Des Blättchens 10. Jahrgang (X), Berlin, 12. November 2007, Heft 23

Perfekt und Imperfekt tranken Sekt

von Klaus Hammer

»Wenn ich aber tot sein werde, so tut mir die Liebe und kratzt nicht alles hervor, was ich je gesagt, geschrieben oder getan. Glaubet nicht, daß in der Breite meines Lebens das liegt, was euch wahrhaft dienlich sein kann«. Und an anderer Stelle nannte der Dichter »die wichtigsten Daten meines Lebens: Geburt, Tod der Mutter, Friedrich Kayßler (Schauspieler und Morgensterns »Lebensfreund«), Nietzsche, meine Frau, Rudolf Steiner (Begründer der Anthroposophie)«.
Christian Morgenstern, dessen Leben die Friedensphase von 1871 bis 1914 in fast symbolischer Vollkommenheit umspannt, hat Gedichte und Geschichten, Szenen, Essays, Buch- und Theaterrezensionen, Aphorismen, Epigramme, Sprüche und Fragmente geschrieben, zu seinen Lebzeiten sind allein fünfzehn verschiedene Gedichtsammlungen veröffentlicht worden. Aber während sein »seriöses« Werk heute weitgehend vergessen ist, begründete sein »humoristisches« Werk, diese »zwei, drei Büchlein«, die er nur als »Beiwerkchen, Nebensachen« ansah, seinen bis heute andauernden Ruhm: Die Galgenlieder (1905), die durch ihre innovative, originelle Art der Nonsens-Poesie in erstaunlich wendiger Reimtechnik eine Sonderstellung in der deutschen Literatur einnehmen, der Palmström-Zyklus (1910), der den bizarren Ton der Galgenlieder fortsetzt, und die aus dem Nachlaß stammenden Gedichtsammlungen Palma Kunkel (1916) und Der Gingganz (1919).
Denn was ist dem »Gelegenheitsdichter« Morgenstern, der fleißig jede Gedicht-Gelegenheit nutzte, hier gelungen? Die Einschmelzung der Welt in ein Spiel, in ein Spiel der Worte, in dem die Welt einzig neu zusammengefügt werden kann. Und das schon zu einem Zeitpunkt, bevor die expressionistischen Programme zur Neuordnung der Welt verfaßt wurden. Damit steht die Lyrik Morgensterns in genauer epochaler Entsprechung zu den Bildern Paul Klees, in denen diese spielerische Überführung der Welt ins Artefakt ebenfalls restlos glückte.
Eine Neuausgabe dieser vier Gedichtsammlungen, ergänzt durch die Vier Legendchen und eine Auswahl der Zeitgedichte sowie durch drei Briefe des Autors, in denen er über seine Galgenlieder Auskunft gibt, ist jetzt in Haffmans Verlag bei Zweitausendeins in handlichem Format erschienen, ein Büchlein, bequem in die Tasche zu stecken und unterwegs darin zu blättern. Diese Ausgabe wird – da kann man sicher sein – viele neue Morgenstern-Freunde gewinnen.
»Die Galgenlieder« hatte Morgenstern seinerzeit dem »Kinde im Manne« gewidmet und als Motiv mit dem Nietzsche-Wort versehen: »Im echten Manne ist ein Kind versteckt: das will spielen«. Damit ist schon die Höhe des geistigen Anspruchs markiert. Die geistige Tendenz steckt dann das zweite Motto, ein Vierzeiler, ab: Laß die Moleküle rasen, / was sie auch zusammenknobeln! / Laß das Tüfteln, laß das Hobeln, / heilig halte die Ekstasen!
Auch der mit der Welt Spielende ist eingebunden in die große ekstatische Gebärde. Es verwundert nicht, daß schon in den Galgenliedern das absolute Gedicht dadaistischer Prägung begegnet (Das große Lalula), ja daß das Gedicht auf die Abstraktionsstufe des rhythmischen Zeichens und von dieser auf einen realen Bewegungsvorgang reduziert wird (Fisches Nachtgesang). Die Konkretisierung, Materialisierung und Personifizierung von Abstrakta ist ein häufiges Galgenlieder-Spiel. So in Unter Zeiten: Das Perfekt und das Imperfekt tranken Sekt. Sie stießen aufs Futurum an (was man wohl gelten lassen kann). / Plusqamper und Exaktfutur blinzten nur. Die Wörter sprießen wie die Triebe von Pflanzen und bringen in fast vegetativer Zartheit neue Wörter und diese eine neue Welt hervor.
Morgenstern hatte für seinen Berliner Freundes- und Stammtischkreis, dem Bund der Galgenbrüder, 1895 die ersten Galgenlieder gedichtet. Die skurrile Bezeichnung entstand bei einer Wanderung der Zechbrüder zum Galgenberg nach Werder bei Potsdam. Als die grotesken Verse im Berliner Kabarett Überbrettl mit großem Erfolg vorgetragen wurden, entschloß sich der Autor zu ihrer Veröffentlichung. Im Mittelpunkt des Verszyklus steht der Galgen, von dem aus man, dem Autor zufolge, die Welt ganz anders sieht. Um ihn versammelt sich bei Nacht eine irreale Gespensterwelt. Die Unsinns-Welt der singenden Galgenbrüder und der Henkersmaid Sophie bevölkern phantastische Kreaturen aus absurden Wortkombinationen und personifizierte abstrakte Begriffe.
In diese Galgenlieder-Welt treten in den folgenden drei Gedichtbänden Figuren, die von einer fast mythischen Aura umgeben sind, Spielfiguren, deren Irrealität von höchster, unzerstörbarer »Wirklichkeit« ist. Palmström reist, mit einem Herrn v. Korf, in ein sogenanntes Böhmisches Dorf. / Unverständlich bleibt ihm alles dort, von dem ersten bis zum letzten Wort. / Auch v. Korf (der nur des Reimes wegen ihn begleitet) ist um Rat verlegen. / Doch just dieses macht ihn blaß vor Glück. Tiefentzückt kehrt unser Freund zurück. / Und er schreibt in seine Wochenchronik: Wieder ein Erlebnis, voll von Honig!
Palmström kann das, was die redensartlichen »böhmische Dörfer« sind, wirklich erleben. Wie ein Kind schafft er sich im Spiel eine eigene Welt, indem er die Dinge der wirklichen Welt aus ihren Zusammenhängen löst und sie in eine neue Welt, in eine sprachliche Eigenwelt stellt. Er verleiht den Dingen neue Bedeutungen – und mit diesen Bedeutungen spielt er. Die Erlebnisse des »Kauzes« Palmström und seines Begleiters Korf, der nur im Geiste existiert, sind »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung«, um den Titel einer Komödie Christian Dietrich Grabbes zu zitieren.
Die beiden Hauptfiguren geben einfach die Sprache auf, lernen »das Wetter-Wendische«, kaufen sich Windhosen und wirbeln nun »quer und kreuz über Festland und Meer« (Die Windhosen). In Gebieten der Windstille schafft aber Palmström Abhilfe durch den Bau einer »Riesenzentrifuge« (Der Weltkurort). Sie sind einsam, meiden die Menschen und die bürgerliche Gesellschaft. Die zurückgezogen lebende Palma Kunkel in der gleichnamigen dritten Gedichtsammlung ist eine Geistesverwandte Palmströms, der aus Ehrfurcht vor dem Schönen nicht in sein rotes Taschentuch zu schnäuzen wagt, und Korfs, der nichtexistent ist im Eigensinn bürgerlicher Konvention.
Dagegen ist Der Gingganz, die vielleicht berühmteste Wortbildung Morgensterns, entstanden durch Zusammenrückung zweier syntaktisch benachbarter und durch Alliteration dazu einladender Wörter (»ich ging ganz in Gedanken hin«), die nach des Dichters eigenen Worten »Ideologe«, einen spielenden Denker, bedeuten soll.
Damit ist Morgensterns Miniatur-Kosmos abgesteckt. Figuren, die Geist, nichts als Geist sind. Morgenstern schuf sie, in einer poetischen Gegen-Welt, die, spielerisch, die Welt als solche und ihre Schrecken aufwiegt. Morgensterns grotesk-skurriles Spiel mit der Sprache im Dienste der Verfremdung hat seine unwiderstehliche Anziehungskraft bis heute nicht verloren.

Christian Morgenstern: Die Galgenlieder. Herausgegeben von Gerd Haffmans, 3. Auflage, Jubiläumsausgabe, Haffmans Verlag bei Zweitausendeins Frankfurt am Main 2007, 320 Seiten, 5,90 Euro