Sollte kontroverse Diskussion, die es auslöst, von der Qualität eines Buches zeugen, dann zählt „Das Versagen“ von Katja Gloger und Georg Mascolo in diesen Wochen und Monaten ohne Zweifel zu den bemerkenswerten Erscheinungen auf dem deutschen Büchermarkt. Es verdient jedenfalls, aufmerksam gelesen zu werden.
Das Buch kritisiert deutsche Außenpolitik an einer Flanke, die an Spree und Rhein lange Zeit für ihre unbedingte Stärke gehalten wurde. Es geht um die Russlandpolitik, vor allem in den Kanzlerjahren von Gerhard Schröder und Angela Merkel. Es sind die Jahre deutscher Russlandpolitik nach dem Machtantritt Wladimir Putins Ende 1999. Dass bestimmte Voraussetzungen für das behauptete Versagen bereits gesetzt waren, bestreiten die Autoren nicht, doch richten sie das Licht konzentriert auf die Putin-Jahre. Entsprechend kurz wird die Erweiterung der Nato um Länder behandelt, die ehemals zum sowjetischen Bündnissystem gehört hatten. Immerhin wird der Putsch vom August 1991 in Moskau deutlich herausgehoben, der in Hauptstädten wie Prag, Warschau oder Budapest – damals gab es noch den Warschauer Vertrag ohne die DDR – einen gewaltigen Schock auslösen musste. Das wird in der deutschen Diskussion häufig übersehen, im Buch wird der Zusammenhang deutlich genannt. Tatsächlich hatte die sicherheitspolitische Diskussion in den betreffenden Ländern nach dem gescheiterten Putsch in Moskau eine ganz neue Dynamik gewonnen, der Warschauer Vertrag – bis dahin immer noch ein gegenseitiges Sicherheitssystem – fiel in sich zusammen, bevor die Sowjetunion endgültig von der Bühne der Geschichte verschwand.
Ein erster Paukenschlag ertönt im Buch, wenn der überraschende Auftritt von Putin im September 2001 vor dem Plenum im Deutschen Bundestag näher unter die Lupe genommen wird. Kanzler Schröder hatte den Auftritt Putins gegen beträchtlichen Widerstand vor allem im konservativen Oppositionslager durchzusetzen gewusst. Putin war noch frisch im Amt, insofern kam es durchaus überraschend, ihn vor dem Bundestag sprechen zu lassen. Ganz klar, dass damit der besondere Rang der deutsch-russischen Beziehungen unterstrichen wie bekräftigt werden sollte. Doch der Blick in die Archive und Unterlagen verrät den Autoren, dass Putins Rede in großen Teilen von zwei deutschen Federn geschrieben worden sei. „Russland ist ein freundlich gesinntes europäisches Land“, so Putin vor dem Bundestag und ganz nach dem Geschmack der Gastgeber. Die faszinierende Geschichte dieses Husarenstücks deutscher Russland-Diplomatie ist im Buch nachzulesen.
Im März 2008 stellte sich US-Präsident George W. Bush hinter den Aufnahmewunsch der Ukraine und Georgiens, in den sogenannten Membership Action Plan (MAP) der Nato aufgenommen zu werden, die Bundesregierung unter Angela Merkel sprach sich dagegen aus, der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier sprach von einer politisch schwachen Ukraine und einem eingefrorenen Konflikt in Georgien, was eine Teilnahme an MAP in beiden Fällen ausschlösse, Polens Außenminister Radosław Sikorski konterte scharf, denn Berlin nehme „mehr Rücksichten auf Moskau als auf die eigenen Verbündeten“. Der Nato-Gipfel in Bukarest im April 2008 endete mit einem fatalen Kompromiss, wie sich später zeigen wird. Am Ende wird keine Rede mehr sein von MAP für die Ukraine und Georgien, also einer im Grunde fester umrissene Aufnahmeperspektive in die Nato, jetzt heißt es nur noch, diese Länder werden Nato-Mitglieder sein. Eine Absichtserklärung, mehr nicht, so erklärte es Merkel anschließend Putin, doch der reagierte postwendend, „irgendwann sei sie nicht mehr Bundeskanzlerin“. Und Moskau handelte schnell: Im August 2008 rollen russische Panzer auf Tbilissi zu, die Kremlpläne gegen die immer mehr aus dem Moskauer Schatten heraustretende Ukraine werden handfester, ein gutinformierter russischer Zeitungsjournalist spricht zu diesem Zeitpunkt bereits offen von der kommenden, weil zwangsläufigen Abtrennung der Krim und der Ostukraine. Das Kapitel zum Bukarest-Gipfel liest sich wie packender Krimistoff.
Einigen Raum nimmt im Buch die ab 2009 enger werdende militärische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland ein. „Doch eine deutsche Konsequenz aus Bukarest und Georgien lautet: vertiefte Modernisierung und Partnerschaft mit Russland – auch im militärischen Bereich. Es beginnt eine beispiellose Rüstungsmodernisierungspartnerschaft. Ausgerechnet.“ Putins Krimannexion im März 2014 beendete dieses aufschlussreiche Kapitel deutsch-russischer Zusammenarbeit, mit dem bei den europäischen Nachbarn viele Gespenster der Vergangenheit aufgeschreckt wurden.
Ein Schwerpunkt im Buch ganz klar die deutsche Entscheidung, nach der Krimannexion gemeinsam mit Russland die Erdgaspipeline NordStream 2 zu bauen. Die Merkel-Regierung sprach – entgegen aller Warnung seitens der östlich gelegenen Verbündeten – von einem ausschließlich privatwirtschaftlichen, will heißen: unpolitischen Projekt im Interesse einer gesicherten europäischen Energieversorgung. Die Buchautoren sprechen von einem regelrechten „deutschen Geschäftsmodell“, man habe in hohen deutschen Amtsstuben die NordStream-Röhren für einen ausgesprochenen Friedensgaranten gehalten und habe immer wieder auf einschlägige Erfahrungen aus den Zeiten des Kalten Krieges verwiesen. Überaus interessant lesen sich die Abschnitte, die den Spannungen zwischen Washington und Berlin um die Ostseepipeline in der ersten Präsidentschaft von Donald Trump (Januar 2017 bis Januar 2021) gewidmet sind. Trump wird heute nicht müde, seinem Amtsvorgänger Joe Biden vorzuwerfen, nicht energisch genug gegen NordStream 2 vorgegangen zu sein, zugleich streckt er nun im Rahmen des gesuchten „Friedensdeals“ mit Moskau selbst die Hand nach der umstrittenen Erdgasleitung aus.
Akribisch untersucht ist die Phase vom Sommer 2021 bis zum Kriegsausbruch im Februar 2022. Von großem Wert sind hier die Hintergrundgespräche, die für das Buch mit Akteuren geführt werden konnten, die unmittelbar in das Geschehen eingebunden waren, darunter mit Botschaftern und Geheimdienstleuten. Der BND rühmte sich traditionell seiner besonderen Qualitäten in der Russlandkenntnis: „Der BND will sich von niemandem sagen lassen, wie man Russland lesen muss.“ Am 9. Januar 2022 kam es in London zu einem Treffen hochrangiger Diplomaten aus den USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Von deutscher Seite hieß es, Moskaus Kriegspläne gegen die Ukraine lägen in der Schublade, die Engländer konterten: „Sie liegen auf Putins Schreibtisch“.
Das darf vom Schreiber dieser Zeilen mit eigener Erfahrung bestätigt werden. Am Abend des 24. Februar 2022 – der Zusammenfall des Termins mit dem Kriegsbeginn ist purer Zufall! – trifft sich der deutsche Botschafter in Warschau, Arndt Freytag von Loringhoven, mit Vertretern der deutschen politischen Stiftungen in Polen. Der Botschafter erklärt kurz und bündig: die Engländer haben recht behalten, wir Deutschen haben uns geirrt. Die Runde ist sich weitgehend einig, dass Kyjiw nun bald fallen werde, dass die Ukraine wohl keine Chance habe, dem russischen Angriff länger standzuhalten. Erinnert wird an den August 1968, an die ČSSR. Einzig eine am Tisch sitzende Polin wirft an diesem Abend ein, dass es anders kommen werde, dass die Ukraine sich militärisch verteidigen werde, und zwar gehörig!
Unter den deutschen Friedenskämpfern gehört zur festen Überzeugung, dass der Krieg – wie zu verurteilen auch immer – im Grunde vom Westen provoziert worden sei, manche Friedensstreiter behaupten gar, dass die Kriegstreiber in diesem Fall eigentlich in Brüssel und Berlin säßen. Es läuft auf die Annahme hinaus, dass Putin mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine zwar zum falschen Mittel gegriffen habe, aber er hätte ohnehin im russischen Interesse handeln müssen, weil Nato wie EU dabei gewesen seien, die Ukraine zu schlucken.
Dass mit einem solchen Schema primitive Hinterhofpolitik gutgeheißen wird, so als ob die Ukraine immer unter den Fittichen Moskaus stillzusitzen habe, sei nur am Rande eingefügt.
Doch etwas Anderes sei am Schluss angemerkt. Nach der Lektüre des Buches kommt der Leser zu der Überzeugung, dass deutsche Russlandpolitik in den Jahren 1999 bis zum Februar 2022 kaum etwas getan oder unternommen hat, was im Kreml als böswillige Provokation ausgelegt werden könnte. Das Gegenteil ist wohl eher der Fall. Allein die Frage, wie man es halte mit der staatlichen Unabhängigkeit der Ukraine, ist gewichtiger Zankapfel zwischen Berlin und Moskau. Wird aber diese Seite geöffnet, so gehört das verheerende Scheitern russischer Ukraine-Politik unter Putin unbedingt dazu. Der brutale militärische Überfall auf das Nachbarland am 24. Februar 2022 bezeugt ein großes Versagen, aber in diesem Fall eines auf russischer Seite.
Schlagwörter: Georg Mascolo, Holger Politt, Katja Gloger, Russlandpolitik, Ukraine, Wladimir Putin

