mit der Frage nach Alternativen in der Geschichte zusammen. Die heute Mächtigen wollen nicht, daß nach Alternativen gefragt wird.

Auch im Gescheiterten scheint das Alternative aber noch auf. Wir sollten uns, so Dieter Segert am Ende seines Vortrags in Berlin, »mit denen beschäftigen, die ehrenvoll gescheitert sind«. Und: Osteuropa ist noch immer eine Region, die dem westlichen Beobachter »fremd« erscheint. Dieses Fremde soll das Buch erklären helfen. Es erscheint im März im Braumüller Verlag Wien. Den gibt es seit 1783.