von Klaus Hammer
Mitten in der Wüste erheben sich die Ruinen der Königsstadt Naga im Süden des einstigen antiken meroitischen Reiches, das von 300 v. Chr. bis 350 n. Chr. der mächtige südliche Nachbar des ptolemäisch-römischen Ägypten war. Vom Fuße des die Stadt überragenden Berges zogen sich die Tempel hinunter ins Wadi-Tal. In fünfzehnjähriger Ausgrabungsarbeit haben Wissenschaftler des Ägyptischen Museums in Berlin, namentlich deren einstiger Direktor Prof. Dietrich Wildung und Dr. Karla Kröper, fünf Prozent des gesamten Areals ausgegraben und dabei erstaunliche Funde zutage gefördert. Hier ist für die Archäologen kommender Jahrzehnte noch eine riesige Arbeit zu leisten, bevor annähernd abgeschätzt werden kann, welchen Anteil die antiken Kulturen des Sudan an der Entwicklung und am Reichtum menschlicher Zivilisation gehabt haben. Aber jetzt schon, im Juni dieses Jahres, hat die UNESCO Naga als Weltkulturerbe anerkannt. Was hier in der 2.000 Jahre alten meroitischen Stadt ausgegraben wurde, stammt aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. – bald darauf geriet Naga eineinhalb Jahrtausende inmitten der Wüste in Vergessenheit.
Nahezu vollständig sind die Reliefs des im Talgrund liegenden Löwentempels geborgen worden. Eine Allee von zwölf Widderstatuen auf hohen Podesten bildet den monumentalen Zugang zum wieder aufgebauten Haupttempel der Stadt, dem Amuntempel. Dessen Bildprogramm ist in eine linke männliche und eine rechte weibliche Hälfte geteilt. Konserviert wurde auch die bauhistorisch einzigartige Hathorkapelle, die in sich hellenistische, römische, pharaonische und meroitische Bau- und Ornamentformen vereinigt und damit ein Beispiel für die künstlerische Vielschichtigkeit des meroitischen Reiches darstellt. Wenn wir heute von der Antike sprechen, dann müssen wir eine erhebliche Erweiterung über den mediterranen Raum hinweg nach Süden bis in den Sudan vornehmen. Hier, an der äußersten Peripherie des klassischen Altertums, befand sich eine bedeutende Stätte antiker Kultur zwischen Ägypten und Afrika, eine Schnittstelle der antiken und afrikanischen Kunst. Die Berliner Archäologen haben dem Land Sudan ein Stück seiner Geschichte zurückgegeben.
In einer virtuellen Rekonstruktion der Stadt Naga wird dem Besucher der Berliner Ausstellung das natürliche Erscheinungsbild der Stadt in ihrer Blütezeit des 1. und 2. Jahrhunderts n. Chr. vermittelt. Innerhalb dieses kreisförmigen Panoramabildes erheben sich überlebensgroße Skulpturen im hellenistischen Stil, Statuen und großformatige Tempelreliefs afrikanischer Könige in pharaonischem Ornat, monumentale Tierskulpturen von heiligen Widdern und Löwen wie filigrane Reliefstelen von Götter- und Königsbildern. Nur auf einige herausragende Werke kann hier verwiesen werden: Unter den eingestürzten Säulen des Amuntempels wurde eine Stele gefunden, die unter den Flügeln der Sonnenscheibe die Königin Amanishakheto und die von einem Doppelfalken auf der Mondsichel bekrönte Göttin Amesemi darstellt. Von ihr strömt göttlicher Lebenshauch zur Königin. Auf einer anderen, auf dem Pflaster des Sanktuars gefundenen Stele steht die Königin zwischen dem rechts thronenden löwenköpfigen Gott Apedemak und der links hinter ihr stehenden Göttin Amesemi, seiner göttlichen Gefährtin. Götter und Königin garantieren in ihrem harmonischen Miteinander die politische Ordnung; unter ihren Füßen befinden sich gefesselte Feinde. Aus dem Vorfeld des Amuntempels stammt ein dreistufiges Thronpodest, deren beide unteren Stufen auf dem Bauch liegende, zusammengeschnürte Gefangene zeigen, während auf der obersten Stufe zwei Gefesselte mühsam auf ihren Knien balancieren.
Das Motiv der gefesselten Feinde unter den Sohlen des Herrschers weist so den Amuntempel als einen zentralen Ort politisch-religiöser Repräsentation aus. Löwenfiguren, kleine Statuetten wie große Statuen, aus kostbarer Fayence wie aus Sandstein gefertigt, darunter ein Löwenkopf mit eingelegten Augen, sind Votivgaben an den Löwengott Apedemak, der in Naga auch als löwenköpfige Schlange und vierköpfiger, in alle Weltrichtungen blickender und wirkender Schöpfergott verehrt wurde. Eine kleine Fayence-Figur der sitzenden Göttin Isis mit dem Horuskind folgt dem in Ägypten bezeugten Typus der stillenden Gottesmutter, die als Krone ein Kuhgehörn mit der Sonnescheibe trägt. Dagegen könnte bei einer ebenfalls im Amuntempel gefundenen Frauenfigur in der Haltung des ausgestreckten linken Armes ein Motiv der klassisch-antiken Plastik vermutet werden. Aber der – verloren gegangene – Kopfputz lässt doch auf die Darstellung einer Göttin schließen, deren Körperform dem meroitischen Ideal weiblicher Schönheit folgt. In zahlreichen Skulpturen ist eine bizarre Zwergenfigur belegt, die altägyptisch Bes genannt wird und die als guter Geist, als Kobold Mutter und Kind, Haus und Herd beschützt. Auf Opferstellen hat man kleine Würfelfiguren, zu einem Würfel reduzierte Körper, aus der ein übergroßer Kopf hervorgeht, gefunden, für die es außerhalb von Naga keine Parallelen gibt. Die Seitenflächen weisen erhebliche Schleifspuren auf; wahrscheinlich hat man dem abgeriebenen Steinmehl magisch wirksame Kräfte zugeschrieben. Die hieroglyphischen Inschriften der Ritualszenen der beiden Haupttempel von Naga sind nicht ägyptisch, wie man vermuten könnte, sondern meroitisch, in einer Schrift, die zwar vor 100 Jahren entziffert wurde, die aber immer noch nicht vollständig übersetzt werden kann. Die ausgestellten Werke bezeugen anschaulich, dass sich die Künstler von Meroe souverän verschiedenster Anregungen bedient haben, um ihren eigenen unverwechselbaren Weg zu gehen.
Der weltbekannte Architekt David Chipperfield hat kostenfrei die Pläne für ein Museum geliefert, das am Fuße eines die Stadt Naga überragenden Felssporns gebaut werden soll und in dem dann die jetzt in Berlin gezeigten Ausstellungsstücke ihren Platz finden werden.
Königsstadt Naga – Grabungen in der Wüste des Sudan, Kunstforum der Berliner Volksbank, Budapester Str. 35/Ecke Kurfürstenstraße, bis 18. Dezember, täglich 10 – 18 Uhr, Katalog 19,90 Euro.
Schlagwörter: Antike, Klaus Hammer, meroitische Kunst, Naga, Sudan