Carl von Ossietzky im Gefängnis, 1932

von Hans-Jürgen Stephan

Odyssee einer Gefangenenakte

Man müsse ja nur einmal bekannte Lebensstationen Ossietzkys durchforsten und dann gezielt nachfragen, ob nicht noch das eine oder andere zu entdecken sei, hatte sich ein junger Westberliner Publizist eines schönen Tages gesagt, als er bereits vielerlei zum Leben des Friedensnobelpreisträgers gelesen hatte und über so manche Lücken und Ungereimtheiten in den vorliegenden Biographien, gestolpert war. Und er begab sich also auf Wanderschaft …

Im privaten Nachlaß Ossietzkys, der von der Universitätsbibliothek Oldenburg treuhänderisch verwaltet wird, befinden sich viele Briefe, an seine Frau Maud vor allem, die zum Beispiel auch Auskunft geben über die siebeneinhalb Monate im Gefängnis vom Mai bis Dezember 1932; Zeitzeugen berichteten verschiedentlich über die politische Demonstration von Freunden und Kollegen zum Haftantritt am Mittag des 10. Mai 1932, auch Fotos liegen vor. Und da sollte ausgerechnet eine geordnete preußische Gefängnisbürokratie nichts Wissenswertes hinterlassen haben?

Also schrieb Stefan Berkholz, jener neugierige Publizist, im März 1987 an den „Leiter der Justizvollzugsanstalt Tegel“, ob sich denn nicht vielleicht etwas finden ließe in den verstaubten Gängen eines womöglich vorhandenen Gefängnisarchivs. Am 1. April 1987 lag die Antwort der Gefängnisleitung vor: „Die Gefangenenunterlagen über die Haftzeit Carl von Ossietzkys im Jahre 1932 wurden bereits 1972 an die Senatsverwaltung für Justiz weitergereicht. Ich darf Sie deshalb bitten, sich zuständigkeitshalber mit Ihrem Anliegen zunächst an die Aufsichtsbehörde zu wenden …“ Nun war 1987, weitere fünfzehn Jahre waren vergangen seitdem. Zwischen Glück und Bangen verfaßte Berkholz einen Brief an die genannte Aufsichtsbehörde.

Was dann in den folgenden knapp vier Wochen geschah, liest sich wie der Bericht eines Detektivbüros. Die „Aufsichtsbehörde“, eine Instanz beim „Senator für Justiz und Bundesangelegenheiten“, zeigte sich aufgeschlossen; zwar war zunächst nicht klar, wer nun genau sich als jene Instanz verstehen wollte und sollte, die Antwort wurde hin- und hergeschoben in den langen Gängen der Behörde, doch sie erfolgte schließlich: Die Akte habe sich tatsächlich 1972 beim Justizsenat befunden. Man wollte sich damals ein Bild davon machen, wer dieser Ossietzky eigentlich war, denn die Justizverwaltung hatte über das Anliegen einer Initiative von Westberlinern zu befinden, die eine Gedenkplakette für diesen Mann am Gefängnistor in Tegel anbringen wollten. Nach Erledigung dieser Aufsichtspflicht sei die Akte ins Gefängnis zurückgereicht worden.

Es folgten verschiedene Telefonate. Die Gefängnisbürokratie verwies nun an das Landesarchiv, weil man sich zu erinnern meinte, daß irgendwann ein ganzer Stoß von Akten dorthin gekommen und überhaupt dieses Archiv ja Sammelstelle für solcherlei Archivalien sei.

Der dortige stellvertretende Direktor erwies sich als sehr hilfsbereit, konnte sich zwar an eine Ossietzky-Akte aus dem Tegeler Gefängnis nicht erinnern, meinte auch, daß sich im Landesarchiv vorwiegend Prozeßakten finden ließen – doch er wälzte und wälzte in seinen Aufnahmebüchern, über Jahre zurück. Nichts! Der freundliche Mann wußte mancherlei zu berichten vom nachlässigen Umgang mit alten Aktenbeständen und seinen oftmals zu späten und vergeblichen Bemühungen um solche Fundstücke.

Schließlich wurde man doch fündig: an entlegener Stelle, in einer beinah privaten „Schatztruhe“, wohl erhalten, kaum berührt von der Nachwelt und über Jahrzehnte unbeachtet. Aber genau noch immer dort, wo die Akte einst, vor 55 Jahren, angefertigt worden war: im Gefängnis Tegel.

Als Berkholz die Dokumente dann endlich im Mai 1987 in einem kargen Beamtenzimmer der Haftanstalt zum ersten Mal einsehen konnte, zitterten ihm die Hände. Eine vergangene Welt begann lebendig zu werden. Auf dem zerschlissenen, dunkelbraunen Pappdeckel, der an den Rändern zerbröckelt und teilweise abgebrochen ist, ein Aufdruck mit handschriftlicher Ergänzung: „Personalakten für den Strafgefangenen Karl von Ossietzky“. Am oberen linken Rand die Gefangenen-Nummer: 337/32. Ossietzky ist der 337. Neuzugang des Jahres 1932. Zelle 469 – ebenfalls auf der Kladde vermerkt. Auf dem Pappeinband im Inneren der Akte ist ein kleines Rechteck leer geblieben und ohne erkennbare Klebstoffrückstände: Ein Foto Ossietzkys ist hier offensichtlich nie angebracht worden.

Doch es finden sich in der gehefteten, mit ungezählten Bindfäden zusammengehaltenen Pappkladde die Formbögen der Gefängnisbürokratie, die Auskunft geben über den erbärmlichen Alltag in der Haftanstalt, es finden sich Schreiben von Justizbehörden, Besuchsanträge, ein Brief Ossietzkys, Notizen des Gefängnisarztes, Briefentwürfe an vorgesetzte Behörden – es ist das Journal des Gefängnisalltags.

Berkholz sichtet und entschlüsselt die Akte, ergänzt das Material durch Briefe und Texte Ossietzkys, durch Zeitzeugenaussagen und Zeitungsberichte, durch Fotografien und Dokumente und bringt all dies im Mai 1988 beim Luchterhand Literaturverlag in Darmstadt als Materialsammlung heraus: Carl von Ossietzky, 227 Tage im Gefängnis.

Weltbühne 6/1989

 

Gefängnisalltag

Als Ossietzky am 10. Mai 1932 gegen 13 Uhr durch die Gefängnistore in Berlin-Tegel getreten ist, wird er als gewöhnlicher Krimineller eingestuft. Während des Weltbühnenprozesses im November 1931 war von einer „Aberkennung der Überzeugungstäterschaft“, wie Ossietzky in seinem Artikel „Rechenschaft“ zum Haftantritt schrieb, keine Rede gewesen. Auch die mündliche Urteilsverkündung stufte ihn noch als politischen Täter ein. „Erst vier Wochen später“, schreibt Ossietzky, „in dem definitiven Urteil ist eine dunkle ehrabschneiderische Andeutung enthalten, ohne daß das Gericht sich bemühte, auch nur ein einziges argumentierendes Wort dafür anzuführen.“ Ein Vorwurf, der Ossietzky besonders trifft; eine Verurteilung, die natürlich auch Folgen für seinen Gefängnisaufenthalt hat.

Ossietzky ist Strafgefangener mit allen Regeln des normalen Strafvollzugs. Immerhin gelingt es aber seinen Rechtsanwälten vor dem Haftantritt, Selbstbeschäftigung und eigene Kleidung durchzusetzen; Ossietzky gibt in einem Brief an die Gefängnisleitung an, daß er „ein größeres Werk ‚Deutsche Geschichte seit dem Ende des siebenjährigen Krieges“ anfertigen“ wolle. (Hierfür ist eine „Entschädigung“ von zwei Reichsmark pro Tag an die Staatskasse zu zahlen.) Auch die Aushändigung der verschiedenen Zeitungen wie „Berliner Tageblatt“, „Vossische Zeitung“, „8 Uhr-Abendblatt“, „Deutsche Allgemeine Zeitung“ und „Weltbühne“ wird gestattet, „da die regelmäßige Lektüre dieser Blätter für meine berufliche Tätigkeit unumgänglich notwendig ist“. Aber Raucherlaubnis wird verweigert, „was ich für eine Barbarei halte“, wie der starke Raucher Ossietzky Anfang Mai an seinen befreundeten Kollegen Tucholsky schreibt.

Um 13 Uhr schließen sich hinter Ossietzky die Tore der Haftanstalt. Ein Strafanstaltsinspektor füllt ein Formblatt B aus, mit dem der Strafgefangene auf seine Rechte, vor allem aber Pflichten hingewiesen wird – der Annahmebogen: Ossietzky hat zu unterschreiben. Die „errechnete Strafzeit“ wird ihm bekanntgegeben, Haftentlassung soll am 10. November 1933 sein.

Sodann füllt ein Beamter eine „Personalbeschreibung“ aus. Gewissenhaft werden die Beobachtungen in die vorgefaßten Schablonen eingetragen: Name, Vorname, auch „Spitzname“, soweit vorhanden; Beruf, Geburtsdatum, letzter Wohnort. Die Größe wird mit 1,68 m angegeben, die Gestalt ist nicht „schwächlich“, „schlank“ oder „kräftig“, sondern: „untersetzt“; das Haar ist „blond“, die Stirn „hoch“, die Zähne „lückenhaft“. Die Nase wird als „groß“ bezeichnet, Ohren und Mund hingegen sind „mittel“, das Kinn ist nicht „spitz“, es ist kein „Doppelkinn“ oder hat „Grübchen“, nein, das Kinn gilt als „breit“.

Nachdem die Person soweit hafttauglich erfaßt ist, erhält Ossietzky ein vierseitiges Formular: „Lebenslauf“. Er trägt seine beruflichen Stationen ein: „1919-24 Redakteur der Berliner Volkszeitung. 1924-26 Redakteur von Tagebuch u. Montag Morgen, seit 1927 Herausgeber der Weltbühne“. In die Rubrik „Religionsbekenntnis“ trägt er „Dissident“ ein, bei der Schulausbildung schummelt er ein wenig, gibt „Oberrealschule, Einjährigen-Berechtigung“ an, obwohl seine Schulschwierigkeiten größer waren, als hier bezeichnet. Beim „Lebensgang nach dem Verlassen der Schule“ erwähnt er eine „Kaufmannslehre in Hamburg“, sein Gehalt bei der Weltbühne gibt er mit „ca. 10 000 Mark jährlich“ an.

„Weshalb sind Sie jetzt bestraft?“ heißt es in Position 24, und Ossietzky gibt zur Auskunft: „Landesverrat begangen durch die Presse“. (Der Strafanstaltsinspektor nennt es auf dem Formblatt B: „Verrat militärischer Geheimnisse“.) Und weiter: „Gestehen Sie die Ihnen zur Last gelegte Tat ein?“ Ossietzky: „Nein. Ich werde nicht ruhen, die juristische Rehabilitation durchzusetzen.“ Die letzte Frage: „Was gedenken Sie nach der Entlassung zu tun?“, beantwortet Ossietzky ebenso deutlich: „Ich bin Herausgeber der Weltbühne und werde an diesen Platz zurückkehren.“

Auf einem weißen Blatt Papier notiert ein Gefängnisbeamter die Gegenstände, die Ossietzky abgenommen werden: eine Lederhandtasche und eine Lederaktenmappe, ein Regenmantel, ein Hut, Schlafanzüge, Kragen, Taschentücher, Unterhosen, Oberhemden, ein Anzug mit Weste, Socken, ein Paar Hausschuhe, ein Kamm, Seife, Waschlappen, Zahnpasta, Zahnbürste, drei Familienfotos, ein Notizbuch, vier Block Schreibpapier, vier Bleistifte, ein Bleistiftspitzer, zwölf Bücher. Einen Tag später erhält Ossietzky die Gegenstände wieder, zeichnet gegen, doch muß zur Kenntnis nehmen, daß die Zigaretten und Streichhölzer „auf Kammer“ kommen. Das „Rauchverbot“ bleibt bestehen.

Am Abend läßt Ossietzky die paar Quadratmeter auf sich wirken. In einem Brief an seine Frau schreibt er: „Die Zelle ist hell und frisch gestrichen, infolgedessen sehr sauber. Sie wirkt mit ihrem Steinboden wie ein großes Badezimmer. Das ist alles gar nicht übel und wahrscheinlich das Beste, was heute geliefert werden kann. Aber die Vorstellung, daß hier jemand viele Monate sitzen soll, ist doch phantastisch.“

Eine preußische Gefangenenanstalt, Ende des vergangenen Jahrhunderts erbaut. 1400 Gefangene, wenn alle Zellen belegt sind. Die Einzelzellen verfügen über 22 Kubikmeter Luftraum, heißt es in einer Broschüre des Gefängnisses. Vier Schritte hin, vier Schritte zurück. Ein kleines Fenster – vergittert. Die schwere Tür – mit einer kleinen Sichtklappe versehen. Die Hausordnung: 6.30 Uhr – Wecken. „Auf das Zeichen zum Aufstehen hat sich der Gefangene unverzüglich von seinem Lager zu erheben, sich zu waschen und anzukleiden. Er halte darauf, Sommer und Winter möglichst den ganzen Oberkörper abzureiben.“ Danach: „Empfang und Einnehmen der Morgenkost.“ 7 Uhr: Beginn der Arbeit. Zwischen 9 und 10 Uhr Spaziergang auf dem Hofe. Um 12 Uhr Mittagspause: „Empfang und Einnehmen der Mittagskost“. Schließlich, nach dem „Empfang und Einnehmen der Abendkost“, um 18.45 Uhr: „Einschluß“. Mit Einbruch der Dunkelheit: Schlaf.

Wie zum Hohn der Umstände schreibt Ossietzky vierzehn Tage nach dem Haftantritt an seine Frau: „Ich […] lebe mich langsam ein.“

Weltbühne 7/1989

 

Ossietzkys Lektüre

Bisher war immer davon die Rede gewesen, Ossietzky habe im Gefängnis vorgehabt, ein Luther-Buch zu schreiben. In Bruno Freis Ossietzky-Biographie heißt es: „In seiner Zelle wird er jetzt über Luther zu schreiben Gelegenheit haben, den rebellischen Mönch, der seine Phantasie immer schon beschäftigt hatte.“ Kurt R. Grossmann, als ehemaliger Sekretär der Liga für Menschenrechte ebenfalls gut bekannt mit Ossietzky, gibt sogar einen Titel der geplanten Arbeit an: „Martin Luther – die Entlarvung einer Geschichtslüge“. Und Ludwig Marcuse schreibt, daß Ossietzky „in freien Stunden (…) den Doktor Luther (studierte), um die Legende zu entkräften.“

All diesen Bemerkungen zugrunde liegt offensichtlich als Quelle das Memorandum für Ossietzky, das Grossmann 1935 in Prag herausgegeben hatte und in dem Hermann Zucker, der langjährige Chefredakteur des „8 Uhr-Abendblatts“, unter dem Pseudonym Waldemar Grimm schrieb: „Ein Buch will er schreiben, ein Luther-Buch. Keine holde Historienmalerei, kein Lesebuch. Luther, wie ihn Ossietzky sieht: Die Entlarvung einer Lüge!“

Was an diesem Vorhaben nun Legende ist, kann heute nicht mehr mit Bestimmtheit gesagt werden. Im Brief vom 9. Mai 1932 jedenfalls, den Ossietzky „an die Strafanstalt Tegel zu Händen des Herrn Oberstrafanstaltdirektors“ richtet und der sich heute in der Gefangenenakte befindet, heißt es: „Bei Antritt meiner Strafe teile ich ergebenst mit, daß ich mit der Verlagsfirma Williams & Co., Berlin-Grunewald, Douglasstr. 24 einen Verlagsvertrag geschlossen habe, wonach ich während meiner Haft ein größeres Werk ‚Deutsche Geschichte seit dem Ende des siebenjährigen Krieges‘ anfertigen soll.“ (Der linksliberale „Montag Morgen“ meldet in seiner Ausgabe vom 16. Mai unter der Überschrift: „Ossietzkys Kulturgeschichte“: „Carl von Ossietzky wird, wie wir hören, sowie ihm die Arbeit im Gefängnis gestattet ist, eine Kulturgeschichte der letzten hundert Jahre zu schreiben beginnen.“)

Wie auch immer: Fragmente dieser „einen bestimmten großen Arbeit“, von der Ossietzky später auch in Briefen berichtet, haben sich bisher nicht finden lassen. Belege für beide Vorhaben lassen sich durch die Gefangenenakte rekonstruieren. Auf den Formblättern „Anträge und Beschwerden“ finden sich die minutiösen Eintragungen der Gefängnisbürokratie: unter anderem werden eingegangene und ausgehändigte Gegenstände festgehalten; eine Liste jener Bücher läßt sich zusammenstellen, mit denen Ossietzky sich in seiner Zelle beschäftigte.

Die Liste ist beinahe vollständig: Abgesehen davon, daß zwölf Bände, die Ossietzky zum Haftantritt mitbrachte, in der Akte nicht mit Titelangabe aufgeführt sind, lassen sich auch einige andere Bücher nicht genau benennen. So exakt die preußische Bürokratie in allen Bereichen zu schnurren pflegte – Literaturfreunde waren sie nicht, die Gefängnisdiener. Die Titelangaben bleiben zumeist unvollständig, manchmal zu allgemein für uns heute, als daß noch ein Buchtitel zu bestimmen wäre.

Außer verschiedenen nicht näher zu identifizierenden Büchern; über die Reformation, über Thomas Müntzer, Martin Luther, Ulrich von Hutten und andere lassen sich verschiedene Geschichtsbücher und Kulturgeschichtsschreibungen nennen: drei Bücher des Geschichtsschreibers Hendrik van Loon: „Die Geschichte der Menschheit. Die Weltgeschichte als Roman“ (1925 erschienen); „Von Columbus bis Coolidge. Werdegang eines Weltteils“ (1929 erschienen); „Der Überwirkliche. Zeitbild um Rembrandt van Rijn“ (1931 erschienen). Ossietzky lobte im Dezember 1928 eines dieser Bücher in der Weltbühne: „Hendrik van Loon schildert von ,Columbus bis Coolidge’ (Rudolf Mosse Verlag) in einer Reihe von kleinen Kapiteln die Geschichte der Staaten von den Anfängen bis heute. Keine dürre Belehrung, sondern fesselnde, nuancenreiche Erzählung, mit bitterm Humor vorgetragen. Van Loon ist gegen das Evangelium des Geldmachens, gegen die kapitalistische Prosperität so skeptisch wie Alfons Goldschmidt. Ein Unikum von einem Historiker: er zeichnet selbst für sein Buch Bildchen von skurriler Primitivität. Hogarth als Geschichtsschreiber.“ Es finden sich eine dreibändige „Weltgeschichte“ des britischen Schriftstellers und Sozialisten Herbert George Wells; mehrere Bände des großen Geschichtswerks aus dem 19. Jahrhundert von Johannes Janssen: „Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgange des Mittelalters“; daneben Rankes Meisterwerke in drei Bänden; Werke über „Römische Geschichte“ (von Theodor Mommsen); von Kurt Kersten „Bismarck und seine Zeit“; eine Kulturgeschichte über Rom in drei Bänden; zwei Werke von Fritz Stahl („Paris. Eine Stadt als Kunstwerk“, „Rom. Das Gesicht der ewigen Stadt“); „Kultur der Renaissance in Italien“ von Jacob Burckardt; Biographien über Thomas Müntzer von Ernst Bloch („Thomas Münzer als Theologe der Revolution“) und Johann Carl Seidemann („Thomas Münzer. Eine Biographie“).

In den Eintragungen der Gefängnisbeamten wird unterschieden zwischen „eingegangen“ und „abgegeben“. Viele Bücher, seine Arbeitsunterlagen, läßt Ossietzky sich durch den Verlagsboten der Weltbühne aus der Bücherei besorgen, manches wird ihm zugeschickt. So auch Neuerscheinungen befreundeter Kollegen. Am 23. Juni 1932 erhält er ein Buch von Gusti Hecht und Georg Greko ausgehändigt mit dem anspielungsreichen Titel: „… muß man sich gleich scheiden lassen?“ Mit der Architektin und verantwortlichen Redakteurin illustrierter Blätter im Mosse-Verlag ist Ossietzky seit einiger Zeit eng befreundet. In der Verlagswerbung für das leichte Feuilletonbuch heißt es: „Ein Buch, in dem Kurt und Lore trotz vieler Tücken und Gefahren eine glückliche und amüsante Ehe führen. Innenarchitekt und Hund, Speisekammer und Wochenende, Bridge und Untreue, Briefwechsel und Zwillinge spielen mit. Das literarische Ehepaar Gusti und Georg beweisen auf 189 in Leinen gebundenen Seiten für 2,25 Mark, daß es richtig ist, mit dem Falschen verheiratet zu sein.“

Annette Kolbs Zusammenstellung von neueren Aufsätzen und Glossen unter dem Titel: „Beschwerdebuch“ wird am 9. Juli im Gefängnis abgegeben. Am 4. Oktober läßt Ossietzky einen kleinen verehrungsvollen Hinweis unter seinem Pseudonym Thomas Murner folgen, der den Schlußsatz enthält: „So spricht nur ein durch und durch tapferer Mensch, dessen Bestes, bei aller Kunst, doch darin liegt, die einfache Wahrheit einfach zu sagen.“

Am 12. Juli erhält Ossietzky die „Korrekturbogen eines in Druck gegebenen Werkes (Der jüdische Krieg)“. Lion Feuchtwanger, Autor des historischen Romans, erzählt später: „Ich erinnere mich der letzten Botschaft von ihm, die mich erreichte. Ich hatte ihm die Korrekturbogen eines Buches von mir ins Gefängnis geschickt. Er antwortete mit freundlichem Scherz, dieses Geschenk freue ihn besonders, nicht nur, weil er nun fesselnde Lektüre habe, sondern auch, weil die Korrekturen ihn an seine Lieblingsbeschäftigung erinnerten.“ Am 14. Oktober erhält Ossietzky das druckfrische Exemplar.

Das Buch des langjährigen Mitarbeiters der Weltbühne Manfred Georg zum „Fall Ivar Kreuger“ bekommt Ossietzky am 16. Juli. Zwei Wochen später erscheint Ossietzkys Besprechung in der Weltbühne unter seinem Pseudonym Thomas Murner, in der es heißt: „Es ist eine sehr sorgfältige Zusammenstellung alles dessen, was sich heute schon als authentisches Material über den Verewigten betrachten läßt. Wenn sich manche Abschnitte wie ein Indianerroman lesen, so ist das nicht die Schuld des Verfassers. Der Kapitalismus, früher eine solide, strohtrockne Sache, ist jetzt in eine Periode fataler Romantik geraten, über die in Polizeiakten mehr zu finden ist als in der Wirtschaftsstatistik.“

Auch Emil Ludwigs Buch: „Gespräche mit Mussolini“, das für Ossietzky am 19. Juli von der Redaktion der Weltbühne abgegeben wird, bespricht er kurze Zeit darauf. Skeptisch urteilt Thomas Murner am 6. September: „Eine unerhört günstige Gelegenheit, in etwa vierhundert Fragen dem Diktator unter die Haut zu dringen. Trotzdem ist das Ergebnis enttäuschend. Durch keine Seite dieses Buches weht geschichtliche Luft, nirgends wird ein neues Kriterium zur Beurteilung Mussolinis bemerkbar. (…) Ludwig brauchte gewiß nicht so zu fragen wie ein Zwangsbewohner der Liparischen Inseln es tun würde, denn er war Gast, aber die Gemeinplätze seines Gesprächspartners über die Vortrefflichkeit der carta del lavoro und des vom Fascismus eingeführten sozialen Systems hätte er nicht ohne Widerrede hinnehmen dürfen. Ihn blendete die schimmernde Aura der Macht, die statuarische Römergeste.“

Ossietzky erhält auch einige Besprechungsexemplare, die er unaufgefordert zugeschickt bekommt (und nicht besprechen wird), wie die pazifistischen Bücher von Emil Flusser („Krieg als Krankheit“) und Eugen Relgis („Wege zum Frieden. Eine internationale Rundfrage“), „Die Stadt“ von Ernst von Salomon und eine Anthologie „Gesammelte Gedichte. Des Bergmanns, Leben und Leiden im Ruhrbezirk“.

Und es finden sich in der Liste Neuerscheinungen von Egon Erwin Kisch („Asien gründlich verändert“), Ernst Glaeser („Das Gut im Elsaß“), Fritz Sternberg („Der Niedergang des deutschen Kapitalismus“), Arnold Zweig („De Vriendt kehrt heim“), das von Kurt Deutsch zusammengestellte Buch: „Lenin, Der Sozialismus in einem Lande“, die von Ernst Feder herausgegebenen „geheimen Tagebücher Ludwig Bambergers“, die Auskunft geben über „Bismarcks großes Spiel“ (so der Haupttitel des Buches), sowie ein Band von Walther Victor („General und die Frauen. Vom Erlebnis zur Theorie“), ein Buch über Friedrich Engels, das Ernst Toller am 30. August 1932 in der Weltbühne bespricht: „Victors Buch ist ein liebevoll geschriebener bedeutsamer Beitrag zur psychologischen Deutung dieser großartigen Gestalt.“

Weltbühne 8/1989

 

Ossietzkys Arbeit in der Zelle

Rechtsanwalt Alfred Apfel, der Ossietzky juristisch betreute und regelmäßig im Gefängnis besuchte, wird dafür gesorgt haben, daß Ossietzkys Artikel aus der Zelle herauskamen. Denn die politische und publizistische Betätigung war Ossietzky untersagt. Am 12. Juli findet sich in der Weltbühne der augenzwinkernde Hinweis an einen „Wißbegierigen“: „Carl von Ossietzky darf in seiner Haft keine Artikel schreiben. Bei der Sichtung des in seinem Schreibtisch liegenden Materials haben wir jedoch noch einige nicht für den Tag geschriebene Beiträge gefunden, die wir bald bringen werden.“

Ungehindert gelangen die Manuskripte Ossietzkys aus der Zelle in die Redaktion. Am 7. Juni wird im Gefängnis das Buch von O. B. Server (das ist Georg Schwarz) abgegeben, Titel: „Matadore der Politik. 26 Politikerporträts und 26 Karikaturen von Erich Goltz“. Am 12. Juli erscheint (zusammen mit dem Hinweis der Redaktion an den „Wißbegierigen“) die wohlwollende Besprechung Thomas Murners: „Der Verfasser hat fleißig herumgehört, viele Kleinigkeiten aufgelesen. Aber alles hat er sicher und geschmackvoll zusammengestellt. (…) Es steckt eine gute und launige Feder dahinter, die sich mit diesen Skizzen für größere Aufgaben freigeschrieben hat.“

Ossietzkys Hauptaugenmerk in diesen Monaten aber ist auf die politischen Gegner gerichtet. Am 13. Juni erhält er das grad erschienene Buch von Otto Strasser: „Aufbau des deutschen Sozialismus“, zwei Monate später erscheint Thomas Murners ausführt! ehe Auseinandersetzung in der Weltbühne. Ossietzky schreibt über den 1930 aus der NSDAP ausgetretenen Strasser: „Im Gegensatz zu seinem Bruder Gregor, dessen füllige volkstümliche Rhetorik durchaus zu seinem Äußern paßt, ist Otto Strasser ein sanfter Intellektueller, dessen hauptsächliches Kampfmittel die Überredung bleibt und der einem schroffen Gegner, einer lärmenden Versammlung eine beinahe chinesische Höflichkeit entgegensetzt.“

Das reizt Ossietzky, er will sich mit einem Gegner messen, der ihm ebenbürtig erscheint, einem Gegner, der über genügend Kraft und Intelligenz verfügt. Ossietzky zerpflückt die Heilslehre Strassers sehr genau, bringt sie auf den Boden der Tatsachen und gelangt schließlich zu der ernüchternden und entlarvenden Erkenntnis: „Otto Strasser mag sich als ein großer Revolutionär vorkommen, wenn er seine Heilswahrheiten von dem vergilbten Pergament Adam Müllers abliest. Aber ein reaktionäres Skriptum, das hundert Jahre in der Rumpelkammer der Weltgeschichte gemodert hat, ist in der Zeit nicht revolutionär geworden.“

Ossietzky bleibt nobel im Angesicht des Gegners, den er soeben noch der Lächerlichkeit preisgegeben hat. Er spricht ihm nicht alle Achtung ab, im Gegenteil. Manches färbt er ironisch, doch in seiner Schlußaussage klingt es beinahe anerkennend: „Dennoch wird man grade Otto Strasser, auch wenn man seine Lehren aufs heftigste ablehnt, eine Reihe von sympathischen Zügen nicht absprechen mögen. Denn dieser unbestreitbare Reaktionär und Obskurant tritt in öffentlichen Kämpfen mit der Haltung und den Ansprüchen eines neuen Hutten auf. Es hat etwas Rührendes zu sehen, wie dieser Klopffechter einer für ewig versunkenen soziale Ordnung mit der Gebärde eines Lichtbringers, eines Sankt Georg für seine Gedanken einsteht. Seltsames Paradox: dieser Kämpf gegen alle Freizügigkeit, für den Liberalismus dasselbe bedeutet wie Zuchtlosigkeit, ist ausgesprochener Individualist und wäre erledigt ohne eine Gesellschaft, die liberal genug ist, das Recht des Individuums anzuerkennen. (…) Das ist eine Zwiespältigkeit, die ihn reizvoller macht, als es seine Thesen sind. Eine Ahnung sagt, daß hier ein Ringender am Werke ist, der sein letztes Wort noch nicht gesprochen hat.“

Ganz anders bei Ernst Jünger, dessen „durchschnittlichste Untergangsprophetie und Chaosmalerei“ Ossietzky als billige Konjunkturrittertum brandmarkt. Am 8. September erhält er von der Redaktion den grad erschienenen Band von Ernst Jünger „Der Arbeiter“; sechs Wochen später setzt er sich damit im „Blättchen“ auseinander und kommt zu dem vernichtenden Ergebnis: „Das Buch Jüngers bringt weder untersuchend noch beschreibend etwas von Belang. Es bietet nichts als eine monotone Folge bleichsüchtiger Philosopheme, um die nicht mehr völlig frische These zu stützen, daß es mit dem Bürgertum bergab geht.“ Und: „Nebenbei gesagt: Wenn in einer Schrift von dreihundert Seiten, die, wie von niemandem bestritten wird, den Titel ‚Der Arbeiter‘ führt, zwischendurch in einer Fußnote mitgeteilt werden muß, wie wir das Wort ,Arbeiter‘ zu verstehen haben, so scheint mir das weder für die Gestaltungskraft noch für die Kopfklarheit des Autors günstiges Zeugnis abzulegen.“

Vier weitere Arbeiten veröffentlicht Ossietzky in dieser Zeit, alle zusammen übrigens erst nach jenem 1. Juli, an dem er mit dem „Soldatenprozeß“ wegen eines Artikels von Kurt Tucholsky eine weitere Verurteilung zu befürchten hatte. (Ossietzky ging diesmal, wenn auch erst nach einer Revisionsverhandlung im November endgültig, straffrei aus.) Es folgen eine Besprechung von Theodor Pliviers Buch: „Der Kaiser ging – die Generäle blieben“ (veröffentlicht am 5. Juli); die Rezension von Peter Martin Lampels Reportage: „Packt an, Kameraden! Erkundungsfahrten in die Arbeitslager“ (am 20. September); eine Abrechnung mit den antidemokratischen Redakteuren Hans Zehrer und Friedrich Zimmermann und der völkischen Zeitschrift „Die Tat“ am 22. November. (Material für diesen Aufsatz, einige Exemplare der Zeitschrift, hatte sich Ossietzky am 19. Juli und 28. September ins Gefängnis kommen lassen.)

Am 19. Juli veröffentlicht Ossietzky die einzige Arbeit in den Monaten seiner Haft, die seinen Namen trägt: „Antisemiten“, eine mehrseitige Polemik gegen Männer vom Schlage eines Hans Blüher und Wilhelm Stapel. Ossietzky leitet seinen Artikel mit dem Satz ein: „Zu den Dingen, von denen die republikanische Linke kaum mehr zu sprechen pflegt, gehört auch der Antisemitismus.“ Grad darum beschäftigt sich Ossietzky mit diesen beiden Vertretern einer antisemitischen Literatur und gibt die Begründung für seine Arbeit, die möglicherweise schon vor seiner Gefängniszeit entstanden ist: „Wir wollen uns im folgenden mit einigen Dokumenten eines literarisch aufgemachten Antisemitismus beschäftigen, nicht weil wir diese für besondere Leistungen halten, wohl über weil sie wie das berühmte Lazarettpferd alle Krankheiten der Gattung vereinen und weil einzelne der dort versuchten Formulierungen rapide umlaufen und Unfug anrichten.“ Und: „In dieser Zeit liegt viel Blutgeruch in der Luft. Der literarische Antisemitismus liefert nur die immateriellen Waffen zum Totschlag.“

Welche Buchtitel sonst noch zu finden sind in der Gefangenenakte Ossietzkys? Am 17. Mai die Eintragung: „1 Buch, Die Welt als Wille u. Vorstellung, I. + II. Teil“ – Schopenhauers Hauptwerk also. Es war ein Geschenk des Schriftstellers Felix Gross. Rosalinde von Ossietzky-Palm besitzt noch heute den ersten Band, in dem sich die Widmung für Ossietzky befindet: „Ich hasse alle Pfuscherei wie die Sünde, besonders aber die Pfuscherei in Staatsangelegenheiten, woraus für Tausende und Millionen nichts als U heil hervorgeht. Goethe, Gespräche mit Eckermann, März 1832. Dem verehrten Herrn Carl von Ossietzki zum Trost für seine einsamen Tage. Felix Gross, Pfingsten 1932“.

Auch zwei Goethe-Bände sind in der Gefangenenakte verzeichnet sowie einige Titel zur Zerstreuung und Ablenkung. Schließlich auch ein Band von Georg Christoph Lichtenberg: „Aphorismen und Schriften“, eine Zusammenstellung, die Tucholsky in der Weltbühne vom 28. Juni 1932 verurteilt: „Diese Ausgabe trägt des Stempel des germanistischen Seminars.“ Am 13. Juni hält Ossietzky den Band in Händen, drei Wochen später schreibt er Tucholsky: „Wollen Sie nicht mehr Literarisches schreiben wie den Lichtenberg, der mir sehr gefallen hat? Ich stimme mit Ihnen in der Beurteilung dieser Edition, die ich kenne, überein.“

Es ist eine ansehnliche Liste von Büchern, die Ossietzky da in den siebeneinhalb Monaten Gefängnis in Tegel erhalten hat, insgesamt sind 85 Bücher erwähnt (und verschiedene Broschüren und Zeitschriften). Lediglich von fünf Büchern konnte bisher mit Bestimmtheit gesagt werden, daß Ossietzky sie auch angefordert hatte. Im privaten Nachlaß in Oldenburg finden sich in den Briefen an seine Frau Hinweise. Einmal heißt es, am 24. Mai: „Liebste Maudie, ich bitte dich, mir doch noch das Buch ,Klärung‘ zu schicken. Du erinnerst dich, ich habe es Dir am letzten Tage noch bezeichnet. Es hat, wenn ich mich nicht irre, einen roten Einband und heißt im Untertitel ,Diskussion über den Antisemitismus‘.“ Das Buch wird vier Tage später im Gefängnis abgegeben. Es enthält zwölf Beiträge „über die Judenfrage“, verfaßt von Autoren und Politikern wie Ernst Johannsen, Friedrich Hielscher, Max Naumann, Hanns Johst, Walther von Hollander, Alfred Kantorowicz, Hans Blüher und anderen, sowie Teile aus Nietzsches „Antichrist“ und „Zur Genealogie der Moral“.

Am 5. Juni erwähnt Ossietzky nach der Aufzählung einiger Wünsche einen weiteren Titel: „Liebste Maudie, da unser Bote Augstenberger in diesen Tagen zu mir kommt, um mir Papier und Umschläge zu bringen, bitte ich, ihm auch etwas mitzugeben. Ich brauche Schnürbänder und Seife, am besten Glyzerinseife. Vielleicht besorgst Du gleich zwei oder drei Stück oder ein recht großes. Dann weiter aus dem Bücherschrank Julius Caesar von Brandes, zwei Bände. Ich habe jetzt Zeit genug, um mich hindurchzulesen.“ Drei Tage später erhält Ossietzky die 1925 erschienene, zweibändige Ausgabe des dänischen Literarhistorikers Georg Brandes sowie die anderen Gegenstände.

Am 19. September schreibt Ossietzky seiner Frau: „Suche bitte aus dem Bücherschrank ein paar Bücher heraus, die Du dann mitbringen kannst, nämlich Sebastian Franck, Paradoxa, Otto Flake, Ulrich von Hutten, Karl Kautsky, Vorläufer des Sozialismus“. Ossietzky erhält die verlangten Geschichtsschreibungen am 3. bzw. 14. Oktober.

Weltbühne 9/1989

 

Die Zusammenarbeit mit der Redaktion

Gefragt wird manches Mal, wer denn nun eigentlich befreunded war mit Carl von Ossietzky? Ob es neben seinen Kollegen und neben seiner Arbeit für die Weltbühne noch Raum gab für wirkliche Freundschaften. Durch die Gefangenenakte aus dem Jahr 1932 haben wir nun zwar für einen knappen Zeitraum auch Hinweise auf jene, die ihn in der Haft besuchten. Doch sind auch dies wieder vor allem seine Berufskollegen. Ein Gefängnis ist ein öffentlicher Raum, der keine Privatheit zuläßt; Besucher haben triftige Gründe anzugeben.

In der „Dienst- und Vollzugsordnung für die Gefangenenanstalten der Justizverwaltung in Preußen vom 1. August 1923“ heißt es: „Bei Strafgefangenen darf Angehörigen die Genehmigung zum Besuch nur versagt werden, wenn eine Störung der Ordnung oder Sicherheit oder ein schädlicher Einfluß auf den Gefangenen zu befürchten ist. Anderen Personen als Angehörigen soll sie nur erteilt werden, wenn ein berechtigtes Interesse vorliegt oder wenn zu erwarten ist, daß der Besuch den Gefangenen günstig beeinflussen oder sein späteres Fortkommen fördern wird. Über Zeit und Ort der Besuche entscheidet der Vorsteher. Die Dauer eines Besuches soll in der Regel mindestens 15 Minuten betragen.“

Aus den vorhandenen Briefen zwischen Carl von Ossietzky und seiner Frau Maud geht hervor, daß sie ihn in der Zeit von Mai bis Dezember wohl vier oder fünf Mal besucht haben mag, Antrag oder Genehmigungen für sie sind in der Gefangenenakte nicht vermerkt. Eine ähnliche Sonderregelung muß für Besuche von Rechtsanwälten gegolten haben. In der Akte findet sich lediglich ein offizieller Besuchsantrag des Rechtsanwalts Alfred Apfel, wir wissen aber aus Briefen, daß er häufiger im Gefängnis gewesen sein muß. Auffällig ist auch die einmonatige Pause bis zum ersten Besuchsantrag – vermutlich die Sperrfrist für jeden Neuzugang im Gefängnis.

Am 12. Juni 1932 erreicht ein Besuchsantrag das Strafgefängnis Tegel, der auf einem Briefbogen des Verlages „Williams & Co.2“ verfaßt ist und die Unterschrift von Hedwig Hünicke trägt, der Sekretärin, Buchhalterin und Seele der Weltbühne. Darin heißt es: „Wie Ihnen bekannt sein dürfte hat Carl von Ossietzky die Arbeitserlaubnis für die Herausgabe einer Kulturgeschichte für den Verlag Williams & Co. Die Inhaberin Frau Edith Jacobsohn gestattet sich daher die höfliche Anfrage um die Erlaubnis eines Besuchs am Dienstag den 14. Juni cr. um zu hören ob Herr von Ossietzky schon mit der Arbeit begonnen hat und ob er zur Bearbeitung noch weiteres Büchermaterial benötigt.“ Der Antrag wird genehmigt.

Edith Jacobsohn, Witwe des Begründers der Schaubühne Siegfried Jacobsohn und nach seinem Tod im Dezember 1926 auch Verlegerin der Weltbühne, wird Ossietzky noch zwei weitere Male im Gefängnis besuchen: Ende August ist „eine dringende Rücksprache“ wegen des erwarteten „Reemtsma-Prozesses“ nötig, Mitte September sind „einige wichtige Fragen bezüglich der Redaktion“ zu klären.

Auch Hellmut von Gerlach, seit dem Haftantritt Ossietzkys Stellvertreter in der Führung der Redaktion, wünscht ihn Anfang September wegen des „Reemtsma-Prozesses“ dringend zu sprechen. Bereits am 9. August bat Gerlach zum ersten Mal um einen Besuch, zusammen mit Milly Zirker, der langjährigen Mitarbeiterin der Weltbühne. Auf einem Redaktionsbogen, wieder unterschrieben von Hedwig Hünicke, heißt es: „Sehr geehrte Herren, wollen Sie bitte erlauben, dass Herr von Gerlach der Vertreter der Redaktion mit Frl. Zirker Herr von Ossietzky am Donnerstag Vormittag aufsucht. Es handelt sich um eine Rücksprache in Redaktionssachen und Prozessachen.“ Auch vom 25. Juli liegt ein Redaktionsbrief in der Gefangenenakte, in dem Hedwig Hünicke ohne Namennennung allgemein um Besuchserlaubnis bittet: „Wir haben in redaktionellen Sachen verschiedene Fragen zu stellen. Gleichzeitig müssen wir betreffs Zahlung mit ihm über verschiedene Sachen reden.“ Auch dieser Antrag wird genehmigt.

Am 7. September unterschreibt Walther Karsch, Mitarbeiter der Weltbühne seit 1930 und während der Haftzeit Ossietzkys (und bis zur letzten Ausgabe vom 7. März 1933) als presserechtlich Verantwortlicher im Impressum ausgewiesen, einen Besuchsantrag für die Redaktion: „Wir bitten Sie, für Herrn Dr. Hanns-Erich Kaminski für Sonnabend vormittag 11 Uhr Besuchserlaubnis für Herrn von Ossietzky zu erteilen. Herr Dr. Kaminski hat mit Herrn von Ossietzky wichtige redaktionelle Angelegenheiten zu besprechen.“ Auch hier erfolgt die Zustimmung der Gefängnisleitung.

Kaminski, seit 1921 Mitarbeiter der Weltbühne, ist einer von denen, über die heute kaum noch etwas in Erfahrung zu bringen ist. Er mußte 1933 nach Frankreich emigrieren und gilt als verschollen. Während der Haftzeit Ossietzkys verfaßte er im Wechsel mit Gerlach die Leitartikel. Ossietzky zeigte sich nicht immer einverstanden mit dem Tenor der Beiträge, bekannte aber in einem Brief vom 30. November 1932 an Kurt Tucholsky: „Die Artikel Kaminkis finde ich nicht schlecht. Einige waren ausgezeichnet, andre wieder matter. Das Niveau scheint mir anständig. Aber ich bin kein normaler Leser, draußen mag ein andres Kriterium angängig nein. Mein Urteil in diesen Dingen ist hier überhaupt begrenzt. Ob ich draußen dasselbe tun würde wie Kaminski, weiß ich nicht. Anders als der Betrachtende denkt der Handelnde.“ Und: „Mein ganzes Urteil über die Weltbühne ist heute zwiespältig. Manches hat mir recht gut gefallen, manches gar nicht. Wenn ich auch gelegentlich den Kopf geschüttelt habe, so überwog bei mir immer das Gefühl: Mensch, es ist ein holdes Wunder, daß das rote Heft Woche für Woche erscheint, trotzdem du nicht dabei bist und der Herr Sozius …“ (Der Herr Sozius –: Tucholsky lebte seit 1930 in Schweden, kam kaum noch nach Deutschland, schrieb immer weniger für die Weltbühne. „Das Spiel dürfte aus sein“, bekannte er am 1. Mai 1932, vollends resigniert.)

Ossietzky stand also während seiner Haftzeit in regelmäßigem Kontakt mit der Redaktion. Auf sein Wort wurde gehört, er konnte, so gut es grad ging (die Besuche standen zumeist unter der Aufsicht eines Gefängnisbeamten), weiter Einfluß auf die redaktionelle Linie nehmen. Auffällig allerdings, daß für die letzten dreieinhalb Monate im Gefängnis kein Besuchsantrag von Mitarbeitern der Weltbühne mehr zu finden ist. Der letzte Brief der Redaktion, der in der Gefangenenakte aufbewahrt ist, stammt vom 15. September (Edith Jacobsohn besuchte ihn fünf Tage später); in den folgenden Wochen sind nur noch die regelmäßigen Botengänge eines Angestellten des Verlages nachzuweisen, möglich, daß in diesen Sendungen auch Mitteilungen der Redaktion enthalten waren.

Weltbühne 10/1989

 

„Private“ und andere Besuche

Daß Begründungen für die Besuche nötig waren, bestimmte die „Dienst- und Vollzugsordnung“; daß diese Begründungen nur gut und logisch formuliert sein mußten, damit es zu einem Besuch kommen konnte, dürfte kein Bürokrat verhindert haben. Wer will schon entscheiden, ob ein Besuch den Gefangenen nicht „günstig beeinflussen“ kann oder „sein späteres Fortkommen“ grad nicht fördern wird. Wer Ossietzky also besuchen wollte, unternahm alle Anstrengungen, und sei es, daß er dazu Vorwände benutzte.

Die jüdische Architektin und Redakteurin Gusti Hecht, enge Freundin Ossietzkys und später verschollen, versuchte, eine Sonderregelung durchzusetzen. Am 15 Juni unterschreibt zunächst Karl Vetter, der lange Jahre mit Ossietzky zusammengearbeitet hatte, für den Verlag Rudolf Mosse einen Brief, in dem es heißt: „Sehr geehrter Herr Direktor! Wir stehen mit Herrn Carl von Ossietzky seit langem in Verhandlungen über bestimmte literarische Arbeiten. Die beabsichtigten Publikationen, die nichts mit seinem Prozess und der Strafsache zu tun haben, bedürfen einer mündlichen Besprechung, mit deren Durchführung wir die verantwortliche Redakteurin unserer illustrierten Zeitungen, Dipl.-Ing. Gusti Hecht, beauftragt haben. Wir suchen um eine Besuchserlaubnis für Fräulein Hecht nach und wären dankbar, wenn der Besuch bei Herrn von Ossietzky im Laufe dieser oder der nächsten Woche durchgeführt werden könnte.“ Auf der Rückseite des Antrags findet sich die handschriftliche Notiz eines Gefängnisbeamten: „Die Besuchserlaubnis für Frl. Hecht an einem Werktage der nächsten Woche – bis 3 Uhr nachm. – wird erteilt. Die gegenwärtige Benachrichtigung gilt als Ausweis.“

Daraufhin verfaßt Gusti Hecht am 9. Juli auf einem Briefbogen des „Berliner Tageblatts“ (mit dem Stempel der „Redaktion des Weltspiegels“, der wöchentlichen, illustrierten Beilage) die weiter gehende Bitte: „Sehr geehrter Herr Direktor, ich beziehe mich auf das Schreiben des Verlages Rudolf Mosse vom 15. v. Mts. Da die beabsichtigten Arbeiten häufigere Besprechungen mit Herrn von Ossietzky notwendig machen, bitte ich Sie mir die Erlaubnis erteilen zu wollen, Herrn von Ossietzky regelmäßig zu besuchen. Ich bitte Sie mir die möglichen Zeitabschnitte mitzuteilen, in denen ich Herrn von Ossietzky besuchen darf. Für eine umgehende Entscheidung meiner Bitte wäre ich Ihnen sehr verbunden. Vielleicht gestatten Sie mir meinen ersten Besuch schon im Laufe der Woche vom 11.-16. machen zu dürfen, da es sich um eine dringende Angelegenheit handelt.“

Nun erhält Gusti Hecht eine Absage auf ihre Bitte um Sonderbehandlung, auch im Fall Ossietzky wird keine Ausnahme gemacht. Auf der Rückseite ihres Briefes findet sich der handschriftliche Entwurf eines Antwortschreibens der Gefängnisleitung: „Mit Rücksicht auf die bestehenden Vorschriften, wonach Insassen der Gefangenenanstalt in der Regel alle 6 Tage monatlich empfangen dürfen, bin ich zu meinem Bedauern nicht in der Lage, dem umseitigen Wunsche entsprechen zu können.“ Es sei von Fall zu Fall zu entscheiden, in den schriftlichen Anträgen müsse der Grund des Antrags genannt werden. Seltsamerweise taucht der Name Hecht in der Gefangenenakte nun überhaupt nicht mehr auf. (Im „Berliner Tageblatt“ oder seinen illustrierten Beilagen lassen sich keine Texte Ossietzkys nachweisen, die Begründung für die Besuche diente vermutlich nur als Vorwand.)

Am 12. August, „aber erst zwischen 2 und 3 Uhr“, dürfte Ossietzky einen Besuch des Frauenarztes Dr. Kurt Tittel erhalten haben. Hedwig Hünicke hatte im Brief vom 9. August diesen Antrag für „Herrn Sanitätsrat Dr. Tittel“ formuliert, „welcher Herrn von Ossietzky aufsuchen muss, in Krankheitssachen seiner Frau“. Auch in Briefen Ossietzkys an seine Frau Maud taucht der Name Tittel gelegentlich als Ratgeber und ärztlicher Beistand auf.

Am 17. August schreibt Hilde Börnstein-Walter, seit 1928 Mitarbeiterin der Weltbühne, an die Direktion des Strafgefängnisses: „Ich habe von einem Verlag den Auftrag erhalten, mit Herrn Carl von Ossietzky über die Durchführung einer grösseren schriftstellerischen Arbeit zu verhandeln. Da es sich um eine historische Arbeit handelt, werden voraussichtlich von mir umfangreiche Vorarbeiten in den Bibliotheken dafür geleistet werden müssen. Es ist nicht möglich, diesen Arbeitsplan auf schriftlichem Wege festzulegen.“ Ein Vorwand vermutlich: Es haben sich jedenfalls bisher keinerlei Arbeitsergebnisse finden lassen und auch in den umfangreichen Notizen von Hilde Walter ist kein Hinweis auf ein solches Vorhaben enthalten.

Für den 26. August erhält sie einen Gesprächstermin und schreibt später einmal über ihren Besuch: „Während der Zeit im Gefängnis in Tegel (…) hat er gelegentlich Besuche empfangen dürfen. Bei den kurzen Unterhaltungen in Gegenwart des wachthabenden Beamten bewahrte er eine bewundernswürdige geistige Haltung. Er selbst beschränkte die Unterhaltung über sein persönliches Wohlergehen auf ein Minimum, nicht nur mit Rücksicht auf die Aufsichtsperson. Er wollte die kurze Zeit benutzen, so viel wie möglich von der Außenwelt zu erfahren und so wenig wie möglich von sich persönlich zu reden. Bei dieser Gelegenheit muß übrigens zur Ehre der republikanischen preußischen Gefängnisverwaltung gesagt werden, daß die Aufsicht über diese Gespräche in der humansten Form geführt wurde.“

Auch Manfred Georg, seit 1915 Mitarbeiter des Blättchens und seit langem mit Ossietzky gut bekannt, schreibt in seiner Funktion als Feuilletonchef der Abendzeitung „Tempo“ (bei Ullstein) an die Gefängnisverwaltung und bittet am 20. September „höflichst um die Erlaubnis, den Strafgefangenen Herrn Carl von Ossietzky in einer schriftstellerischen Angelegenheit zu besuchen“. Die Genehmigung wird erteilt.

Kurt Grossmann, der Sekretär der Deutschen Liga für Menschenrechte, schreibt im Oktober auf einem Briefbogen der Liga, daß er „gern am Donnerstag, den 27. Oktober gegen 1 Uhr Herrn Carl von Ossietzky in seiner Gnadensache besuchen“ möchte. (Die Deutsche Liga für Menschenrechte und der PEN-Club hatten zum Haftantritt im Mai 1932 zu einer Begnadigungsaktion an den Reichspräsidenten Hindehburg aufgerufen; Petitionslisten waren verteilt worden, zum Abschluß der Aktion im August war die Unterschriftensammlung auf 43 600 angewachsen.)

Später erinnert sich Grossmann an seinen Besuch im Gefängnis: „Als ich Ossietzky gegenübersaß, wurden nicht nur Gedanken ausgetauscht, die sich auf das Persönliche, sein Ergehen, beziehen, sondern wir waren bald mitten in einer politischen Diskussion. Der in der Ecke sitzende Überwachungsbeamte hörte interessiert zu. (…) Schließlich kehrte das Gespräch wieder zu Ossietzkys persönlicher Lage zurück. Er erwarte trotz des guten Erfolges unserer Aktion keine Gnade. (…) ,Nein‘, meinte er, ,ich werde wohl meine achtzehn Monate absitzen müssen. Was dann geschieht – wer will es voraussagen?‘“

Einen Monat vor Ossietzkys vorzeitiger Entlassung durch die Weihnachtsamnestie erhält der Pressezeichner Emil Stumpp die Erlaubnis, Ossietzky im Gefängnis zu zeichnen. Drei Zeichnungen fertigt er laut Tagebuch an, zwei sind uns heute bekannt, die dritte scheint verschollen zu sein. Eine halbe Stunde dauert sein Besuch; zusammen mit einer seiner Zeichnungen veröffentlicht Stumpp am 27. November seine Eindrücke im „Dortmunder Generalanzeiger“. „Der letzte der anderen Besucher hat sich entfernt, ich darf in den Sprechraum eintreten. Und aus einem Nebengelaß tritt Karl v. Ossietzky. Etwas gebückt, die Augen wie halb geblendet, als ob er aus dem Dunkeln käme. Kaum, daß er meine Hand findet. Seine Hände sind feucht und kalt wie die eines Kranken. (…) Eine richtige, lebhafte Unterhaltung will nicht aufkommen. Die Gegenwart des Beamten, der zwar nie aktiv stört, aber eben durch seine Anwesenheit störend wirkt, lähmt die Zunge. Und das freundliche, ja gütige Lächeln, das im Gespräch Ossietzkys Gesicht aufleuchten lassen kann, wird immer schnell wieder von mühsamer Beherrschtheit aufgeschluckt. Der schwere Kopf mit der hohen Stirn sinkt in die Schultern, sein mächtiges Kinn vergräbt sich in seine Brust. Bleich und krankhaft sieht er aus, mit dunklen Schatten um die Augen. (…) Seine Hände klammerten sich fest zusammen, die Augen schlossen sich halb, die steile Stirn neigte sich, der ganze Mann war ein einziges Sichzusammennehmen, um nicht aufzuschreien vor Verlangen nach Freiheit.“

Weltbühne 11/1989

 

Die Reaktion der Presse

Betrachtet man die Zeitungsberichterstattung jener Monate, fällt auf, daß der Name Ossietzky zumeist nur dann Erwähnung findet, wenn es – im Zusammenhang mit seinem Haftantritt, den folgenden Prozessen und der später einsetzenden Amnestiedebatte – galt, Politik gegen reaktionäre und faschistische Strömungen in der Weimarer Republik zu machen. Ossietzky interessierte als politisches Symbol; wie es dem Menschen ging, kümmerte die Publizistik weniger. Ausnahmen: Das Grußwort Anton Kuhs zum Haftantritt (im „Berliner Tageblatt“), Emil Stumpps Reportage über seinen Gefängnisbesuch (im „Dortmunder General-Anzeiger“ vom 27. November 1932), sowie (in Teilen) das Gespräch, das Kurt Grossmann mit Ossietzky führte und das nach der Haftentlassung im „8 Uhr-Abendblatt“ veröffentlicht wurde.

Den Haftantritt am 10. Mai melden die Zeitungen mehr oder weniger ausführlich und nehmen – in Kommentar und Reportage unterschiedlich Stellung. Die politische Polarisierung bricht sich in der Person des Strafgefangenen Ossietzky. Das „8 Uhr-Abendblatt“ spricht von einem neuen „Fall Dreyfus“ und führt voller Pathos aus: „Der deutsche Dreyfus ist Carl von Ossietzky, der mannhafte und streitbare Kämpfer für Freiheit, Recht und Wahrheit, der glänzende Publizist, der immer in der vordersten Front zu finden war, wo es galt, mit der Kraft glühender innerer Überzeugung für eine wahrhaft demokratische und soziale Republik zu wirken.“

Deutliche Worte findet der Chefredakteur Bruno Frei in Münzenbergs „Berlin am Morgen“: „Ossietzky ist von dem Augenblick an, da sich hinter ihm das Tor des Gefängnisses geschlossen hat, einer der 8 500 politischen Gefangenen der kämpfenden Arbeiterklasse geworden. Wir sagen dies, obwohl wir wissen, daß Ossietzky nicht nur kein Proletarier ist, sondern auch der revolutionären Arbeiterbewegung in seinem Wirken fern stand. Ossietzky war in seiner ganzen Arbeit ein Kämpfer für die verblaßten Ideale der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, ein letzter Achtundvierziger. Der letzte ehrliche Demokrat. (…) In diesem Augenblick, da die Bourgeoisie den tapfersten, mutigsten und konsequentesten der bürgerlichen Freiheitskämpfer hinter Kerkermauern steckt, tritt die Arbeiterklasse das Erbe der Menschenrechte an. Nur in ihren Reihen ist der Kampf sinnvoll.“

Der politische Gegner auf der Rechten sorgt für Häme und Verunglimpfung. Die „Deutsche Zeitung“, das Blatt der Deutschnatioalen, erregt sich am 11. Mai auf der Titelseite ihrer Abend-Ausgabe über die politische Demonstration von Freunden und Kollegen Ossietzkys vor dem Gefängnistor in Tegel und greift Presseberichte an: „Die Herrn von Ossietzky rassisch und gesinnungsmäßig nahestehende Presse hat spaltenlange Berichte über diese alberne Rührszene gebracht.“

„Albern“, selbstverständlich! – aber wohl so ernstzunehmen für die Antirepublikaner, daß sie zur Strafverfolgung aufrufen: „Es ist zwecklos, sich mit diesen Verherrlichern und Verteidigern des Landesverrats auseinanderzusetzen. Wir wundern uns aber darüber, daß die Polizei nicht eingeschritten ist und diese widerwärtige Kundgebung, die unzweifelhaft als politische zu werten ist, nicht kurzerhand unterdrückt hat. Es ist nicht anzunehmen, daß diese Kundgebung, die sich unmittelbar gegen das Ansehen der Staatsgewalt richtete, vorschriftsmäßig angemeldet und polizeilich genehmigt worden ist. Kundgebungen unter freiem Himmel sind bekanntlich durch Notverordnung strengstens verboten. Veranstalter und Teilnehmer machen sich strafbar. (…) Der Tatbestand ist klar. Wird die Staatsanwaltschaft in diesem Fall das erforderliche veranlassen oder bestehen etwa für jüdische Pazifisten und wegen Verrats militärischer Geheimnisse rechtskräftig Verurteilte Sonderbestimmungen?“

Auch die Nazipresse muß in Ossietzky einen Juden sehen, damit die Hetze schlagkräftig genug ausfallen kann. Der „Stürmer“, Streichers „Nürnberger Wochenblatt zum Kampfe um die Wahrheit“, bemerkt am 19. Mai feinsinnig: „Der Juden Gott ist das Geld, bekannte der Jude Karl Marx. Geld aber kann der Jude in allen Ländern der Welt verdienen. Weil es dem Juden gleichgültig ist, in welchem Lande er seinen Rebbach macht, hat er kein Vaterland, das Deutschland heißt. Für den Juden ist es deshalb kein Vaterlandsverrat, wenn er andern Völkern verrät, was das deutsch! Volk geheim halten will. (…) Als nun Ossietzky seine Strafe hätte antreten sollen, war er verschwunden. Er hatte sich in das Gaunerparadies Sowjetjudäa geflüchtet. Am 10. Mai hat sich nun Jud Ossietzky im Strafgefängnis in Tegel gestellt. Zu seiner Verabschiedung führten die Hebräer ein richtiges Judentheater auf. Gegen hundert Prominente aus dem Stamm Juda hatten sich ein Stelldichein gegeben, um sich von dem famosen Rassegenossen am Gefängnistor zu verabschieden. (…) Man fragt sich nun, wie es kommen mag, daß Ossietzky plötzlich Lust verspürte seine Strafe anzutreten? Jud Ossietzky weiß es und die übrigen Juden wissen es auch: Jud Ossietzky bekam von maßgebender Seite zugesichert, daß er von den eineinhalb Jahren nur ein Weniges abzusitzen brauche. Schon nach kurzer Zeit soll er begnadigt werden. Es ist doch vorteilhaft, wenn man als Landesverräter zugleich ein Jude ist …“

Wenige Stimmen sind es, die differenzierter urteilen, menschlich anständig und wahrhaftig. Stefan Großmann, Redakteur und Gründer des linksliberalen Wochenblatts „Montag Morgen“ und drei Jahre zuvor Vorsitzender des unabhängigen Untersuchungsausschusses zum Gemetzel der Berliner Polizei im Mai 1929, zu dessen Präsidiumsmitgliedern auch Ossietzky gezählt hatte, schreibt zum Haftantritt Ossietzkys beinahe visionär: „Hatte Ossietzky die Pflicht, zu bleiben? Hatte er nicht ein inneres Recht zur Flucht? Die Frage wird in einem halben Jahr viele noch nicht gerollte Köpfe bewegen. Ich denke: Wer an sich glaubt, der soll Ossietzkys Opferpflicht ablehnen. Nicht nur Heinrich Heine hatte das Recht, sich in Paris in Sicherheit zu bringen.“

Der Schriftsteller Anton Kuh, seit 1928 Mitarbeiter der Weltbühne, wendet sich im „Berliner Tageblatt“ an Ossietzky mit den Worten: „Wenn sich Ihnen heute, wo Sie Ihre Haft antreten, hundert Hände zum Abschied entgegenstrecken, dann werden Sie vielleicht zum ersten Mal mit einiger Bitterkeit spüren, daß keiner von denen, die dem Vorkämpfer huldigend auf die Schulter klopfen, ebenso gern mit ihm tauschen wollte. Und Sie werden sich in diesem Augenblick vielleicht zum erstenmal leise fragen: Wozu?“

Um den 1. Juli werden die Schlagzeilen wieder von Ossietzky beherrscht: Der Prozeß wegen Tucholskys Satz „Soldaten sind Mörder“ wird vor dem Schöffengericht Charlottenburg verhandelt. Titelseiten von „Berliner Volks-Zeitung“, „8 Uhr-Abendblatt“ Und „Berliner Tageblatt“ sind dem Prozeß gewidmet.

Am 21. Juli beginnt die Berichterstattung vieler Zeitungen zum anberaumten „Reemtsma-Prozeß“. Ossietzky gerät im Zusammenhang mit dieser Bestechungsaffäre bis zum Ende des Jahres in die Schlagzeilen – und zusehends in den Sog von gravierenden Meinungsverschiedenheiten seiner Anwälte Rudolf Olden und Alfred Apfel. „Es ist eine sehr widerwärtige Geschichte“, schreibt Ossietzky am 3. August seiner Frau Maud, „die ich Dir im einzelnen gar nicht schildern kann; auch ich kapiere sie nur mühsam, Olden aber gar nicht. Ich glaube, der Spleen liegt in der Zeit und der Einzelne kann nichts dafür.“

Weltbühne 12/1989

 

Anteilnahme und Hetze

Ossietzkys 43. Geburtstag am 3. Oktober ist für die Presse kein Thema. Allein die Weltbühne erinnert die Öffentlichkeit. Rudolf Arnheim schreibt in seinem Geburtstagsgruß: „Es ist eine grausame Ironie, daß man an einen solchen Ort des Uhrenkults und der preußischen Hausordnung grade Sie verschleppt hat, zu desen Art es so gehört, sich über die bürgerlichen Regelmäßigkeiten hinwegzusetzen. Sie lieben es doch, Ihren Tag ohne Mittagessen und ohne Mantel hinzuleben, mit Kaffee zu den seltsamsten Tageszeiten und Tageszeitungen, mit halbeingestürzten Papierbergen auf Ihrem Schreibtisch, Sie bevorzugen Bleistiftstummel, wo andre nicht ohne ein Prunktintenfaß mit silbernem Rotstift auskommen.“

Erst am 14. November findet sich in der Presse wieder ein Artikel, der sich mit dem persönliche“ Schicksal des Strafgefangenen auseinandersetzt. Im „8 Uhr-Abendblatt“ heißt es auf Seite 10 in einem größeren Beitrag: „In der Presse sind verschiedentlich Behauptungen über das Leben Ossietzkys in der Strafhaft erschienen, die einer Richtigstellung bedürfen. So ist insbesondere erst heute behauptet worden, daß er jede Sondervergünstigung im Tegeler Gefängnis zurückgewiesen habe. Tatsächlich liegen die Dinge nach unseren Informationen folgendermaßen: Karl von Ossietzky trägt die Haft aufrecht und mannhaft. Er hat sich ganz in die Gefängnisordnung eingefügt und niemals eine individuelle Behandlung verlangt.“

Zwei Wochen später erscheint im „Dortmunder General-Anzeiger“ die aufrichtige und mitfühlende Reportage des Zeichners Emil Stumpp über seinen Besuch bei Ossietzky im Gefängnis. Stumpp schließt seinen Bericht mit den Worten: „Schwer wurde mir der Weg zurück ins Freie. Sind wir immer noch nicht weiter, fallen immer noch die dunklen Lose auf die Vorkämpfer für Geist und Freiheit und Menschenwürde?“

Im Dezember gerät Ossietzky wieder in die Schlagzeilen der Presse, jetzt geht es um die beginnende Amnestiedebatte; erneut kommt er ins Kreuzfeuer politischer Auseinandersetzungen. Die „Vossische Zeitung“ fragt in ihrer Abend-Ausgabe vom 8. Dezember, für wen die Amnestie nun in Frage käme und verweist auf die verschiedenen, (noch) voneinander abweichenden Anträge der Parteien: „Einen besonderen Punkt bildet der Antrag der SPD, auch Landesverrat in die Amnestie einzubeziehen, falls er nicht aus Eigennutz begangen ist. Hier kommt allein der Fall Ossietzky in Betracht.“

Auch das „8 Uhr-Abendblatt“ berichtet am andern Tage über den Fall Ossietzky sowie die umfangreiche Unterschriftenliste, sich mit 45 000 Namen für eine Begnadigung Ossietzkys einsetzt. „Das Interessanteste sind bei der Petition eine Anzahl von Unterschriften von Menschen, die den rechten Parteien, besonders der Deutschnationalen Volkspartei, angehören. (…) Sie haben ausgeführt, daß bei der lauteren und ehrenhaften Persönlichkeit Carl von Ossietzkys sie sich verpflichtet fühlen, für eine Begnadigung einzutreten, obgleich sie politisch nicht derselben Meinung seien wie Herr von Ossietzky. Aus diesen Äußerungen ist zu erkenn, daß auch die Rechtsparteien keine Schwierigkeiten machen dürfen, wenn es gilt, einen Menschen, der um seiner Überzeugung willen schon fast sieben Monate im Gefängnis sitzt, nun endlich zu befreien. Die Nichtamnestierung Ossietzkys würde das Amnestiegesetz zu einer Lex Ossietzky stempeln.“

Andere Kräfte bei den Deutschnationalen benutzen ihre „Deutsche Zeitung“, um gegen die Freilassung Ossietzkys zu hetzen. Als die Abstimmung im Reichstag, der Kompromiß zwischen KPD, SPD und NSDAP, bekannt wird, also auch Ossietzky frei kommen soll, heißt es im Leitartikel der Morgen-Ausgabe am 10. Dezember: „Die inneren Vorgänge innerhalb der NSDAP mögen ihr folgenschwere Entschlüsse in diesem Augenblick erschweren – ihre Zustimmung zu dieser Amnestie, in der nun einmal die Landesverräter mitenthalten sind, ist ein schmerzliches Zeichen für die schiefe Lage, in die sie geraten ist.“

In den folgenden Tagen strengt die „Deutsche Zeitung“ weitere Überlegungen zur Verhinderung der Freilassung Ossietzkys an, bis es am 15. Dezember auf der Titelseite der Morgen-Ausgabe heißt: „Landesverrat: Staatsselbstmord“. Und weiter: „Wozu spricht der Richter noch Recht? Wozu werden Staatsanwälte in Bewegung gesetzt, wenn kurz danach die Strafen niedergeschlagen werden? (…) Ein Staat, der den Landesverrat straffrei läßt, ihn also duldet, begeht damit Selbstmord.“

Noch deutlicher wird die Zeitung, als sie sich zwei Tage später mit dem Begriff des „uneigennützigen Landesverrats“ auseinandersetzt: „Den Reichstagsbeschluß über die Amnestie empfinden Millionen Deutscher schon deshalb als ungeheuerlich, weil Landesverrat in seiner Wirkung – lebensbedrohliche Schädigung von Staat und Volk – doch immer gleich ist, ob nun der Landesverräter sich für seine Freveltat hat bezahlen lassen oder nicht. Ungeheuerlich und unverständlich gerade jetzt bei unserem verzweifelten Kampf um Deutschlands Gleichberechtigung und seiner Not um unsern Grenzen gegenüber beutehungrigen Nachbarn! (…) In einer Zeit, wo es für uns alle heißen müßte: ,Auf die Dämme“‘ Die Flut droht!“

Daß Ossietzkys Amnestie „die umstrittenste“ war, bemerkt die „Berliner Volks-Zeitung“ am 22. Dezember in ihrer Morgen-Ausgabe und schreibt weiter: „Weder die Nationalsozialisten legte, wie man weiß, Wert darauf, daß Ossietzky amnestiert wurde, noch setzten sich die Kommunisten entscheidend für Ossietzky ein. Es war erst dem Zusammenwirken der Liga für Menschenrechte mit der Sozialdemokratischen Partei zu verdanken, daß Carl von Ossietzky freikam. Insbesondere der sozialdemokratische Abgeordnete Dr. Marum hat sich für seine Amnestierung eingesetzt.“

Am Abend des 22. Dezember ist Ossietzky frei. Einen Tag später druckt das „8 Uhr-Abendblatt“ ein ausführliches Gespräch, das Kurt Grossmann, der Sekretär der „Deutschen Liga für Menschenrechte“, mit Ossietzky geführt hat. Darin heißt es: „Am schwersten hat auf mir die Enge der Zelle gelastet. […] Es ist furchtbar, in einem Raum eingesperrt zu sein und nur vier Schritte hin- und hergehen zu können. Das schnürt einem die Brust zu. Und so ist es ja allein zu verstehen, daß viele Gefangene irrsinnig werden.“

 

Weltbühne 13/1989

 

Folgen der Haft

„Man beachte einmal einen Strafentlassenen in den ersten Tagen nach seiner Entlassung“, bemerkte im Juli 1928 ein ehemaliger sächsischer Ministerpräsident im „Berliner Tageblatt4“, der selbst Erfahrungen als politischer Gefangener in der Weimarer Republik gesammelt hatte. Sein Name: Erich Zeigner, aktiver Republikaner, Sozialdemokrat, früher Befürworter einer Volksfront, von Reichswehrminister Geßler gewaltsam aus seinem Amt entfernt, während der Nazizeit mehrfach eingekerkert, nach 1945 bis zu seinem Tode 1949 Oberbürgermeister von Leipzig.

Zur „Tragödie der Strafentlassenen“ schreibt Zeigner in seinem Artikel weiter: „Seine Muskulatur ist zurückgegangen, und namentlich seine Entschlussfähigkeit, seine Willenskräfte sind zerschlagen. Er war ja im Gefängnis eine willenlose Nummer, ein unmündiges Kind, lebte ohne eigene Verantwortung. Der Strafentlassene ist daher willensschwach, er ermüdet leicht, er vermag nicht unter eigener Verantwortung zu leben und zu handeln. Ausserdem werden die meisten Gefangenen durch die Haft und insbesondere durch die Einzelhaft zu Einsiedlern. Sie verstehen nicht mehr, sich einzugliedern, werden menschenscheu, absonderlich.“

Möglich, daß auch Ossietzky unter diesen Auswirkungen der Haft litt; manche der folgenden Entscheidungen, die ihm in der Freiheit noch blieben, erschienen dann in einem anderen Licht. Tucholsky zermarterte sich bis an sein Lebensende den Kopf, warum Ossietzky nicht spätestens nach der Machtübergabe ins Ausland geflohen war. Im letzten Brief an Hedwig Müller, im Dezember 1935, kam er zu dem Schluß: „Daß der Mann im Februar nicht gegangen ist, halte ich jetzt für eine klare Haftpsychose.“

Wir wissen es nicht. Daß Ossietzky aber bereits in der republikanischen Haftzelle kränkelte, können wir der erhalten gebliebenen Gefangenenakte entnehmen. Sein floskelhaftes: „Mir geht es gut …“ in den Briefen an seine Frau entsprach nicht der Realität.

Am 13. Mai 1932 heißt es in einem handschriftlichen Gutachten des Gefängnisarztes: „Habe angeblich keine schweren Krankheiten gehabt. Gebiß ist lückenhaft – Nervosität – verschärftes Atmen zwischen den Schulterblättern, Herztöne sind leise aber rein.“ In der Rubrik „Fähigkeit für Einzel- und Zellenhaft“ notiert der Gefängnisarzt: „ja“. Im „Lebenslauf“ antwortet Ossietzky auf die Frage 25: „Keine besondern Krankheiten, nur nervöse Störungen, vorübergehend Schlaflosigkeit und Herzbeschwerden.“

In den folgenden Wochen und Monaten kommt es immer wieder zu Diskussionen und Auseinandersetzungen über das verhängte strikte Rauchverbot für den starken Raucher Ossietzky. Am 16. Mai findet sich in der Gefangenenakte ein „Auszug aus dem Arztbuch“: „Mit Rücksicht auf seine starke Nervosität, halte ich Raucherlaubnis u. 2te Freistunde für erforderlich.“ Beides wird zunächst genehmigt. Doch fünf Tage später erfolgt ein weiterer Eintrag: „Herr Oberdirektor teilt am Apparat mit, daß die Raucherlaubnis widerrufen ist.“

Am 12. Juni schreibt Ossietzky an seine Frau Maud: „Von mir selbst ist nicht viel zu sagen. Es geht mir gut, ich lese und schreibe und komme damit über die Zeit hinweg. Ich schlafe auch ganz anständig.“ Und sechs Wochen später: „Ich lebe hier so sicher, regelmäßig und gesund, wie noch niemals. Keine störenden Nikotin-und Coffein-Einwirkungen.“

Einen Tag später, am 23. Juli, geht im Gefängnis der Auszug aus einem Beschwerdeschreiben an den Präsidenten des Strafvollzugs ein. Darin heißt es: „Von Ossietzky ist Ende Vierzig. Er ist kein schwacher Mensch, aber auch keineswegs eine starke, durable Natur. Er leidet, wie jeder Mensch von Kultur, sehr unter dem ganz unzulänglichen, man kann ruhig sagen: schlechten Essen der Preußischen Gefangenenanstalten. Für einen Mann seines Alters und seiner Lebensgewohnheiten ist eine eineinhalbjährige Strafe schwer tragbar und ohne ganz ernste Schädigung der Gesundheit nur dann auszuhalten, wenn man dem Inhaftierten wenigstens etwas mehr Fett zuführt.“

Ossietzky wird daraufhin untersucht. Er hat seit seinem Haftantritt vor zehn Wochen sechs Kilo abgenommen. Der Gefängnisarzt verordnet eine „Fettzulage“. Das Rauchverbot wird beibehalten! Das skizzierte Antwortschreiben aus dem Gefängnis findet sich am 27. Juli. Drei Seiten lang, beruhigend und abwiegelnd, ein Entschuldigungsschreiben an die vorgesetzte Behörde: „Wir beide haben uns darüber unterhalten, worauf diese Abnahme zurückzuführen sei. von Ossietzky hat mir darauf erklärt, daß diese Abnahme ihn keineswegs schrecke, sondern nach seiner Meinung lediglich eine Folge seiner veränderten Lebenslage und Lebensführung sei.

Ossietzky versucht seine Frau in den Briefen immer wieder beruhigen. Am 19. September schreibt er: „Die Zeit vergeht langsam, aber sie vergeht. Ich arbeite sehr viel, fühle mich infolgedessen ganz wohl. In dieser Hinsicht brauchst Du keine Sorge haben. Ich halte durch.“

Tagebuchnotizen von Ernst Feder, einem Journalisten des „Berliner Tageblatt“, zeichnen ein anderes Bild. An Ossietzkys 43. Geburtstag notiert er: „Carl von Ossietzky nach der Strafanstalt Tegel zu seinem Geburtstag gratuliert. Gerlach erzählte uns neulich, wenn man ihn besuche, lasse er nichts von Niedergeschlagenheit merken, in Wahrheit aber wohl doch sehr bedrückt …“

Am 14. November findet sich im „8 Uhr-Abendblatt“ ein längerer Bericht zu einem bevorstehenden Prozeß und zum Gesundheitszustand Ossietzkys: „Ossietzky war immer ein enorm starker Raucher. Niemand, der ihn kennt, hat ihn je ohne Zigarette gesehen; er hat aber seit sechs Monaten sich die geliebte Zigarette versagen müssen. Denn das Reichsgericht hat zwar die ehrenhaften Motive seines Handelns anerkannt, ihm aber seltsamerweise nicht die Überzeugungstäterschaft zugebilligt. So kann Ossietzky das Privileg des Rauchens nicht beanspruchen, das ihm als Überzeugungstäter ohne weiteres zustände. Auch ist er ganz auf die Gefängniskost angewiesen, da er sich aus dem gleichen Grunde eine Verbesserung dieser Kost nicht gestatten darf.“ Drei Tage später ist in der Gefangenenakte auf Blatt G („Einstufungen und Vergünstigungen“) verzeichnet: „Bittet um Raucherlaubnis und die Genehmigung zum Einkauf vom eigenen Gelde.“ Diesmal wird die Bitte ohne weitere Rückfragen an übergeordnete Stellen „genehmigt“.

Am 10. Dezember wird der Gefangenenakte wieder ein handschriftlicher Bericht des Gefängnisarztes beigelegt: „v. O. hatte hier bei Aufnahme ein Gewicht von 78 kg, das im Juni auf 74 zurückgegangen war, der Grund war seelische Verfassung. Größe: 1,68. Er erhielt Margarinezulagen, das Gewicht ging weiter herunter (August 72), er erhielt außer dem Fett noch ½ l Milch. Seitdem ist das Gewicht auf 70 kg gesunken, war seit Monaten annähernd gleich geblieben. Er erhält jetzt außer den Zulagen auch Krankenkost. Von selbst hat sich v. O. nie gemeldet, die anfängliche Gewichtsabnahme bei ausreichendem Ernährungszustand ist nicht weiter auffallend …“

Erst im Interview mit Kurt Grossmann äußert sich Ossietzky nach seiner Haftentlassung deutlicher zu den Zuständen im Gefängnis. Am 23. Dezember gibt er im „8 Uhr-Abendblatt“ Auskunft: „Was meine Gesundheit anbetrifft, das kann ich heute nicht beurteilen. Meine Nerven sind von der Aufregung noch zu sehr angespannt. Alles wird nachkommen. Ich habe immerhin in der Strafanstalt zwanzig Pfund abgenommen; denn die Kost konnte ich schwer ertragen. Wenn ich noch Gelegenheit gehabt hätte, den Koch kennenzulernen, dann hätte ich ihn nur angeschaut und gesagt: ,Ach, das sind Sie!‘“

Und weiter: „Das Gefängnis in Tegel ist ein sternförmiger Bau so nach dem Muster von Sing-Sing. Von einer Zentrale aus sind alle Treppen und Gänge zu beobachten. Und die Zelle ist klein und schlecht belüftet. Ich bin ja ein leidenschaftlicher Raucher Und habe unter dem Verzicht der Zigarette wohl am meisten gelitten. Gegen das Essen revoltierte mein Magen. Die Bohnen, Erbsen, von denen man annehmen konnte, sie wären in einem Drogerieladen zubereitet, haben mir manche Pein verursacht. In den letzten acht Tagen bekam ich übrigens Krankenkost. Ich fand keinen beträchtlichen Unterschied.“

Zu einem ausführlichen Bericht über seine Haft kommt es nicht mehr. In seinem ersten Artikel nach der Haftentlassung („Rückkehr“) kündigte Ossietzky in der Weltbühne Nr. 52 vom 27. 12. 1932 seinen Lesern an: „Über manches Gesehene soll noch^gesprochen werden, wenn die Eindrücke wirklich verarbeitet worden sind.“ Doch die verbleibenden zwei Monate in Freiheit sind wieder von der tagespolitischen Arbeit ausgefüllt und von vergeblichen Hoffnungen und Warnungen.

In der Nacht des Reichstagsbrandes wird Ossietzky verhaftet.

Weltbühne 14/1989