von Holger Politt, Warschau
Anfang August erfuhr Polens Öffentlichkeit vom Selbstmord Andrzej Leppers, eines Politikers, der in der öffentlichen Meinung wie kaum ein anderer mit der Bauernschaft identifiziert wurde. Der Weg in die Höhen der politischen Macht begann für den 1954 geborenen Landwirt gleich am Anfang der sogenannten Transformationszeit, die für viele Kleinbauern zunächst einer traumatischen Erfahrung glich. Sein erster Schlachtruf, mit dem er sich in der Öffentlichkeit Gehör verschaffte, hieß folgerichtig „Balcerowicz muss abtreten“. Leszek Balcerowicz war damals Finanzminister und stand für eine Schocktherapie, die neben der Gesundung der öffentlichen Finanzen einen omnipotenten Markt versprach, auf dem jeder, so er nur tüchtig sei, seinen Platz finden werde. Gegen dieses Programm gründete Lepper mit Gleichgesinnten eine ländliche Selbsthilfeorganisation, die „Samoobrona“ (Selbstverteidigung). Zunächst wie eine Gewerkschaft aufgebaut, wurde sie später entsprechend den formalen Anforderungen zu einer bei Wahlen zugelassenen politischen Organisation ausgerichtet.
Doch Lepper und „Samoobrona“ mussten das erste Jahrzehnt polnischer Transformation geduldig überstehen, bevor sie in der Hauptstadt triumphierend Parlamentssitze erobern konnten. Als „Samoobrona“ 2001 mit einem knapp zweistelligen Ergebnis in den Sejm einzog, waren die damals neugegründeten, heute die politische Landschaft fast unangefochten dominierenden Parteien PO (Bürgerplattform) und PiS (Recht und Gerechtigkeit) übrigens nur gleichstark. Den größten politischen Triumph errangen Lepper und seine „Samoobrona“ bei den Wahlen im Herbst 2005. Im Parlament stieg die Partei zur drittstärksten politischen Kraft auf, doppelt so stark wie die über 100 Jahre alte traditionelle Bauernpartei PSL. Und Lepper selbst wurde bei der Präsidentschaftswahl mit sensationellen 2,2 Millionen Stimmen drittplatzierter Kandidat. Bei der Stichwahl zwischen dem wirtschaftsliberalen Donald Tusk und dem nationalkonservativen Lech Kaczynski empfahl er seinen Wählern, gegen Tusk zu stimmen. Das gab damals den Ausschlag und verdeutlichte die zahlenmäßige Kraft, die sich mittlerweile hinter der einst von vielen Seiten belächelten „Samoobrona“ versammelt hatte. Im Stil kaum noch der alte, der gern einmal derb dreinschlagende Bauernführer, stieg Lepper nach diesen Wahlen zum Landwirtschaftsminister und sogar stellvertretenden Ministerpräsidenten im feinen Tuch auf.
Die Koalitionsehe jedoch mit den Nationalkonservativen um Jaroslaw Kaczynski bekam weder der „Samoobrona“ noch ihrem Spitzenmann. Kaczynski ließ gar nicht erst den Verdacht aufkommen, dass hier etwa der Schwanz mit dem Hund wedeln könnte. Er spielte mit Lepper Katz und Maus, und zwar so gekonnt, dass am Ende der mit allen Wassern gewaschene Populist nicht mehr wusste, wie ihm geschah. Als Jaroslaw Kaczynskis Strategen vermeldeten, das flache Land sehe sich parlamentarisch eher durch die Nationalkonservativen als durch die Selbstverteidiger vertreten, riskierte er vorzeitige Parlamentswahlen, indem er die Koalition für beendet erklärte. Zwar verlor die Kaczynski-PiS den Zweikampf mit der Tusk-PO, doch zum eigentlichen Verlierer dieser Wahlen wurde Lepper. Ganze 1,5 Prozent der abgegebenen Stimmen wurden landesweit noch auf die „Samoobrona“ abgegeben. Die vormalige Regierungspartei und stärkste politische Vertretung der Bauernschaft auf der Parlamentsebene verlor ihre Stimmen und zugleich den Boden unter den Füßen.
Denn in ihrer nicht langen Geschichte war ein Fehler eingewoben, der sich erst nach dem EU-Beitritt des Landes rächen sollte. Begonnen hatte 1990 alles mit einem politisch-gesellschaftlichen Handeln, bei dem ein schneller, wirksamer Eingriff in die zentralen Entscheidungen im Lande gesucht wurde. Blockaden, demonstrative und ultimative Forderungen, Straßenkämpfe waren zunächst die bevorzugten Mittel der Selbstverteidigungsorganisation. Lepper selbst war aber stets überzeugt davon, dass letztlich nur der direkte Einfluss auf die Zentralstrukturen von zählbarem Wert sei. Alles andere sei nachgeordnet, nicht so ausschlaggebend. Mit den jeweils überraschend hohen Wahlerfolgen 2001 und 2005 sowie der Berufung ins Ministeramt schien dieses Konzept aufzugehen. Unterschätzt wurde die Selbstverwaltungsebene.
Diese bekam mit dem EU-Beitritt 2004 gerade für das agrarisch strukturierte flache Land eine Bedeutung, die in der pragmatischen Sicht vieler ländlicher Wähler die Reihenfolge praktisch auf den Kopf stellte. Für das wirtschaftliche Überleben und Wohlergehen erwiesen sich nun die Selbstverwaltungsstrukturen auf der Lokal- und Regionalebene als sehr viel wichtiger und eben effizienter. Die weit weg liegende parlamentarische Ebene, auf der „Samoobrona“ kurz nach dem EU-Beitritt zur wichtigsten ländlichen Kraft aufgestiegen war, erwies sich aus dieser Perspektive urplötzlich als zweitrangig. Das aber war Wasser auf die Mühlen der altehrwürdigen PSL, die ausdauernd und zäh in erster Linie auf die Selbstverwaltungsebene setzte und setzt, hier landesweit – die Städte also mit einberechnet – mittlerweile nach der PO und PiS zur drittstärksten Kraft herangewachsen ist. Die Fehlstelle auf dieser Ebene war das eigentliche politische Grab für die „Samoobrona“.
Dass die Kaczynski-PiS das komplette Wegbrechen eines bis dahin stimmengewichtigen Akteurs auf dem flachen Lande für ihre Ziele auszunutzen sucht, liegt in der Logik der zwei Volksparteien, denen die politische Szene des Landes sich immer mehr annähert.
Die genauen Gründe für den Selbstmord Andrzej Leppers liegen bisher noch im Dunkeln, doch damit schließt sich ein aufschlussreiches, wenn letztlich auch kurzes Kapitel politischer Agrargeschichte in Polen. Lech Walesa und andere betonten im Nachgang, dass mit Lepper ein Politiker gescheitert sei, der am eigenen Leib noch kennengelernt habe, was körperlich harte Arbeit bedeutet.
Schlagwörter: Andrzej Lepper, Donald Tusk, Holger Politt, Lech Kaczyński, Samoobrona