14. Jahrgang | Nummer 20 | 3. Oktober 2011

Das Anschlussbier

von Holger Jobst

Falsch! – Bei einem Bier dieses Namens handelt es sich mitnichten um jenes schaumkronenbewehrte Glas, das man auf demTisch einer Kneipe vor sich stehen hat, in der man auf Anschluss aus ist. Das Anschlussbier ist vielmehr ein terminus technicus der Filmwelt. Als jemand, der seine kleine Rente gern durch ein Zubrötchen anreichert, weiß ich diesbezüglich nun Bescheid. Eingesetzt als Komparse in einer Gaststätte zweifelhaften Rufs hatten meine Frau und ich den Hintergrund einer Spielszene abzugeben. In selbiger verlangte das Drehbuch von den Hauptdarstellern, nach enttäuschter Kenntnisnahme einiger Ungastlichkeiten der Kneipe wieder das Weite zu suchen. Bis es dazu kommen sollte, hatten wir die Speisekarte zu studieren. Und: Ich hatte eben dabei einen szenebelebend herzhaften Schluck eines frisch gezapften Pilseners zu mir zu nehmen. Eine Rolle, wie auf meinen darstellerisch sehr verwandlungsfähigen Leib geschneidert, ich bin in sie gleichsam wie in eine zweite Haut geschlüpft.
Nun hält sich aber die Volumenreduktion eines 0,3-Liter-Glases selbst bei aktionsbetonter Forschheit des Rollenverständnisses in Grenzen; ja ich war mir nicht mal sicher, ob ich das Labsal dieses geschätzten und zudem kostenlos verabreichten Gerstensaftes bis zur Neige je würde auskosten dürfen. Aber da kannte ich halt die Filmwelt noch nicht so recht. Denn – die Szene war gar oft zu wiederholen. Mal reagierte einer der Schauspieler zu früh oder zu spät, bewegte sich zu schnell oder zu langsam, nahm eine zu dominante oder zu verhuschte Haltung ein, sprach nicht deutlich genug oder verstolperte gar seinen Text trotz dessen denkbarster Kürze; sie sind halt auch nur Menschen, die Schauspieler. Und einmal, dies gehört der Ehrlichkeit halber gesagt, habe auch ich eine der Wiederholungen veranlasst, weil durch ein unaufhaltsam explosives Aufstoßen aus den Tiefen meines Innern die Tonassistentin so erschrak, dass sie mit dem Mikrofongalgen eine antike Amphore vom Wandregal stieß.
Aber auch der am Tresen zapfende Wirt verursachte diverse Durchläufe der Szene. Mal schaute er zu früh auf die empört Abgehenden, mal zu spät, mal nicht verwundert genug, mal zu übertrieben verwundert. Und wenn er, perplex wie er zu schauen hatte, das Bierglas überlaufen ließ, floss es mal links und mal rechts in die, jedenfalls für die Kamera, falsche Richtung. Wiederholung folgte also auf Wiederholung. Vor uns auf dem Hintergrund-Tisch flackerte das liebevoll entzündete Kerzchen, wir studierten die Karte, als gelte es, in ihr tiefe Weisheit zu entdecken – und ich nahm jedes Mal den mir aufgetragenen Schluck, mit optisch freilich deutlicher Abtragungswirkung für den Füllstand meiner Tulpe. Und da eben kommt das Anschlussbier ins Spiel. Denn nach jedem Abbruch der Szene an dieser Stelle kam der Regieassistent mit einer handlichen Digitalkamera und fotografierte den Füllstand meines Glases, damit ich, wenn die Szene fortzusetzen wäre, auch mit dem szenegleichen Pegel operieren würde. Eben jenes Bier, das mir in diesem Fall aufgefüllt kredenzt wurde, nennt man folgerichtig das „Anschlussbier“. Das war nun leicht zu begreifen, zumal ich in den Pausen, in denen die Regie mit den Akteuren die Szene auswertete und besprach, den Versuch fortsetzte, irgendwann auf den Grund des Glases zu stoßen und somit eine Korrektur wirklich erforderlich war.
Drei Stunden lang haben wir ganze zwei Einstellungen geprobt. 16mal habe ich besagten Großschluck am Drehbeginn nehmen dürfen, ja müssen, 24mal habe ich das „Anschlussbier“ abgetragen, bevor ein wunderschöner Drehtag zu Ende ging. Der Kameraassistent links, und meine Frau rechts an meinem Arm haben mich dann mit caritativem Engagement bis zum Taxi geleitet. Auf meine nächste Buchung als Komparse wollte sich der Produktionsleiter merkwürdigerweise nicht festlegen. Er war sicher neu in der Branche.