14. Jahrgang | Nummer 20 | 3. Oktober 2011

Kriegshunde

von Uri Avnery, Tel Aviv

So grauenerregende Hunde sind seit Sherlock Holmes „Hund von Baskerville“ nicht mehr gesehen worden. Sie sind vom verstorbenen „Rabbi“ Meir Kahane herangezogen worden. Der wurde einst vom israelischen Obersten Gerichtshof als Faschist gebrandmarkt. Die Aufgabe der Hunde ist es, die Siedlungen zu schützen und Palästinenser anzugreifen. Unsere Fernsehstationen haben breit über sie berichtet und ihre Wirksamkeit und Aggressivität gelobt.
Dies alles zur Vorbereitung für den „September“. September ist nicht nur der Name eines Monats, er ist ein Symbol einer existentiellen Bedrohung. Die Palästinenser werden die UN ersuchen, den Staat Palästina anzuerkennen (Der Artikel wurde vor der Sitzung der UN-Vollversammlung geschrieben – die Red.) Sie haben schon eine große Mehrheit in der UN-Vollversammlung zusammenbekommen. Danach wird nach der offiziellen Beurteilung unserer Armee die Hölle losbrechen. Massen von Palästinensern werden sich erheben, die Trennungsmauer angreifen, die Siedlungen stürmen, Front gegen die Armee machen, Chaos schaffen.
„Die Palästinensische Behörde ist dabei, ein Blutbad zu planen“ behauptet Avigdor Lieberman. Und wenn Lieberman Gewalt voraussieht, wäre es unklug, ihn zu ignorieren. Seit Monaten bereitet sich unsere Armee auf genau solche Eventualität vor. In dieser Woche verkündete sie, dass sie auch die Siedler trainiert und ihnen sagt, wann es ihnen erlaubt sei zu schießen, um zu töten. So bestätigt sie, was wir alle wissen: dass es keinen klaren Unterschied zwischen Armee und Siedlern gibt – viele Siedler sind Offiziere in der Armee, und viele Offiziere leben in Siedlungen. „Die Armee verteidigt alle Israelis, egal, wo sie sind“ ist die offizielle Linie.
Eines der Szenarien, auf die sich die Armee vorbereitet, ist, wenn Palästinenser auf Soldaten und Siedler „mitten aus großen Demonstrationen heraus schießen“ würden, wurde erklärt. Das ist eine ominöse Erklärung. Ich bin bei hunderten von Demonstrationen gewesen und niemals Zeuge irgendeiner Schießerei „von innerhalb der Demonstration“ geworden. Aber es ist ein nützlicher Vorwand, um auf gewaltfreie Demonstranten zu schießen. Es klingt so ominös, weil es an die Vergangenheit erinnert. Nach der ersten Intifada, die als palästinensische Erfolgsgeschichte angesehen wird (und das Oslo-Abkommen verursachte), bereitete sich unsere Armee sorgfältig auf die zweite vor. Die auserwählten Instrumente waren die Scharfschützen.
Die zweite Intifada begann nach der gescheiterten Camp David-Konferenz 2000 und Sharons absichtlich provokativem „Besuch“ auf dem Tempelberg. Die Palästinenser hielten gewaltfreie Massendemonstrationen ab. Die Armee reagierte mit selektivem Töten. Ein Scharfschütze, von einem Offizier begleitet, nahm seine Position auf dem Weg des Protestes ein, und der Offizier wies auf ausgewählte Ziele hin – auf Demonstranten, die wie „Anführer“ aussahen. Diese wurden getötet und es war sehr wirksam. Bald hörten die gewaltfreien Demonstrationen auf und wurden durch sehr gewalttätige („terroristische“) Aktionen ersetzt. Mit diesen wusste die Armee umzugehen. Während der zweiten Intifada wurden 4.546 Palästinenser getötet, von denen 882 Kinder waren; von Israelis hingegen 1.044, davon waren 716 Zivilisten, darunter 124 Kinder.
Ich fürchte, dass die Vorbereitungen für die dritte Intifada, von der man annimmt, dass sie im nächsten Monat beginnt, in derselben Richtung läuft. Aber die Umstände werden ganz andere sein. Nach den Ereignissen in Ägypten und Syrien könnten die palästinensischen Demonstranten dieses Mal anders reagieren, und das „Blutbad“ könnte viel schlimmer werden. So werden auch die internationalen und arabischen Reaktionen anders sein. Ich stelle mir Poster vor, die Binyamin al-Assad und Bashar Netanyahu verurteilen.
Aber die meisten Israelis sind nicht beunruhigt. Sie glauben, dass das ganze Szenario von Netanyahu als Trick erfunden wurde, um die riesige Protestbewegung, die Israel zur Zeit erschüttert, zu beenden. Die Siedler und ihre Hunde werden in den kommenden Szenarien bedrohlich näher rücken –sie spielen jetzt eine zentrale Rolle im Konflikt. Sie sind es, die jedes Friedensabkommen oder sogar bedeutsame Friedensverhandlungen verhindern.
Es ist ganz einfach: jeder Frieden zwischen Israel und dem palästinensischen Volk gründet sich notwendigerweise auf das Abtreten der Westbank, Ost-Jerusalems und des Gazastreifens an den zukünftigen Staat Palästina. Ein weltweiter Konsens darüber gilt bereits. Die einzige Frage ist, wo genau wird die Grenze verlaufen, da es auch einen Konsens über einen kleinen Landtausch gibt. Dies bedeutet, dass Frieden notwendigerweise mit dem Abbau einer großen Anzahl von Siedlungen und der Evakuierung der Siedler aus der Westbank verbunden ist. Die Siedler und ihre Verbündeten dominieren die gegenwärtige Regierungskoalition. Sie lehnen es ab, auch nur einen Quadratmeter des besetzten Gebietes abzugeben. Deshalb gibt es keine Friedensverhandlungen, kein Einfrieren der Bautätigkeit in den Siedlungen, keinen Schritt in Richtung Frieden.
Die Siedler gingen in die Westbank, um „Fakten vor Ort zu schaffen“, um jede Möglichkeit, einen lebensfähigen Staat zu errichten, zu verhindern. Es ist daher ganz unwesentlich, ob es die Siedler sind, die die Rückkehr der besetzten Gebiete für Frieden verhindern, oder ob die Regierung die Siedler für diesen Zweck benützt. Es kommt aufs selbe heraus: die Siedler blockieren jede Friedensbemühung. Wie die Amerikaner es ausdrücken: Es sind die Siedler, du Dummkopf!
Es ist jetzt in gewissen Kreisen Mode, die Siedler im Namen der nationalen Einheit zu „umarmen“. Juden sollten sich nicht streiten, sagen sie und beziehen sich auf eine alte Ghettoweisheit. Aber man kann die Siedler nicht umarmen und gleichzeitig für soziale Gerechtigkeit kämpfen. Dies geht einfach nicht, auch wenn einige der Führer der sozialen Protestbewegung dies aus taktischen Gründen befürworten. Es kann keinen israelischen Wohlfahrtsstaat geben, während der Krieg weitergeht. Die Grenzvorfälle der letzten beiden Wochen zeigen, wie leicht es ist, die öffentliche Meinung abzulenken und die Proteste zum Schweigen zu bringen, wenn das Banner der Sicherheit entfaltet wird. Die Erzeugung der Angst vor dem „September“ ist nur ein weiteres Beispiel … Die Gründe für die Unmöglichkeit, die soziale Gerechtigkeit von der Sicherheit zu trennen, gehen aber tiefer. Ernsthafte soziale Reformen brauchen Geld, eine Menge Geld. Selbst nach der Reform des Steuersystems – mehr „progressive“ direkte Steuern, weniger „rückläufige“ indirekte Steuern – und ein Durchbrechen des Kartells der Magnaten, werden viele Milliarden Dollar nötig sein, um unsere Schulen, unsere Krankenhäuser und unsere sozialen Dienste zu retten.
Diese Milliarden können nur aus dem Militärbudget und den Siedlungen kommen. Riesige Summen werden in die Siedlungen investiert – nicht nur in hoch subventionierte Wohnungen für die Siedler, Regierungsgehälter für viele Siedler (ein weit höherer Prozentsatz als in der normalen Bevölkerung), auch für die Infrastruktur (Straßen, Strom- und Wasserleitungen) und für die große Anzahl von Soldaten, um sie zu verteidigen. Die Vorbereitungen für „September“ zeigen wieder, wie viel dies kostet.
Hinter all diesen Tatsachen gibt es einen Hauptgrund für die Verunstaltung Israels: den Konflikt selbst. Seinetwegen sind wir verpflichtet, ein riesiges militärisches Establishment aufrecht zu erhalten. Wir zahlen pro Kopf für die bewaffneten Kräfte weit mehr als die Bürger in irgend einem westlichen Land. Israel, ein Land mit nur 7,5 Millionen Einwohnern, unterhält die viert- oder fünftgrößte Armee der Welt. Die US-Militärhilfe zahlt nur einen kleinen Teil davon. Die Beendigung des Krieges wäre also eine notwendige Vorbedingung für jede reale Anstrengung, Israel in einen „skandinavischen“ Wohlfahrtsstaat zu verwandeln. Der Konflikt ist nicht ein Punkt unter vielen –er ist der wichtigste Punkt.
Man kann die Siedler lieben oder hassen, gegen sie sein oder sie umarmen soviel man will – es bleibt die Tatsache, dass die Siedlungen bei weitem das Haupthindernis für Frieden und den Wohlfahrtstaat sind. Nicht nur wegen ihrer Kosten, nicht nur wegen der von ihren Bewohnern von Zeit zu Zeit ausgeführten Pogrome, nicht nur weil sie das politische System dominieren. Sondern allein wegen ihrer Existenz.
Im Gegensatz zu dem Hund von Baskerville bellen die Hunde der Siedlungen laut. Es ist der Klang des Krieges.

Aus dem Englischen übertragen von Ellen Rohlfs.