Des Blättchens 11. Jahrgang (XI), Berlin, 7. Januar 2008, Heft 1

Doppelmord

von Wladislaw Hedeler

Als Grigorij Tschasow zusammen mit sechzehn anderen Kolchosbauern Ende 1937 in einem Dorf unweit der Stadt Kemerowo in Sibirien verhaftet wurde, waren die Verhaftungswellen, die in regelmäßigen Abständen aufeinander folgten, bereits am Abklingen. Die Tschekisten hatten die im Beschluß des Politbüros des ZK der KPdSU(B) »Über antisowjetische Elemente« vom 2. Juli 1937, der an die Sekretäre der Gebiets- und Kreisleitungen sowie die Sekretäre der Zentralkomitees der nationalen Kommunistischen Parteien verschickt worden war, das »Plansoll« für die zu erschießenden oder zu »Besserungsarbeit« zu verurteilenden Bürger längst übererfüllt. Obwohl diese Aktion im November abgeschlossen sein sollte, wurde der auf dem Politbürobeschluß fußende Geheimbefehl Nr. 00447 am 11. Dezember 1937 ein weiteres Mal verlängert.

Der präzisierten Aufgabenstellung nach mußten die Verhaftungen im Rahmen der Massenoperationen gegen die »ehemaligen Kulaken, Kriminellen und anderen antisowjetischen Elemente« bis zum 1. Januar 1938 abgeschlossen sein. Gleichzeitig wurde festgelegt, die »Arbeit« gestaffelt, zwischen dem 15. Februar, dem 15. März und dem 1. April 1938 zu beenden. Mit Arbeit war die Erschießung oder Verurteilung zu Besserungsarbeitslager gemeint. Die völlig überforderten Mitarbeiter der Kreisdienststellen werden erleichtert aufgeatmet haben, als sie vom bevorstehenden Ende der Operation erfuhren.

Der Untersuchungshäftling Grigorij Tschasow wurde am 19. Februar 1938 von einem Feldjäger zum ersten Mal seit der Verhaftung verhört, das Protokoll unterschrieb er, ohne es zu lesen. Die mit dem 19. Januar datierte Anklageschrift hat er nie zu Gesicht bekommen. Ihm wurde vorgeworfen, Pferde vergiftet und Heuschober in Brand gesteckt zu haben. Eine Woche später wurde er aus der Kreisdienststelle in das Gefängnis von Kemerowo verlegt. Am 20. März ging es weiter, nach Jagunewo, hier befand sich eine Filiale des Zentralgefängnisses. In der Gemeinschaftszelle traf er seinen Vater wieder. Beide wußten nicht, was sie erwartete, denn die Verurteilung nach Kategorie 1 wurde den Häftlingen nicht mitgeteilt. Hinter dem Gefängnis war bereits ein Massengrab ausgehoben worden. Kurz vor der Nachtruhe holte man die Häftlinge aus den Zellen. Sie sollten wieder auf Transport, lautete die Begründung, deshalb mußten sie mit ihren wenigen Habseligkeiten auf dem Hof antreten. Auf dem Gefängnishof wurde ein Zählappell inszeniert, die aufgerufenen Männer und Frauen einzeln vom Hof geführt. Bis zur Grube war es nicht weit. Es folgte ein Schlag mit dem Kolben auf den Hinterkopf und der Körper fiel hinab. Als Tschasow sah, das Bewaffnete in die Grube sprangen und auf jeden, der sich noch bewegte, schossen, stellte er sich tot. Nach Mitternacht kroch er heraus. Es war dunkel, die Planierraupe, mit der das Massengrab zugeschoben werden sollte, stand schon bereit.

Die 45 Kilometer bis zu seinem Dorf legte er in der Nacht und am darauf folgenden Tag zurück. Sein Bruder, dem er alles erzählt hatte, was ihm seit der Verhaftung widerfahren war, schlug vor, nach Moskau, zu Väterchen Kalinin zu fahren. Michail Iwanowitsch würde sie anhören und die Schuldigen bestrafen. Die beiden schafften es tatsächlich, am 4. April 1938 einen Termin beim Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR zu erhalten. Nachdem sich Kalinin ihren Bericht angehört hatte, bat er sie, im Vorzimmer zu warten. Hier wurden sie von Mitarb eitern der Hauptmilitärstaatsanwaltschaft abgeholt. Nach der Vernehmung wurde Grigorij im Keller des Gebäudes erschossen. Sein Bruder Fjodor wurde wegen Beihilfe zur Flucht zu fünf Jahren Besserungsarbeitslager im Gebiet um Kolyma verurteilt.

Als der Volkskommissar des Inneren, Lawrenti Berija, 1939 veranlaßte, die unter seinem Vorgänger eingeleiteten Verfahren zu überprüfen, kam der hier beschriebene »Zwischenfall« ans Licht. Er lag dem Generalstaatsanwalt Michail Pankratjew vor, der seinerseits Andrej Andrejew, Sekretär des ZK der KPdSU(B), informierte. Beide unternahmen nichts. Von den Schuldigen wurde keiner zur Verantwortung gezogen, der »Fluchthelfer« nicht aus dem Lager entlassen. Die Nowosibirsker Behörden wurden aufgefordert, in Zukunft gewissenhafter zu arbeiten und vergleichbare »Schlampereien« zu vermeiden.

Nach: Alexej Georgijewitsch Tepljakow: Die Vollstreckung von Todesurteilen in den 1920er und 1930er Jahren, Moskau 2007