von Wladislaw Hedeler
Bei der neuesten, im Moskauer Rosspen-Verlag jetzt in der Reihe »Geschichte des Stalinismus« erschienenen Jeshow-Biographie handelt es sich um eine überarbeitete und um einen Dokumentenanhang erweiterte Fassung der auf Englisch verfaßten Erstausgabe von Nikita Petrow und Mark Jansen aus dem Jahre 2002. Diese Studie über Stalins Zögling ist nicht die erste Publikation über jenen »Eisernen Volkskommissars« dem die Durchführung des »Gtoßen Terrors« oblegen hatte.
Das Buch unterscheidet sich von den in Rußland nach der Öffnung der Partei- und Behördenarchive veröffentlichten Jeshow-Biographien und den seine Tätigkeit im Apparat des NKWD widerspiegelnden Dokumenten-Editionen durch die bisher umfassendste Auswertung der im Russischen Staatsarchiv für sozialpolitische Geschichte (RGASPI), dem Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation und der im Zentralen Archiv des Sicherheitsdienstes FSB aufbewahrten Bestände. Das erklärt wohl auch die Entscheidung des Verlages fiir die Aufnahme dieser Biographie in die mit Unterstützung der Jelzin-Stiftung herausgegebene Reihe »Geschichte des Stalinismus«.
Aleksej Pawijukow, der bereits 2007 eine Biographie von Nikolai Jeshow im Moskauer Sacharow-Verlag veröffentlichte, hatte sich im Unterschied zu Nikita Petrow nur auf die im RGASPI aufbewahrten Akten sowie die zwölf Bände umfassende »Untersuchungsakte Jeshow« aus dem FSB-Zentralarchiv stützen können.
Petrow und Jansen legen Wert darauf, sich mit Klischees, Irrtümern, bewußt oder unbewußt übernommenen Verfälschungen in den im In- und Ausland erschienen Veröffentlichungen auseinanderzusetzen. Jedoch: So aufschlußreich ihre fundierte und archivgestützte Studie auch ist, auf viele Fragen haben auch sie keine Antwort gefunden. Einige Themen, die in den Kontext der Parteisäuberungen gehören – wie die Vorbereitung und Durchfihrung der Moskauer Schauprozesse 1936 bis 1938 und das diesen zugrundegelegte Szenario – werden von ihnen leider nur angedeutet.
Am Anfang aller hier genannten Biographien steht Jeshows rasante Karriere in der KPdSU(B), die in einer abrupten Höllenfahrt endet. Mit neuen Informationen über Leben und Tätigkeit des jungen Jeshow, die über die von Isaak Minc verfaßte Skizze der Kindheit und Jugend hinausgehen, kann keiner der Biographen aufwarten.
Die nachweisbaren auf Jeshow selbst zurückgehenden Fälschungen des Geburtsdatums, der Nationalität, der Herkunft und des Parteieintritts sind schnell aufgedeckt, denn alle Autoren konnten die im Zentralarchiv des FSB aufbewahrte Kaderakte einsehen. Der 1. Mai als Geburtstag und die »Wiege der Revolution« als Geburtsort sind ebenso wie die angebliche proletarische Herkunft pure Erfindung.
Sein Ende wie auch seine Karriere, die 1923 begann, hängen auf das engste mit Stalin zusammen. Zum ersten Mal wurde Jeshows Name 1929 in der zentralen Presse erwähnt. Er gehörte damals zu jenen Kadern im Staatsapparat, die den Kampf gegen die Repräsentanten der »rechten Abweichung« in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (B) führten. Ende 1930 kehrte Jeshow in den Parteiapparat zurück. Vier Jahre später war er bereits Mitglied der Mandatsprüfungskommission des 17. Parteitages der KPdSU(B). Damit begann sein Aufstieg in den Führungszirkel.
Jeshow legte seine Vorstellungen über den Umgang mit der »Opposition« in einer Arbeit unter dem Titel »Von der Fraktionstätigkeit zur offenen Konterrevolution« dar. Er begann mit der Säuberung des Apparates der Geheimpolizei. Darauf folgten der Große Terror und die nationalen Operationen des NKWD. Petrow und Jansen beschreiben deren Ineinandergreifen und Aufeinanderfolge und weisen nach, daß Jeshow ein willfähriges Instrument Stalins war. Von Eigeninitiative oder Selbständigkeit könne keine Rede sein. Breiten Raum nimmt bei ihnen – und das zeichnet diese Biographie gegenüber allen anderen aus – die Analyse der Übergangsphase von Jeshow zu Berija ein, deren Beginn mit der Urteilsverkündung im 3. Moskauer Schauprozeß im März 1938 zusammenfällt. Die beabsichtigte Umbesetzung war so geschickt eingefädelt, daß keiner der Betroffenen in Jeshows Umgebung Verdacht schöpfte. Erst die Reaktion Stalins auf die Flucht des Leiters der Gebietsverwaltung Fernost des NKWD im Juni 1938 in die Mandshurei, die Disziplinierung und anschließende Verhaftung von Marschall Blücher (siehe Das Blättchen 8/2009) ließen das wachsende Mißtrauen des Generalsekretärs erkennen.
Über die eigentlichen Ursachen allerdings kann nur spekuliert werden. Die Gefängnisse waren im Sommer 1938 überfiillt, die Massenoperationen schleppten sich hin, die Säuberungen des Apparates dauerten an. Ein Charakterzug Jeshows, auf den die Autoren immer wieder zurückkommen, war, daß er nicht innehalten konnte und dazu neigte, den Bogen zu überspannen. Das rief letztlich den Unwillen Stalins hervor. Die in den Band aufgenommenen Dokumente – in der Regel Berichte für Stalin und Reden Jeshows vor der NKWDFührung – stützen eine derartige Vermutung.
Zwischen August und September 1938 muß die Entscheidung gefallen sein, wieder die Kontrolle der politischen Polizei durch den Parteiapparat herzustellen. Ab Oktober hatte Berija in der Lubjanka das Sagen. Im November 1938 reichte Jeshow sein Rücktrittsgesuch ein. Die vom Politbüro abgesegnete Anklageschrift wurde ihm am 1. Februar 1940 ausgehändigt, die Hinrichtung erfolgte am 6. Februar. Wie sie vor sich ging, wird im Buch anhand der Aussagen von Augenzeugen dargestellt. Der Leichnam wurde verbrannt und die Asche auf dem Donskoje Friedhof verstreut.
Nikita Petrow, Mark Jansen: Stalinskij pitomez – Nikolai Jeshow (Stalins Zögling – Nikolai Jeshow), Rosspen Moskau 2009, 447 Seiten (Serija Istorija Stalinisma); Alexej Pawljukow: Jeshow – Biografija, Sacharow Moskau 2007, 576 Seiten (Serija »Biografii i memuary«)
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