Des Blättchens 9. Jahrgang (IX), Berlin, 20. Februar 2006, Heft 4

Heines Passion

von Gerhard Wagner

So gewiß manche Einrichtungen der Gesellschaft einer Änderung fähig wären,
ebenso gewiß sind breite Schichten der Bevölkerung an der Aufrechterhaltung
des Bestehenden interessiert. Nicht so, als ob sie von den Übeln verschont blieben,
unter denen wir alle zur Zeit leiden; aber sie fürchten das größere Übel,
das eine Umwälzung des ganzen Gesellschaftsbaues für sie möglicherweise bedeutete.
Da nun die Einsicht in die Struktur des zu Verändernden die Vorbedingung
jeder echten Veränderung ist, schließen sie aus Instinkt die Augen und erhöhen fälschlich
auch das Wandelbare zum Rang von unerschütterlich notwendigen Gegebenheiten.

Siegfried Kracauer (1889-1966):
Zum Paradies der Babys

Heinrich Heine, langjähriger Pariser Korrespondent und Autor von Berichten über Französische Zustände, über Politik, Kunst und Volksleben für die 1798 in Augsburg gegründete Allgemeine Zeitung, faszinierten die in seinem Jahrhundert aufkommenden neuen Bilderwelten. Immer wieder würdigte er zum Beispiel die Erfindung des 1787 in Cormeilles- en-Parisis geborenen Franzosen Louis Jacques Mandé Daguerre. Und er gebrauchte sie sogleich als Metapher für nach seinem Verständnis moderne Publizistik und Literatur. So bezeichnete er seine Paris-Berichte für die Augsburger als »ein daguerreotypisches Geschichtsbuch, worin jeder Tag sich selber abkonterfeite, (…) worin das Dargestellte seine Treue authentisch, durch sich selbst dokumentiert«. Der ideale Autor vervielfältigt darum für Heine nicht den alltäglichen Schein, sondern ergründet das wahre Dasein; er »ergreift das Leben in jeder momentanen Äußerung, er ertappt es auf der Tat, und er selbst ist sozusagen ein passioniertes Daguerreotyp«.
Wahrscheinlich kannte Heine vor allem Aufnahmen wie den sachlich-nüchternen, geradezu reportagehaften Blick Daguerres auf den Pariser Boulevard du Temple von 1839, der ein Theater- und Vergnügungsviertel durchzog, das auch er besuchte. Zwei Jahre zuvor war Daguerre mit Hilfe von jodierten Silberplatten die erste sogenannte Daguerreotypie gelungen.
Mit diesem Verfahren steht er fotografiegeschichtlich zwischen seinem Landsmann Joseph Nicéphore Niépce (1765-1833) und dem Engländer William Henry Fox Talbot (1800-1877). Niépce hatte 1826 erste Heliographien (»Sonnenzeichnungen«) mit Hilfe von mit Asphalt beschichteten Zinnplatten hergestellt, und Talbot schuf ab 1834 seine sogenannten Kalotypien (»schönen Drucke«), die späteren Talbotypien, auf mit Silberchlorid lichtempfindlich gemachtem Papier.
Beide Zeitgenossen waren vor allem an den neuen Vervielfältigungsmöglichkeiten für Bild und Schrift interessiert. Doch Daguerre – von Haus aus Theater- und Panoramamaler, 1822 Erfinder des »Dioramas« mit stimmungsvollen Wechselbeleuchtungen – sah ganz traditionalistisch all seine Fotografien als Einzelkunstwerke im Stil Raffaelo Santis oder Claude Lorrains an.
Das hätte der radikale Demokrat und kritische Aufklärer Heine vielleicht noch toleriert – aber gewiß nicht Daguerres Geschäftsgebaren in der Folgezeit. Denn der stellte sich immer mehr auf das starke Bedürfnis nach konventionellen Bildern bei einer größer werdenden Schicht wohlhabender Bürger ein, die ihr Vermögen auch dem Handel mit industriell gefertigten Massenprodukten verdankte. Vor allem mit seinen statischen Inszenierungen von Erzeugnissen der frühen Kunstindustrie traf er zweifellos deren Geschmack. Zum Beispiel zeigt eines seiner Foto-Stilleben einen Altar aus Renommierstücken in Gips, nämlich Kopien überlieferter Figuren: die Skulptur eines liegenden Frauenaktes, eine variierte Zeusgestalt, das Element einer gotischen Kathedrale, eine Meerjungfrau und eine aus Delphinen zusammengesetzte Tischsäule, auf der ein Kristallgefäß steht. Collagen wie diese verschickte Daguerre gezielt als »Repräsentationsbilder« – heute würde man sagen: als »PR-Fotos« – an prominente Zeitgenossen, darunter den österreichischen Staatskanzler Klemens Wenzel Lothar Fürst von Metternich.
1851 starb Daguerre in Bry-sur-Marne bei Paris. Im selben Jahr machte Talbot eine erste Blitzlichtaufnahme, konstruierte Ignazio Porro (1801-1878) ein Objektiv mit veränderbarer Brennweite und entwickelte Louis-Désiré Blanquart-Evrard (1802-1872) das Albuminpapier für bis zu 300 Abzüge. Wesentliche Grundlagen für die künftige, die industrialisierte visuelle Massenkommunikation waren damit geschaffen, aber auch für den medialen »Götzenreigen« um »Das goldne Kalb«. So heißt es in einer Gedichtsammlung Romanzero, die in Daguerres Todesjahr erschien. Ihr Verfasser: Heinrich Heine.