28. Jahrgang | Nummer 19 | 3. November 2025

50.000 Jahre Demokratie

von Karl-Martin Hentschel

Dieses Buch wird von Fachleuten bereits als eine Revolution in der Geschichtsschreibung bewertet. In der gängigen Erzählung unserer Schulbücher erscheinen die Menschen am Lagerfeuer der steinzeitlichen Sippen als „primitiv“, „arm“ und „egalitär“. Dann kommt die Landwirtschaft, daraus entstehen Herrschaft, Paläste, große Reiche – die Zivilisationen – und am Ende, nach dem Durchbruch der Vernunft in der Aufklärung, erblüht im Westen die Demokratie.

Doch was, wenn diese Erzählung schlicht falsch ist?

Zu genau diesem Schluss kommen der kürzlich verstorbene Ethnologe David Graeber und der Prähistoriker David Wengrow in ihrem vielbeachteten Werk „Anfänge“. Sie zeigen: Demokratie ist keine junge Erfindung Europas, sondern so alt wie die Menschheit. Menschen haben seit je her in ganz verschiedenen Formen ihr Zusammenleben ausgehandelt – mal autoritär, mal egalitär, mal wechselnd zwischen beidem.

Die Spuren davon sind spektakulär. In Moldawien fand man die Überreste einer Stadt mit 3000 Langhäusern und zehntausenden Bewohnern – und das 1000 Jahre vor den ägyptischen Pyramiden. Keine Paläste, keine Tempel, keine Eliten. Stattdessen Versammlungshäuser und kreisförmige Wohnviertel. Über Jahrhunderte lebten die Menschen hier ohne Kriege oder sichtbare Herrscher.

Ähnliche Entdeckungen ergaben Ausgrabungen in Mesopotamien (Uruk), im Indus-Delta (Harappa) und in China (Taosi in Shanxi). Oder auch in Mexiko: Während die Azteken grausame Opferkulte pflegten, entwickelte sich in Tlaxcala eine städtische Gesellschaft mit rätedemokratischer Ordnung. Spanische Chronisten berichten von Wahlen, die mit asketischen Prüfungen verbunden waren: Kandidaten mussten wochenlang fasten und Entbehrungen ertragen – ein Schutzmechanismus gegen eitle Tyrannen.

Und dann Teotihuacan, die gigantische Metropole im Herzen Mexikos: Erst geprägt von Pyramiden und Opferkulten, dann plötzlich ein radikaler Umbruch. Tempel wurden niedergebrannt, Paläste verschwanden, die Stadt erhielt stattdessen einheitlich geplante Wohnviertel für alle. Wandmalereien zeigen Menschen – aber keinen einzigen König. Eine Revolution, die archäologisch sichtbar bleibt.

Auch auf Kreta irritierten Funde die Lehrmeinung: In der minoischen Kultur scheinen Frauen zentrale Rollen gespielt zu haben – Priesterinnen, Herrscherinnen, vielleicht sogar Königinnen ohne Könige. Auf Darstellungen thronen sie selbstbewusst mit Zeptern, größer dargestellt als die Männer an ihrer Seite.

In Nordamerika wiederum gründeten die Wendat und Irokesen Stammesrepubliken, in denen Frauenräte Vetorechte hatten und Konsens statt Gehorsam zählte. Ihre Philosophen beeindruckten europäische Reisende so sehr, dass ihre Ideen in Europa veröffentlicht wurden und in den Debatten der Aufklärung eine erhebliche Rolle spielten. Rousseau, Voltaire, Diderot oder Swift lasen Berichte von indigenen Denkern wie dem Wendat-Philosophen Kondiaronk – und übernahmen Ideen daraus.

Selbst die frühen Bauern im Nahen Osten widerlegen Klischees: Lange vor den großen Königreichen organisierten sie ihre Äcker gemeinschaftlich und verteilten Böden regelmäßig neu. Eigentum war nicht selbstverständlich, sondern eine spätere Zumutung.

All diese Beispiele zeigen: Die Menschheit hat ihr Zusammenleben immer wieder neu erfunden. Schon in der Steinzeit gab es nicht nur egalitäre Gruppen, sondern auch Sklavenhaltung und autoritär geführte Stämme. Demokratie war nie „natürlich“ – aber auch nie unmöglich.

Es gab Königreiche mit göttlichen Herrschern, ja. Aber daneben auch egalitäre Städte, matriarchale Kulturen, Föderationen freier Stämme. Oft wechselte die Form – durch Revolutionen oder Eroberungen. Manchmal wechselte sie sogar mit den Jahreszeiten: Inuit-Gruppen etwa lebten im Sommer unter strengen Anführern – im Winter dagegen egalitär und gemeinschaftlich. Die Nambikwara in Brasilien lebten in der Regenzeit in egalitär verwalteten Bauerndörfern, den Rest des Jahres verbrachten sie in autoritär geführten Jagdgruppen.

Die Vorstellung einer linearen Entwicklung vom „primitiven Wilden“ über Bauernreiche bis hin zum modernen Nationalstaat hält diesen Befunden nicht stand. Statt Fortschritt gab es Vielfalt, Experimente, Umbrüche und immer wieder den Beweis: Menschen sind frei, ihre Gesellschaft zu gestalten.

Diese Erkenntnisse der Autoren verändern nicht nur die Archäologie und Ethnologie. Sie sind hochaktuell und rütteln an unserem Selbstbild. Wenn Demokratie nicht das „Endprodukt“ der Geschichte ist, sondern nur eine von vielen möglichen Ordnungen, dann ist sie auch nicht selbstverständlich. Sie kann ebenso verschwinden wie einst in Teotihuacan oder Harappa.

Und doch steckt in dieser Geschichte auch Hoffnung. Denn sie zeigt: Menschen waren nie nur Untertanen, sondern immer auch Gestalter. Egal ob Fischer am Mississippi, Händler auf Kreta oder Bauern in Indien – überall entwickelten sie Modelle für Gleichheit, Teilhabe und Freiheit.

Demokratie ist also kein westlicher Export, sondern ein uraltes Menschheitserbe. Sie ist weder Zufall noch Naturgesetz, sondern eine Entscheidung, die jede Generation neu treffen muss. Athen ist nur deshalb so gut dokumentiert, weil erstmals solche Diskurse schriftlich überliefert wurden. Und Aristoteles hatte Recht: Der Mensch war schon immer ein zoon politikon, das am Lagerfeuer oder im Gemeinschaftshaus über Demokratie, Aristokratie, Sozialismus und Gerechtigkeit diskutierte.

Vielleicht ist das die wichtigste Botschaft: Dass wir uns heute nicht auf den historischen Fortschritt verlassen dürfen. Aber auch nicht auf ausweglose Determination. Wir haben Spielräume – so wie die Menschen am Lagerfeuer vor 50.000 Jahren.

 

David Graeber/David Wengrow: „Anfänge – Eine neue Geschichte der Menschheit“. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2022, 672 Seiten, 16,00 Euro (TB-Ausgabe). – Zu einer detaillierteren Auseinandersetzung mit dem Buch hier klicken.

 

Karl-Martin Hentschel, Jahrgang 1950, ist Mathematiker und Autor zahlreicher politischer Bücher. Er ist Mitglied im Vorstand von Netzwerk Steuergerechtigkeit und war von 2000 bis 2005 sowie von 2006 bis 2009 Fraktionsvorsitzender der Grünen im Landtag von Schleswig-Holstein.